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Rechtsextreme "Argumentationsmuster"

Kurt Lenk

/ 13 Minuten zu lesen

Um die jeweils unterschiedlichen Mobilisierungschancen rechtsextremer Potenziale einzuschätzen, bedarf es einer genaueren Analyse ihrer Kommunikationsformen, als welche sich vor allem politische Mythen und Symbole erweisen.

Einleitung

Unter den erleichterten Kommentaren zum gescheiterten Versuch der Rechtsextremen, ausgerechnet den 8. Mai 2005, den 60. Jahrestag des Kriegsendes in Europa, zur Demonstration ihrer vermeintlichen Stärke zu nutzen, findet sich der Bericht eines Augenzeugen, der die Situation auf dem Berliner Alexanderplatz wie folgt schildert: "Das Bild, das sie abgaben, ein Nukleus von zumeist sehr jungen Radikalen, bewacht von den erwachsenen Massen der Demokratie, hat dennoch etwas Bedrückendes. Es leiht dem rechten Denken eine Sprengkraft, die es eigentlich nicht hat, es drückt den harten Kern noch fester zusammen und schenkt ihm so eine Aura des Besonderen, Nonkonformistischen, gar Unverletzlichen. Für künftige Gedenktage sollte man sich auch eine andere Symbolik der Ausgrenzung überlegen. Die rechten Gruppen dürfen nicht konzentriert werden; man muss sie sich zerstreuen lassen, weil ihr öffentlicher Auftritt in Wahrheit das einzige ist, was sie am Leben hält. Wenn ihre Marschformationen, Bünde, Fraktionen ihre Form verlieren, zergeht auch der ganze ideologische Spuk in Nichts."

Der Autor, der damit Wasser in den Wein allseitiger Befriedigung über den gewaltlosen Ausgang des Unternehmens gießt, ist nicht zufällig ein Filmkritiker, der weiß, welche Steilvorlage die telegene Symbolik Jugendliche (= Neonazis) gegen Erwachsene (= friedliebende Demokraten) bieten mochte, zumindest für jene "getreuen Kameraden" des "nationalen Widerstands", die mit dem Ruf "Wir kommen wieder!" den Abzug begleiteten. Der Autor behauptet zugleich, das vom Fernsehen inszenierte Ereignis habe "dem rechten Denken eine Sprengkraft" verliehen, "die es eigentlich nicht hat", eine Aura, die dem insgesamt ziemlich tristen rechtsextremen Milieu nur dort zukomme, wo es, von außen bedrängt, sich just so fühlen kann, wie es seinem Weltbild seit je entspricht: Feinde ringsum, man selbst aber inmitten einer verschworenen Gemeinschaft von vaterlandstreuen "Märtyrern", die sich im Glanz ihrer Entschiedenheit sonnen dürfen. Dies freilich nur vermittels jener bild- und symbolträchtigen Form, die das Medium - gewiss ungewollt - dem Spektakel bietet. Als je Einzelne, man weiß es längst, erscheinen die strammen Marschierer oft eher als die "netten Jungs von nebenan". In der Kolonne jedoch, finster uniformiert, haben sie Teil an einem erhebenden "Größen-Wir", jenem Delirium nicht unähnlich, das Massen von so genannten Fans nahezu allwöchentlich beim Fußball zu befallen scheint.

Definitionsprobleme

Der Faschismusbegriff ist durch die Inflationierung, die er seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Gefolge der Studentenbewegung erlitten hat, mitunter zu einem bloßen Kampfbegriff denaturiert. Dies hat zu einer bedauerlichen theoretischen Unschärfe und Entleerung der Diskurse geführt, bei der empirisch fundierte Definitionselemente, die noch in der Epoche zwischen den beiden Weltkriegen gegenwärtig waren, weithin verloren gingen. Die jüngste Geschichte liefert indessen ein Lehrstück dafür, dass mit der schwindenden Kraft des Begriffs nicht zugleich auch das Verschwinden seines Gegenstandes einhergeht.

Um dem Dilemma zu entgehen, das aus dem Potenzverlust wissenschaftlicher Begriffsbildung bei gleichzeitiger "Rückkehr der Geschichte" entspringt, bedürfte es einer erneuten, empirisch und theoretisch orientierten Zuwendung zu den "klassischen" Formen des europäischen Faschismus, um so die Differenzen zu heutigen Phänomenen, aber auch deren modifiziert fortwirkende Kontinuitäten in den Blick zu nehmen.

Es ist kaum tröstlich, festzustellen, dass - in durchaus analoger Weise - auch der in der Mediengesellschaft inflationär gewordene rechte ebenso wie der linke "Populismus" einer wissenschaftlichen Definition zu entgleiten droht. Erscheint doch ein strukturell gewordener Populismus "zunehmend fraktioniert und diffundiert, (...) dergestalt, dass das Gemeinsame des Begriffs oft nicht mehr recht durchscheint. Demgegenüber sind gleichzeitig die populistischen Versatzstücke ins Kraut geschossen. (...) Populismus als Politikstil ist ubiquitär geworden. (...) Auch fällt es immer schwerer, besondere populistische Momente aufzufinden. (...) Es scheint inzwischen so weit gekommen zu sein, dass schlechterdings alle Momente populistische Momente sein können. Populismus ist, wenn nicht alles täuscht, zum dominanten Politikstil der Epoche geworden."

Die andauernden Schwierigkeiten bei der Verständigung über den Begriff des Rechtsextremismus ergeben sich nicht zuletzt aus dessen verwirrendem Facettenreichtum: gewalttätige Randalierer, Ausschreitungen gegen Schwächere, Fremdenfeindlichkeit, Ethnozentrismus und Ethnopluralismus - all dies verweist auf die Tatsache, dass die Probleme einer angemessenen Definition - jenen bei der Bestimmung des Populismus nicht unähnlich - offenbar auch im Untersuchungsobjekt selbst liegen. Aus solchem Unvermögen zur eindeutigen Definition zu schließen, Rechtsextremismus gebe es höchstens an den Rändern der Gesellschaft, während eine davon säuberlich geschiedene "gesunde Mitte" dagegen immun sei, hat sich längst als Trugschluss erwiesen.

Potenziale und Kommunikationsformen

Der gegenwärtige Rechtsextremismus ist in erster Linie keine wählerstatistische Größe; weit wichtiger sind jene diffusen, temporär ansprechbaren Potenziale für die Botschaft von rechtsaußen, vor allem dann, wenn Perioden der "Schönwetter-Demokratie" von "sozialen Verwerfungen" abgelöst werden: Ängste vor Status-Verlust, allgemeine soziale Verunsicherung, beschädigte Sozialmilieus und sonstige Desintegrationserscheinungen im Gefolge ökonomischer Krisen oder politischer Legitimationsdefizite. Rückwärts gewandte rechtsextreme oder populistische Scheinlösungen haben in der Regel dort gewisse Erfolgschancen, wo zentrale Institutionen demokratisch verfasster Gesellschaften ihre Überzeugungskraft eingebüßt haben: etwa Parteien, Parlamente oder Medien. Dass solche Vorgänge nicht bloß ein gesamtdeutsches, sondern ein internationales Problem darstellen, dürfte gerade in letzter Zeit erneut unverkennbar geworden sein: Deutliche Erosionserscheinungen bei der europäischen Integration, akute Schwächesymptome europäischer Regierungen - wie denjenigen Frankreichs, Italiens oder der Bundesrepublik - eröffnen Chancen für gewisse "fundamentalistische" Renationalisierungstendenzen.

Auch hier gilt jene bereits Ende der fünfziger Jahre von Theodor W. Adorno ausgesprochene Warnung: "Ich betrachte das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie. Unterwanderung bezeichnet ein Objektives; nur darum machen zwielichtige Figuren ihr come back in Machtpositionen, weil die Verhältnisse sie begünstigen."

Politische und soziale Mythen, nicht logisch nachvollziehbare Argumente sind die typischen Kommunikationsformen in rechtsextremen Diskursen. Sie bilden die Hintergrundfolien für "Argumentationsmuster", wie sie unter anderem als Stereotype etwa zur Person Hitlers, zur deutschen Wehrmacht oder zum Holocaust zirkulieren. Solche Mythen und Symbole sind bereits für sich genommen eine Kampfansage gegen einen als "zersetzend" abgewehrten kritischen Intellekt, weil nur im Medium von Mythen "völkisches Wollen" unmittelbar zur Tat werde. Sie stärkten die kollektive Instinktsicherheit, auf der allein sich Ordnung, Zucht und Stärke gründeten. So gelten Kollektivsubjekte wie "Nation", "Reich" oder "Volksgemeinschaft" als der symbolische Ausdruck eines kollektiven Willens, der einer straffen Führung bedürfe, um sich in einer Welt von Feinden durchzusetzen. Nationale Entscheidungen seien demgemäß nur dann "echt", wenn sie als Ausdruck "nationaler Identität", nicht etwa als Ergebnisse von Kompromissen gefällt würden.

Mit ihrer Symbolik liefert die Sprache selbst einen Zugang zur Mythenwelt des Rechtsextremismus. Deren Metaphorik bewegt sich mit Vorliebe um Topoi wie "Schicksal", "Kampf", "Krieg" oder "Raum". Gemeinsam ist ihnen die Reduktion geschichtlicher Prozesse auf einen eigengesetzlichen Naturprozess, in den die Völker als Kollektivsubjekte unentrinnbar eingebunden seien. Hierin erweist sich die Grundierung des rechtsextremen Weltbildes durch den seit dem 19. Jahrhundert virulenten Sozialdarwinismus. Ihm zufolge beruht das Lebensrecht eines Kollektivs primär auf der Tatsache, dass es sich im ewigen Daseinskampf der Völker zu behaupten vermag. Das Recht zu leben stehe und falle mit der Macht zum Überleben; Schwäche sei faktisch Unrecht. Nur im ehernen survival of the fittest erweise sich die Höher- oder Minderwertigkeit eines Volkes gemäß dem Gesetz der rassisch-biologischen Auslese.

Aus dieser Annahme einer Naturgeschichte ewiger Kämpfe ergeben sich zwei Konsequenzen: Erstens werden den Individuen Eigenrechte nur nach Maßgabe ihrer Integration in ein als homogen gedachtes Volksganzes zugebilligt. Zweitens folgt aus dieser Absolutsetzung einer "völkischen Identität" die Abwehr jeder Form von "Überfremdung", dasie die geforderte Reinheit der Nation, als Bedingung ihrer Überlebenskraft, gefährde.

In der Tat gehört das Begriffsfeld solcher Überfremdungsrhetorik zu den Kernelementen jeder rechtsextrem-ethnozentrischen Propaganda. Sie ist gleichermaßen in antisemitischen Pamphleten seit dem 19. Jahrhundert wie in zahlreichen rechtspopulistischen Bekundungen von heute enthalten. "Überfremdung" soll den vermeintlich drohenden Verlust der ethnischen Identität des eigenen Volkes anzeigen, den der Multikulturalismus mit sich bringe.

Eine weitere Besonderheit rechtsextremer Einstellungen liegt in der Neigung, als positiv gewertete Vergangenheiten zu vergegenwärtigen, sei es durch deren Beschwörungen, sei es als Appell zur "völkischen Erneuerung". Dem liegt ein Zeiterleben zugrunde, das sich als tendenziell wirklichkeitsenthoben kennzeichnen ließe. Denn es gehört zum Spezifikum mythischen Denkens, zeitliches Nacheinander zu negieren, indem man Zeit verräumlicht und verbildlicht, sodass in solcher Optik Geschichte als Abfallbewegung von einem als "rein" gedachten Ursprung erscheint. Das Versprechen einer neuen Ganzheit, die Herstellung einer Volksgemeinschaft und das Streben nach einer "wahren" Gerechtigkeit sind nur verschiedene Aspekte ein- und derselben Sehnsucht nach Harmonie, die sich mit der Losung umschreiben ließe: "Der Ursprung ist das Ziel." In dieses Programm der Wiederherstellung einer verlorenen Einheit fügt sich ein Bestreben nach Revitalisierung von Formen kameradschaftlicher Unmittelbarkeit ein, das heißt: eine radikale Verneinung der in arbeitsteiligen Gesellschaften abstrakt gewordenen sozialen Beziehungen, die bis zur deklarierten Abschaffung von Zins und Börse geht.

Auch der im Rechtsextremismus angelegte aktivistische Impuls entsteht aus der imaginären Inszenierung angeblich heiler Vergangenheiten im Sinne ihrer symbolischen Präsentation. Den fehlenden Bezug zur Gegenwart ersetzt oftmals der Gestus einer männerbündischen Entschlossenheit, Mythen durch die direkte Tat "wahr zu machen". Dieses "Wahrmachen" im Sinne eines "Tatglaubens" gilt primär als eine Frage des kollektiven Willens. Die Rückwendung zum fiktiven Ursprung, zur Reinheit und Einheit des Ganzen kann allerdings nur durch radikale Negation der Geschichte erfolgen, denn diese wird letztlich allein als ein Prozess wachsender Entfernung vom Ursprung und damit als Verfall, sprich "Dekadenz", eingeschätzt, ein Schlüsselbegriff auch heutiger rechtsextremer Manifeste.

Schon in den klassischen Formen faschistischer Entwürfe gehört die Imagination eines "heilen" Ursprungs zum Kernpunkt rechtsextremer Einstellungen. Sie erscheint hier als eine Frage des unbeirrbaren Glaubens an den Sieg der eigenen Sache. Ohne ein solches säkulares Heilsversprechen wäre der Appell von rechtsaußen nicht zu begreifen; erscheint doch die nationale Erhebung als eine Art Rückkehr in die imaginierte Unmittelbarkeit der "Volksgemeinschaft".

Kein geschlossenes Weltbild

Im Blick auf die Gemeinsamkeiten rechtsextremer Einstellungen wird mitunter von der Existenz eines "geschlossenen Weltbildes" gesprochen, so, als bedürfe es einer systematischen Schulung, um als Rechtsextremist zu gelten. In Wirklichkeit gab und gibt es eine solche Geschlossenheit nicht. Von einem geschlossenen Weltbild kann höchstens im Sinne von closed mindedness gesprochen werden, was im Kontext angelsächsischer Forschung so viel wie Engstirnigkeit, Voreingenommenheit und Eingleisigkeit eines Denkens bedeutet, das sich mit Immunisierungsstrategien gegen irritierende Erfahrungen verpanzert.

An solcher Unansprechbarkeit für konkrete Erfahrungen erweist sich eine der ideologischen Funktionen rechtsextremer Einstellungen: Stets werden negativ bewertete gesellschaftliche Verhältnisse (etwa Krisenerscheinungen, Arbeitslosigkeit oder Inflationen) personalisierend bestimmten Akteuren oder Akteursgruppen zur Last gelegt, wodurch undurchschaubar erscheinende gesellschaftliche Strukturen sich in die ersehnte Unmittelbarkeit intersubjektiver Beziehungen verwandeln lassen. Man scheidet die komplexe Welt in die klare Eindeutigkeit von Freund und Feind, da, wie es scheint, nur auf diesem Wege Sicherheit zu gewinnen sei. Die dichotomische Scheidung der Welt in Gut und Böse ist seit je ein Kennzeichen erfahrungsresistenter Weltwahrnehmung und deshalb auch Grundlage nicht bloß des Rechtsextremismus, sondern vielfältiger Fundamentalismen. Von solch einem "archimedischen Punkt" her lassen sich allemal "böse Übeltäter" ausmachen, deren gewaltsame Beseitigung dann als Notwehr ausgegeben wird.

Rechtsextreme Wertetafeln

Wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass die gegenwärtige Programmatik rechtsextremer Parteien, Bewegungen und Bünde sich hinsichtlich ihres Kerngehalts nur geringfügig von jener des Rechtsextremismus der frühen Bundesrepublik unterscheidet. In der Tat herrscht hier eine erstaunliche Kontinuität. Womöglich ist es eben diesem "Traditionalismus" geschuldet, dass die Wahrnehmungsfilter solcher Haltung weitgehend immun sind gegen widersprechende Erfahrungen.

Nach wie vor sind es die folgenden vier, von der seitherigen Forschung immer wieder konstatierten "Syndrome", denen die Aufmerksamkeit gelten sollte: ein spezifisch halbierter Antimodernismus, der sich jedoch nicht gegen technische, sondern primär gegen kulturelle Phänomene richtet, zum Beispiel als Anti-Intellektualismus; ein Set von Feindbildern, allem voran Liberalismus, Individualismus, Internationalismus und Multikulturalismus; sowie der Sozialdarwinismus in seinen vielfältigen Schattierungen eines Rassismus, bestimmter Elitenideologien und im Konzept des Ethnopluralismus; ferner Aktivismus, Militanz und "Heroismus" als der Boden einer stets virulenten Gewaltbereitschaft.

Vergleicht man die Befunde dreier in der Faschismusforschung bislang wenig beachteter Autoren wie Julien Benda, Friedrich Hacker und Umberto Eco, so ergeben sich abermals deutliche gemeinsame Schnittmengen im Kernbereich der den Rechtsextremismus dominierenden Mentalität und Weltsicht. Vor allem tritt bei den genannten Autoren die Betonung anthropologischer Konstanten (Säkularisate der Erbsünde) sowie die durch vorgängige Feindprojektion im Rahmen einer manichäisch in Gut und Böse gespaltenen Wirklichkeitswahrnehmung hervor.

Eine vergleichende Analyse europäischer Faschismen kann es nicht beim Befund gemeinsamer Schnittmengen belassen. Vielmehr wäre darüber hinaus eine Strukturierung des weltanschaulichen Umfeldes im Blick auf das jeweilige Verhältnis von Theorie und Praxis vonnöten. Denn die faschistischen Konzepte der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und jener der Nachkriegszeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterscheiden sich gerade im Hinblick auf die Mittel und Wege, mit denen die Veränderung der Gesellschaft und der politischen Systeme betrieben werden soll.

Es empfiehlt sich daher, eine Unterscheidung nach dem jeweils zeitdiagnostisch erhobenen Ist-Zustand und einem davon abgeleiteten normativen Soll-Zustand vorzunehmen. Letztlich zielen alle Varianten darauf, "das Problem der Dekadenz zu lösen durch die radikale Erneuerung der Nation, verstanden als organisches Ganzes".

Gruppiert man die ideologischen Komponenten der rechtsextremistischen Weltanschauung nach den genannten Kriterien, so ergibt sich - auf der Grundlage eines frühen Textes von Benito Mussolini - das folgende Bild:

Theorie (Ist-Zustand): Dekadenzdiagnose; Irrationalität; Verschwörungstheorie; Apokalyptik.

Werthorizont (Soll-Zustand): Ungleichheit zwischen Führer/Masse; Völker/Nationen/Rassen; Hierarchie/Elitismus/Führerprinzip; Männlichkeitskult; Nationalismus; Idealismus; Heroismus.

Praxis (Mittel zur Herstellung des Soll-Zustands): Homogenisierung des Volkes; Dauermobilisierung der Massen; Totaleinsatz/Aktionismus; Traditionskult; Mythen/Symbole/Totenkult; Gewalt als Konfliktlösung und Purgatorium.

Extremismus der Mitte

Wenn unsere These zutrifft, dass rechtsextreme "Argumentationsmuster" weniger als theoretisch begründete und begründbare Aussagen gelten können, so ist auch das Kriterium für deren Weltanschauung nicht so sehr eine Frage der jeweils formulierten Programme, sondern weit eher eine vor- oder metapolitische Angelegenheit, die sich mit Begriffen wie "Einstellung" oder "Mentalität" umschreiben lässt. Die in gesellschaftlichen Krisenzeiten stets latente, frei flottierende Angst vor einem möglichen Chaos tendiert zu einer panikähnlichen Einschränkung des Wahrnehmungsfeldes besonders bei jenen Mittelschichten, die sich von "Plutokratien" und anonymen bürokratischen Mächten sowie vom Aufkommen proletarischer Massen gleichermaßen in ihrer Existenz bedroht fühlen. Diese "Mitte" ist daher auf Dauer kaum davor gefeit, zum Adressaten propagandistischer Agitation zu werden.

Der Griff zu hilfreich dargebotenen "Erklärungen" undurchschauter gesellschaftlicher Prozesse kann zu einem "Extremismus der Mitte" führen, den der amerikanische Soziologe Seymour Martin Lipset schon in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts diagnostizierte. Diffuse kollektive Ängste sich bedroht fühlender Sozialschichten lassen sich erst recht unter den Bedingungen der heutigen Mediengesellschaft politisch instrumentalisieren. Ein gewisses Potenzial für rechtsextremistische Strömungen liegt grundsätzlich in allen Gesellschaften mit hoher sozialer Dynamik bereit. Allerdings ist der je aktualisierbare Grad der Mobilisierungschancen in den jeweiligen Perioden und Regionen unterschiedlich. Krisensituationen jeglicher Art, ob real oder bloß empfunden, bilden häufig das auslösende Moment zur Mobilisierung politisch vormals apathischer Sozialschichten.

Zwischen der von außen beobachtbaren Stärke der Krisensymptome und den numerisch sich bei Wahlen niederschlagenden rechtsextremen Optionen besteht keinerlei Automatismus. So lässt sich denn auch deren Mobilisierungschance statistisch nur schwer ermitteln, bieten doch selbst Wahlergebnisse - als bloße Momentaufnahmen - für sich genommen noch keinen sicheren Anhaltspunkt für die Streuungsbreite und Intensität rechtsextremer Einstellungsmuster.




















Fussnoten

Fußnoten

  1. Andreas Kilb, Ungezwungen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 9.5. 2005, S. 41.

  2. Auffällig häufig werden in jüngster Zeit Rassismus und Rechtsextremismus in Fußballstadien Osteuropas, Italiens, Spaniens sowie an zahlreichen Spielorten in Deutschland beobachtet. Vgl. z.B. den Bericht von Arno Stoffels, Schleichende Bedrohung auf den Rängen, in: Nürnberger Nachrichten vom 24.6. 2005, S. 3.

  3. So der Titel des im Frühjahr 2005 erschienenen Buches Joschka Fischers.

  4. Hans-Jürgen Puhle, Zwischen Protest und Politikstil: Populismus - Neopopulismus und Demokratie, in: Nikolaus Werz (Hrsg.), Populismus. Populisten in Übersee und Europa, Opladen 2003, S. 43.

  5. Theodor W. Adorno, Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt/M. 1963, S. 126.

  6. Vgl. hierzu Wolfgang Benz (Hrsg.), Legenden Lügen Vorurteile, München 1990, sowie: Markus Tiedemann, "In Auschwitz wurde niemand vergast". 60 rechtsradikale Lügen und wie man sie widerlegt, München 2000.

  7. Vgl. hierzu das Stichwort "Überfremdung" in: Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin-New York 1998, S. 615ff.

  8. Die Neigung des Rechtsextremismus zur Gewalt als Lösung politischer und sozialer Konflikte und der daraus entspringende Gewaltkult lässt sich auf das im Dekadenztheorem angelegte Dogma vom Verfall aller Wertordnungen zurückführen. Epochemachend blieb hier nach wie vor der französische Syndikalist Georges Sorel, vgl. ders., Über die Gewalt, Frankfurt/M. 1969.

  9. Vgl. Julien Benda, Der Verrat der Intellektuellen, Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1983; Friedrich Hacker, Das Faschismus-Syndrom, Düsseldorf-Wien-New York 1990; Umberto Eco, Der immerwährende Faschismus, in: ders., Vier moralische Schriften, München-Wien 1999.

  10. Roger Griffin, Der umstrittene Begriff des Faschismus, in: DISS-Journal 13, Duisburg 2004, S. 11. Vgl. ders., The Nature of fascism, London 1991. Einen informativen Überblick bietet Wolfgang Wippermann, Faschismustheorien, Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, 7., überarb. Aufl., Darmstadt 1997.

  11. Benito Mussolini, Der Geist des Faschismus, hrsg. von Horst Wagenführ, München 1943.

  12. "Der klassische Faschismus hat seine soziale Grundlage anscheinend in der stets vorhandenen Empfindlichkeit eines Teils des Mittelstandes - insbesondere der kleinen Geschäftsleute und Bauern - gegenüber Großbourgeoisie und machtvollen Arbeiterbewegungen." Seymour Martin Lipset, Soziologie der Demokratie, Neuwied 1962, S. 63; vgl. ebd. die eingehende Analyse Lipsets in Kap. V: "Faschismus" - rechts, links und in der Mitte, S. 131 - 189. Auch nach Umberto Eco "gehörte zu den typischen Merkmalen des historischen Faschismus der Appell an eine frustrierte Mittelklasse (...), die unter einer ökonomischen Krise oder Empfindung politischer Demütigung litt und sich vor dem Druck sozialer Gruppen von unten fürchtete"; ders., Urfaschismus, in: Die Zeit vom 7.7. 1995. Im Blick auf die Anfänge der NS-Bewegung weist M. Rainer Lepsius auf ein analoges Phänomen hin: "Von einer sektenartigen Rechtspartei wandelte sich der Nationalsozialismus zu einer Partei der radikalisierten Mitte. Seine Wählerschaft entstammte denselben Bevölkerungskreisen, die früher die bürgerlich-liberalen Parteien gewählt hatten: in erster Linie also den Angehörigen des sogenannten alten Mittelstandes, den selbständigen Gewerbetreibenden und Bauern sowie den Angestellten des neuen Mittelstandes. Hinzu kamen noch große Gruppen von politisch nicht integrierten Jung- und Nichtwählern, Arbeitslosen sowie, insbesondere im Kader der Partei, seit dem Kriegsende sozial vagabundierende Marginalexistenzen." Ders., Extremer Nationalismus, Strukturbedingungen vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1966, S. 8.

Dr. phil., geb. 1929; em. Professor für Politische Wissenschaft; bis 1994 Direktor des Instituts für Politische Wissenschaft an der RWTH Aachen. Humboldtstraße 21, 91054 Erlangen.