Einleitung
Mit der vorgezogenen Bundestagswahl am 18. September ist die Regierungszeit von SPD und Grünen zu Ende gegangen.
Der Zeitraum von Herbst 1998 bis Herbst 2005 ist jetzt eine abgeschlossene Periode der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik. Wir analysieren, wie die rot-grüne Bundesregierung den ökonomischen Handlungsbedarf bewältigt hat und welche Chancen aus den vorgenommenen Reformschritten erwachsen.
Wir untersuchen zudem, wie die Bundesregierung versucht hat, ihre Handlungsfähigkeit in einem Regierungssystem zu erhalten, das durch zahlreiche Blockademöglichkeiten gekennzeichnet ist.
Ausgangslage und Handlungsbedarf
Die rot-grüne Bundesregierung sah sich im Herbst 1998 mit erheblichem Handlungsbedarf auf dem Arbeitsmarkt und im Sozialstaat konfrontiert. Ausgeprägter "Reformstau" hatte die letzten Jahre der christdemokratisch-liberalen Vorgängerregierung gekennzeichnet. Die Mitte der neunziger Jahre eingeleiteten Reformen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und zur Stabilisierung der Sozialsysteme hatten nicht ausgereicht, die hohe und sich verfestigende Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Weitere Reformen mussten sich auf vier Felder konzentrieren:
Schaffung attraktiver Standortbedingungen für Unternehmen, die steuerliche Entlastung der Privathaushalte und die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte;
Reform von Renten- und Krankenversicherung zur Begrenzung der Ausgaben, die Senkung der Lohnnebenkosten und die Bewältigung des demographischen Wandels;
Reform der aktiven Arbeitsmarktpolitik und des Transfersystems, um die Arbeitslosigkeitsdauer zu verkürzen und die Relation zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern zu verbessern;
Deregulierung des Arbeitsmarktes, der Tarifpolitik und anderer Märkte.
Die Fähigkeit zur Durchsetzung solcher Reformen hängt von ausreichender politischer Unterstützung und vom institutionellen Rahmen ab. Politisch sind strukturelle Reformen schwierig, da sie kurzfristig Zustimmung kosten können. Jedoch wäre ein Verzicht auf Reformen politisch ebenfalls riskant, weil dadurch Probleme nicht effektiv bewältigt werden können. So wird die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit von der Bevölkerung in Deutschland regelmäßig zum wichtigsten Punkt der politischen Agenda benannt. Institutionell ist die Handlungsfähigkeit jeder Bundesregierung deutlich beschränkt.
Im Vergleich zu anderen Staaten fällt die große Anzahl von "Vetogelegenheiten" auf. Diese basieren auf dem Verhältniswahlrecht, das regelmäßig die Bildung von Regierungskoalitionen zwischen Parteien mit heterogener Basis erfordert, der faktischen Vetomacht der Verbände von Arbeitgebern und Gewerkschaften, der Tarifautonomie und dem Mitentscheidungsrecht des Bundesrates bei wichtigen Fragen der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, was angesichts der Häufigkeit von Landtagswahlen zu einem "permanenten Wahlkampf" auf Bundesebene führt, der längerfristiges Agieren erschwert.
Die rot-grüne Regierungszeit lässt sich in drei Phasen einteilen, die nicht nur von unterschiedlichen Schwerpunkten, sondern auch von unterschiedlichen Versuchen gekennzeichnet sind, Handlungsfähigkeit zu gewinnen:
1. die "klassisch sozialdemokratische" Anfangsphase, 2. die Phase der Konsensorientierung, Konsolidierung und der "Politik der ruhigen Hand" sowie 3. die Phase ausgeprägter Strukturreformen mit den Hartz-Gesetzen und der "Agenda 2010". Das sozialdemokratische Experiment
Die SPD hatte im Wahlkampf 1998 erfolgreich mit dem Leitmotiv "Innovation und soziale Gerechtigkeit" geworben und die Reformen der Vorgängerregierung bei Kündigungsschutz, Renten- und Krankenversicherung oder Entgeltfortzahlung als "sozial unausgewogen" kritisiert. Dabei war sie von den Gewerkschaften unterstützt worden. Die neue Regierung nahm diese Einschnitte zur Erfüllung von Wahlversprechen zurück. Diese "klassisch sozialdemokratische" Politik wurde vom "Keynesianismus" Oskar Lafontaines als Bundesfinanzminister begleitet. Gleichzeitig wurde Ende 1998 das "Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit" begründet, das der Formulierung einer gemeinsamen Reformstrategie von Bundesregierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften dienen und maßgeblich vom Kanzleramt gesteuert werden sollte. Die Einbindung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden unter Verzicht auf Gegenleistungen deutete bereits das spätere Scheitern des Bündnisses an.
Im Bereich der Makroökonomie und Fiskalpolitik wurde zunächst bis März 1999 eine "keynesianische" Strategie verfolgt, die über eine expansive Haushaltspolitik eine Stärkung der Binnennachfrage anstrebte. Die Gewerkschaften wurden zu höheren Lohnforderungen ermutigt. Mit der "Ökosteuer" wurden die Steuern auf den Energieverbrauch erhöht, um die Lohnnebenkosten zu senken. Im April 1999 wurde die Mineralölsteuer angehoben und eine Stromsteuer eingeführt. Daneben erfolgte eine mehrstufige Entlastung bei der Einkommensteuer, wobei auch die Eingangs- und Spitzensteuersätze spürbar gesenkt wurden. Die Gegenfinanzierung erfolgte über den Abbau von Steuervergünstigungen, was die Steuerbelastung der Großunternehmen erhöhte.
Bei den sozialen Sicherungssystemen wurde Ende 1998 der "demographische Faktor", der eine langfristige Absenkung des Rentenniveaus bei steigender Lebenserwartung bedeutet hätte, ebenso gestrichen wie Eigenleistungen bei der Gesundheitsvorsorge. Die Gesundheitsausgaben wurden wieder budgetiert. Schließlich wurde die vollständige Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall wiederhergestellt. Der Ausweitung der Beitragsgrundlagen für die Sozialversicherung diente ab April 1999 die Einführung der Beitragspflicht für so genannte "Scheinselbstständige" wie für Arbeitgeber bei geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Die angestrebte Reduktion der gesamten Beitragsbelastung unter 40 Prozent der Bruttolöhne gelang jedoch zu keinem Zeitpunkt.
Die Arbeitsmarktpolitik konzentrierte sich auf ein Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ("Jump"). Die Pflicht der Arbeitgeber zur Erstattung von Transferleistungen bei Entlassung älterer Arbeitskräfte und die Pflicht der Arbeitsuchenden zu häufigeren Kontakten mit dem Arbeitsamt wurden gestrichen. Die Marktregulierung wurde verstärkt. Neben restriktiven Bestimmungen zur "Scheinselbstständigkeit" bedeutete dies die Wiederherstellung des Kündigungsschutzes in Kleinbetrieben ab fünf Beschäftigten. Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung für tarifliche Mindestlöhne im Bereich des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes wurde so verändert, dass der Bundesarbeitsminister alleine einen Mindestlohn festlegen konnte.
Konsensorientierung, Konsolidierung und die "Politik der ruhigen Hand"
Eine Zäsur stellte der abrupte Rücktritt Lafontaines als Finanzminister und SPD-Vorsitzender im März 1999 dar. Sie fiel mit dem Verlust der Mehrheit im Bundesrat aufgrund der verlorenen Landtagswahl in Hessen zusammen. Künftig konnten wichtige Bundesgesetze nur durch Angebote an die Bundestagsopposition oder einzelne Länderregierungen durchgesetzt werden. Als Finanzminister wurde Lafontaine von Hans Eichel, dem bisherigen hessischen Ministerpräsidenten, als Parteivorsitzender von Bundeskanzler Gerhard Schröder ersetzt. Damit war eine Reorientierung hin zur "neuen Mitte" verbunden. Das bereits im Wahlkampf angedeutete Konzept einer Politik des "dritten Weges" bedurfte aber der Konkretisierung. Dabei spielte das "Schröder-Blair-Papier" vom Juni 1999 eine wichtige Rolle, das die Hinwendung zu einem "aktivierenden" Staat und größerer Eigenverantwortung des Einzelnen bedeutet hätte. Es blieb innerhalb der SPD strittig. Zwar war der Gegensatz von Kanzleramt und Finanzministerium entschärft, doch nach wie vor bestanden große Unterschiede zwischen den "Modernisierern" im Kanzleramt und dem traditionell ausgerichteten Arbeitsministerium sowie der Bundestagsfraktion. Das "Bündnis für Arbeit" war mangels Agendasetzung seitens der Regierung faktisch handlungsunfähig. Inhaltlich bedeutender waren die Akzentverschiebung zur Haushaltskonsolidierung und neue Ansätze zu strukturellen Reformen in der Rentenversicherung und bei der Zuwanderungspolitik. Die günstige Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung von 1999 bis 2001 nährte die Hoffnung, weiter gehende Arbeitsmarktreformen seien überflüssig, sodass eine "Politik der ruhigen Hand" genügen würde.
Eichel ergriff bei Makroökonomie und Fiskalpolitik einen konsequenten Konsolidierungskurs. Bis 2001 wurden die Ausgaben durch mehrere Sparpakete vermindert. Ziel war ein ausgeglichener Haushalt im Jahr 2006. Begünstigt wurde dies durch die positive konjunkturelle Entwicklung auf dem Höhepunkt der "new economy". Angesichts der konjunkturellen Abschwächung wurde der Konsolidierungskurs jedoch Ende 2001 aufgegeben. Die Ökosteuer wurde weitergeführt. Die Einkommensteuerreform wurde durch das Steuerreformgesetz von Juni 2000 fortgesetzt, das Anfang 2001 in Kraft trat. Dies bedeutete im Vergleich zu Lafontaine eine stärkere Senkung der Steuersätze und deutlichere Entlastung höherer Einkommen. Der dritte Schritt der bereits beschlossenen Steuerentlastung wurde als erste Stufe der neuen Reform von 2002 auf 2001 vorgezogen. Das wichtigste Vorhaben war die Reform der Besteuerung von Kapitalgesellschaften, die 2001 in Kraft trat. Sie machte Deutschland für ausländische Investoren attraktiver und schuf Anreize zur Entflechtung wechselseitiger Unternehmensbeteiligungen. Personengesellschaften profitierten von der Entlastung bei der Einkommensteuer und von der Möglichkeit, die Gewerbesteuer ab 2001 pauschaliert auf die Einkommensteuer anzurechnen.
In den sozialen Sicherungssystemen gingen kurzfristige Notoperationen mit strukturellen Eingriffen einher. Zur Stabilisierung der Rentenausgaben wurde die Rentenanpassung 2000 und 2001 auf einen Inflationsausgleich beschränkt. Daneben wurde die Schwankungsreserve kontinuierlich vermindert. Zur Stabilisierung des Rentensystems reichte dies aber nicht aus. Zentrales Projekt war deshalb die Rentenreform 2000/2001, die mit der Abkehr von der Lebensstandardsicherung verbunden war. Gleichzeitig begann der Einstieg in die kapitalgedeckte private Altersvorsorge. Da eine verpflichtende Zusatzvorsorge nicht realisiert werden konnte, kam es zur steuerlichen Förderung bestimmter privater Vorsorgeverträge. Die "Riester-Rente" trat Anfang 2002 in Kraft und traf aufgrund ihrer komplizierten Ausgestaltung zunächst auf geringe Akzeptanz. Im Gesundheitswesen wurde keine effektive Konsolidierung vorangetrieben. Die Aufhebung der Budgetierung im Jahr 2001 verstärkte die Ausgabendynamik erneut.
Die Arbeitsmarktpolitik war durch Kontinuität geprägt, obwohl die Effektivität der Arbeitsmarktpolitik zunehmend kritisch gesehen wurde.
Im Bündnis für Arbeit gelang nur eine Verständigung auf eine Ausbildungsinitiative. Hingegen scheiterten Reformansätze zur Gestaltung eines Niedriglohnsektors. Im Bündnis für Arbeit konnte ein Vorstoß der IG Metall zur "Rente ab 60" durch eine Reform der Altersteilzeit und tarifvertragliche Regelungen abgewehrt werden, der beschlossene "Paradigmenwechsel" zu einer höheren Erwerbsintegration Älterer blieb jedoch folgenlos. Mit dem Anfang 2002 in Kraft getretenen "JobAqtiv-Gesetz" wurde in der Arbeitsmarktpolitik der vorsichtige Einstieg in eine Aktivierungsstrategie vollzogen.
Bei der Marktöffnung wurde wenig erreicht. Die grundlegende Modernisierung der Zuwanderungspolitik wurde im Bundesrat blockiert. Durch das Teilzeit- und Befristungsgesetz wurden ab 2001 die Möglichkeiten zum Abschluss befristeter Arbeitsverträge restriktiver gestaltet. Auch der Anspruch auf Teilzeitarbeit erhöhte die Regulierungsdichte im Arbeitsrecht. Ohne von den Gewerkschaften Zugeständnisse zu verlangen, wurde 2001 das Betriebsverfassungsgesetz erweitert. Immerhin konnte im Jahr 2000 im Bündnis für Arbeit eine moderate Lohnrunde vereinbart werden.
Reforminitiativen der Regierung: Hartz und Agenda 2010
Ende 2001 geriet die "Politik der ruhigen Hand" angesichts der ungünstigen konjunkturellen Entwicklung und steigender Arbeitslosigkeit in die Defensive. Die Blockade im Bündnis für Arbeit zeigte, dass eine von der Bundesregierung lediglich moderierte Politik nicht funktionierte. Die dritte Phase war dementsprechend von einer stärkeren Initiative der Regierung gekennzeichnet, bei der weniger Rücksicht auf parteiinterne Strömungen sowie Verbände und Gewerkschaften genommen wurde. Dies schlug sich in einer größeren Distanz zwischen dem Bundeskanzler und der SPD nieder. In der Folge trat Schröder im März 2004 als Parteivorsitzender zurück.
Die Bundesregierung geriet zunehmend in ein Dilemma zwischen einem Verlust an Zustimmung aufgrund ausbleibender Erfolge auf dem Arbeitsmarkt, was mit ungenügenden Reformen zu tun hatte, und der Entfremdung von Gewerkschaften, Parteibasis und Teilen der Wählerschaft angesichts der als "ungerecht" wahrgenommenen Eingriffe in den Sozialstaat. Verschärft wurde die Situation dadurch, dass die unionsregierten Länder seit Frühjahr 2002 den Bundesrat dominierten und seit Frühjahr 2003 eine eigene Mehrheit besaßen. Die Durchsetzung von Regierungspolitik wurde damit noch schwieriger. Im Unterschied zu den ersten beiden Phasen spielten nun befristete Expertenkommissionen wie die Hartz-Kommission oder die nach diesem Vorbild gestaltete Rürup-Kommission eine hervorgehobene Rolle, während das Bündnis für Arbeit 2003 formal beendet wurde.
Der "Vermittlungsskandal" in der Bundesanstalt für Arbeit eröffnete die Gelegenheit, die bis dahin blockierte Strukturreform der Arbeitsmarktpolitik in Angriff zu nehmen. Die Initiative der Bundesregierung wurde nach weiteren Niederlagen bei Landtagswahlen mit der "Agenda 2010" von März 2003 fortgeführt. So konnten jetzt strukturelle Reformen größerer Tragweite durchgesetzt werden.
Dies führte zu zunehmenden Widerständen innerhalb der SPD und bei den Gewerkschaften sowie zu einem Verlust an Zustimmung in der Bevölkerung. Das hatte einerseits mit der Wahrnehmung der vermeintlichen "Grausamkeit" von Hartz IV, also der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu tun, andererseits mit dem Überschreiten der wichtigen Fünf-Millionen-Grenze bei der Zahl registrierter Arbeitloser, die auf die erstmalige Erfassung von erwerbsfähigen Sozialhilfeempfängern zurückging und somit als rein statistischer Effekt zu deuten war.
In der Makroökonomie und Fiskalpolitik wurde zunächst entgegen der ursprünglichen Planung das Inkrafttreten der 2. Stufe der Steuerreform von 2003 auf 2004 verschoben, um die Flutschäden finanzieren zu können. Später wurde aus konjunkturellen Gründen die dritte und letzte Stufe der Steuerreform teilweise von 2005 auf 2004 vorgezogen. Nach der Aufgabe des Konsolidierungskurses und angesichts einer mehrere Jahre andauernden Wachstumsschwäche verstieß die Bundesrepublik ab 2002 kontinuierlich gegen das Defizitkriterium von Maastricht. Zusätzliche Einnahmen wurden über den Verkauf von Staatsbeteiligungen erzielt. Die Einnahmensituation der Kommunen wurde über eine Reform der Gewerbesteuerumlage verbessert. Obwohl weitergehende Kürzungen von Subventionen im Bundesrat scheiterten, konnten ab 2004 einige Steuervergünstigungen abgebaut werden (z.B. Verminderung der Eigenheimzulage und Kürzung der Entfernungspauschale).
Im Bereich der sozialen Sicherung wurde 2003 in einer informellen "großen Koalition" mit der Union eine Reform der Krankenversicherung vereinbart. Diese trat in mehreren Stufen ab Anfang 2004 in Kraft und brachte die Auslagerung bisheriger Versicherungsleistungen mit sich. Damit wurde die Beitragsparität in der Krankenversicherung aufgelöst. Der Arbeitgeberbeitrag wurde gesenkt, während die Belastung für die Versicherten zunahm. Auch erfolgte mit der Verschiebung des Mutterschaftsgeldes in den Bundeshaushalt und der Erhöhung der Tabaksteuer der Einstieg in eine partielle Steuerfinanzierung der Krankenversicherung. Wettbewerbsmechanismen auf der Seite der Leistungsanbieter wurden hingegen kaum gestärkt.
In der Rentenversicherung wurde zum Januar 2005 mit dem "Nachhaltigkeitsfaktor" eine Regelung eingeführt, die eine verminderte Rentenanpassung bei einer ungünstigen Verschiebung der Relation Rentner/Beitragszahler vorsieht. Das gesetzliche Rentenalter wurde bei 65 Jahren belassen, obwohl die Rürup-Kommission eine Anhebung auf 67 Jahre empfohlen hatte. Trotz der Rentenreformen waren ab 2003 weitere kurzfristige Maßnahmen notwendig, um die Rentenkasse zu stabilisieren, darunter ein höherer Beitragssatz, eine überproportionale Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze, eine neuerliche Senkung der Schwankungsreserve und 2004 eine weitere Nullrunde für die Rentner.
Ein Schwerpunkt des Regierungshandelns lag in der Arbeitsmarktpolitik. Auf den "Vermittlungsskandal" reagierte die Bundesregierung im Frühjahr 2002 zunächst mit einem "Sofortprogramm", das u.a. den Umbau des Vorstandes der BA vorsah und mit dem Vermittlungsgutschein Marktmechanismen in der Stellenvermittlung einführte. Der Bericht der Hartz-Kommission vom August 2002 regte dann umfangreiche Veränderungen an.
Die ersten beiden Hartz-Gesetze, die 2003 in Kraft traten, führten neue Instrumente ein, so die Förderung selbstständiger Tätigkeiten im Rahmen der Ich-AG und die arbeitsmarktpolitische Nutzung von Zeitarbeit durch "Personal-Service-Agenturen". Vorhandene Instrumente wurden gestrafft und stärker auf den Eingliederungserfolg ausgerichtet. Schließlich wurden ab April 2003 das kurz zuvor bundesweit eingeführte "Mainzer Modell" und die geringfügige Beschäftigung durch Mini- und Midijobs ersetzt. Minijobs bis 400 Euro im Monat waren nun wieder wie vor 1999 auch als Nebentätigkeit gestattet. Durch das dritte Hartz-Gesetz wurde die interne Struktur der Bundesagentur für Arbeit reformiert. Sie soll nun eine effektive Vermittlung und Maßnahmenselektion nach Wirkungszielen erreichen. Bemerkenswert ist die stärkere Einbindung von externen Dienstleistern und marktähnlichen Mechanismen in die Arbeitsmarktpolitik.
Die Hartz-Reformen stehen für eine konsequenter aktivierende Arbeitsmarktpolitik durch die Pflicht zur frühzeitigen Meldung vor Eintritt der Arbeitslosigkeit, striktere Zumutbarkeitskriterien, häufigere Sanktionen und den intensiveren Nachweis von Arbeitssuchaktivitäten. Aktivierend soll auch das neue System der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach "Hartz IV" wirken, das 2005 die Arbeitslosenhilfe ersetzt hat. Dabei wurde der Bezug zum früheren Erwerbseinkommen aufgegeben und durch eine strikt bedürftigkeitsgeprüfte Pauschale ersetzt. Die Betreuung der erwerbsfähigen Hilfebezieher sollte von den Arbeitsagenturen übernommen werden, in den Verhandlungen mit dem Bundesrat wurde jedoch eine gemeinsame Verantwortung von Arbeitsagenturen und Kommunen sowie eine kommunale Alleinzuständigkeit in den Optionskommunen vereinbart, was mit erheblichen Steuerungsdefiziten verbunden ist. Während der gesetzliche Rahmen nun besteht, fehlt es derzeit noch an einer effektiven Aktivierung in der Praxis. Hinzuverdienstmöglichkeiten und Zusatzjobs bieten Anreize zum Verbleib im Transferbezug mit ergänzender Teilzeitarbeit.
Die Erwerbstätigkeit älterer Arbeitskräfte sollte durch die Möglichkeit, über 50-Jährige ohne sachlichen Grund befristet einzustellen, eine Begünstigung der Arbeitgeber durch Beitragsbonus und Lohnkostenzuschüsse sowie die Aufstockung niedrigerer Arbeitsentgelte gefördert werden. Dies gelang nicht, da gleichzeitig innerhalb der Arbeitslosenversicherung Anreize zum vorzeitigen Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt aufrechterhalten wurden. Eine letzte wesentliche Maßnahme ist der Ausbildungspakt von 2004, mit dem die Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe verhindert wurde.
Marktöffnungen sollten die Wirksamkeit der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik unterstützen. Um die Selbstständigkeit zu unterstützen, wurde der Nachweis des "Meisterbriefes" in 53 von 94 Handwerksgewerken und bei "einfachen" Tätigkeiten aufgehoben. Die befristete Beschäftigung bei neu gegründeten Unternehmen wurde erleichtert. Die Zeitarbeit wurde weiter liberalisiert, allerdings im Tausch gegen das Prinzip der Gleichbehandlung von entliehenen und Stammarbeitskräften, von dem nur durch Tarifverträge abgewichen werden darf. Im Zuge der Agenda 2010 wurde der Schwellenwert des Kündigungsschutzes für Neueingestellte wieder von fünf auf zehn Beschäftigte angehoben, die Kriterien der Sozialauswahl begrenzt, jedoch gleichzeitig eine arbeitnehmerseitige Wahlmöglichkeit zugunsten einer Abfindung im Kündigungsfall anstelle des Rechtsweges eingeräumt. Auch das Zuwanderungsgesetz konnte 2005 in Kraft treten, die Optionen für eine systematische arbeitsmarktorientierte Steuerung befristeter und dauerhafter Zuwanderungen waren aufgrund des Widerstandes im Bundesrat weggefallen.
Bilanz und Perspektiven
Reformen wirken nur mit erheblicher Zeitverzögerung. Es ist zu früh, ein abschließendes Urteil über die rot-grüne Reformpolitik zu ziehen. Dies gilt umso mehr, als die bedeutenden Reformen auf dem Arbeitsmarkt noch gar nicht vollständig umgesetzt wurden. Im Rückblick zeigt sich jedoch, dass die rot-grüne Regierung trotz längerer Phasen der Desorientierung grundlegende Reformmaßnahmen durchgesetzt hat.
Zur Makroökonomie und Fiskalpolitik ist festzuhalten, dass die auf das "radikal-keynesianische" Experiment Lafontaines folgende Phase der Haushaltskonsolidierung unter Finanzminister Eichel nur kurzzeitig durchgehalten wurde. Spätestens seit 2002 wurde sie zugunsten größerer Haushaltsdefizite und wachsender Staatsverschuldung aufgegeben. Dies kann als Rückkehr zu einem moderaten Keynesianismus verstanden werden, der flexibel auf konjunkturell bedingte Defizite reagiert. Insoweit war die letzte Phase der Regierungspolitik von angebots- und nachfrageorientierten Politikelementen gekennzeichnet. Bemerkenswert sind die deutlichen Entlastungen bei der Einkommensteuer und die Systemreform bei der Besteuerung von Kapitalgesellschaften. Angesichts des internationalen Wettbewerbs werden weitere Reformen der Unternehmensbesteuerung erforderlich sein. Ebenso steht eine Vereinfachung des Steuersystems noch aus wie eine Neuordnung der Gemeindefinanzen und ein weiterer Subventionsabbau.
Bei den sozialen Sicherungssystemen fällt die strukturelle Reform der Rentenversicherung ins Gewicht, die die private und betriebliche Vorsorge deutlich gestärkt hat. In der Gesundheitspolitik wurde versucht, die Kostenentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung zu begrenzen. Strukturelle Änderungen im Versicherungssystem und mehr Wettbewerb auf der Seite der Leistungserbringer konnten nicht realisiert werden. Entsprechende Reformen stehen noch aus. Folglich konnten die Sozialbeiträge trotz der Einnahmen aus der Ökosteuer nicht gesenkt, sondern lediglich stabilisiert werden.
In der Arbeitsmarktpolitik wurden mit den Hartz-Reformen konsequente Schritte zur Aktivierung von Arbeitslosen und erwerbsfähigen Hilfebeziehern eingeleitet. Es konnten alte Strukturen aufgebrochen, die Rolle der Sozialpartner begrenzt und eine wirkungsorientierte Steuerung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen eingeführt werden. Auch wurde erstmals eine umfassende wissenschaftliche Evaluation der Arbeitsmarktpolitik begonnen, deren Ergebnisse nun abgewartet werden sollten. Ungeklärt blieb, wie gering qualifizierte Personen besser als bislang in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Nach wie vor fehlt es an ausreichenden Anreizen, das Transfersystem dauerhaft zu verlassen und eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen.
Die Marktöffnung verlief widersprüchlich. Zunächst wurden zusätzliche Beschränkungen eingeführt bzw. wiederhergestellt. In der zweiten Hälfte der Regierungszeit wurde eine Wende zugunsten einer stärkeren Marktöffnung vollzogen. Eine systematisch gesteuerte Arbeitsmigration scheiterte am Bundesrat. Gesetzliche Änderungen bei den Rahmenbedingungen für die Lohn- und Tarifpolitik unterblieben. Gleichwohl lässt sich eine zunehmende Flexibilität innerhalb der Tarifverträge, eine abnehmende Bedeutung der Tarifverträge für die betriebliche Gestaltung und eine moderate Lohnpolitik beobachten. Dies vollzog sich in einer Phase verschärften internationalen Wettbewerbs ohne unmittelbares Einwirken der Politik.
Die Reformen der rot-grünen Bundesregierung haben in vielen Bereichen langfristig bedeutsame Veränderungen eingeleitet:
Reformen in Richtung Grundsicherung durch die Abkehr von der Lebensstandardsicherung in der Rentenversicherung und der einkommensbezogenen Arbeitslosenhilfe;
die zunehmende Steuerfinanzierung sozialer Sicherheit bei gleichzeitiger Stärkung der privaten und betrieblichen Vorsorge;
die grundlegende Reform der Arbeitsmarktpolitik mit einer konsequenteren Aktivierung der Langzeitarbeitslosen;
die Marktöffnung bei der selbstständigen Erwerbstätigkeit, die Liberalisierung der Zeitarbeit sowie die Modernisierung des Zuwanderungsrechts und
die Begrenzung des Einflusses der Verbände.
Gleichwohl wurden über die gesamte Regierungszeit hinweg Strategiedefizite deutlich. Konsequentere Reformen zu Beginn wären heute bereits sichtbar und leichter vermittelbar gewesen. Im Bündnis für Arbeit hätte die Bundesregierung Paketlösungen mit Zugeständnissen der Arbeitgeber und der Gewerkschaften anstreben müssen. Bei den strukturellen Eingriffen durch die Agenda 2010 und "Hartz IV" unterliefen ihr gravierende Fehler in der Kommunikation gegenüber der Öffentlichkeit und der Parteibasis, was die Begründung der Reformen und ihre zu erwartenden Effekte anging.
Das Fehlen einer konsistenten Strategie ist nicht allein ein Mangel der rot-grünen Regierung. Längerfristig angelegtes Handeln ist angesichts eines dauerhaften Wahlkampfes, eines von der Opposition beherrschten Bundesrates sowie einer unzufriedenen Parteibasis und Öffentlichkeit nur schwer durchzuhalten. Wichtig ist deshalb eine Reform des Föderalismus durch eine zeitliche Konzentration der Landtagswahlen und eine klarere Trennung von Entscheidungskompetenzen und Finanzquellen zwischen Bundes- und Länderebene.
Jede neue Bundesregierung wird jedoch an der Politik von Rot-Grün anknüpfen müssen: notwendig sind weitere Schritte bei der Marktöffnung, eine Überprüfung und Neujustierung der Arbeitsmarktpolitik, die weitere Abkopplung der Finanzierung sozialer Sicherung vom Faktor Arbeit zur Reduzierung der Lohnnebenkosten, die Aktivierung der Transferbezieher, mehr Transparenz im Steuersystem, eine Reduktion der Unternehmenssteuern sowie die Konsolidierung des Staatshaushaltes durch Subventions- und Personalabbau. Die Reformen der vergangenen Jahre haben Blockaden aufgebrochen und Gelegenheiten für weitere Reformen eröffnet, die es jetzt zu nutzen gilt.