Die Nachrichten der vergangenen Monate und Jahre verheißen nichts Gutes. Die Anzahl der funktionalen Analphabeten liegt in Deutschland schon seit einigen Jahren bei etwa 7,5 Millionen.
Lebensstil und Distinktion: "richtig" lesen
"Die guten Leutchen wissen nicht, was es einem für Zeit und Mühe kostet, um lesen zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht und kann noch jetzt nicht sagen, daß ich am Ziele wäre." Als Goethe im Januar 1830 über die Mühe des Lesens sprach, meinte er das verstehende Lesen, das über das reine Informationslesen oder leichte Lesevergnügen hinausgeht. Er hatte eine klare Vorstellung vom "richtigen" Lesen, das den Leser tief in Sinn und Bedeutung der Texte eintauchen lässt.
Die Idee, es gäbe ein "richtiges" Lesen, ist bis heute in der Gesellschaft weit verbreitet: Die Kulturtechnik Lesen ist in der allgemeinen Vorstellung eng mit dem Lesen fiktionaler Literatur in langen Texten und dem Medium Buch verbunden. Die Antwort auf die Frage: "Was passiert, wenn wir das richtige Lesen verlernen?"
Wir lesen allerdings täglich und überall. Wir lesen auf der Straße Hinweisschilder und Busfahrpläne, wir lesen Beipackzettel, Gebrauchsanleitungen und die Boulevardzeitschriften im ärztlichen Wartezimmer oder beim Friseur, wir lesen E-Mails, Whatsapp-Mitteilungen und Tweets. Wir lesen meist flüchtig und schnell und reagieren auf das Gelesene oft prompt, nämlich meist schreibend in der sicheren Gewissheit, damit einen interessierten Leser zu erreichen. Lesen ist ubiquitär, ob rein informative oder unterhaltende Lektüre, ob digitale oder gedruckte Lesemedien. Es wird also heute nicht weniger gelesen als im analogen Zeitalter, sondern eher mehr, denn auch im digitalen Zeitalter werden nicht alle relevanten Medieninhalte durch Bild und Ton verbreitet, sondern schriftlich. Die individuelle Lesekompetenz ist unzweifelhaft nach wie vor eine Grundvoraussetzung, um überhaupt an gesellschaftlicher Kommunikation teilzunehmen, und sie ist das Fundament einer umfassenderen Medienkompetenz, die zum Verstehen komplexer Inhalte und für kritisches Urteilsvermögen erforderlich ist. Selbst die voranschreitenden Fähigkeiten Künstlicher Intelligenz, die uns beispielsweise durch Sprachassistenten den mühsamen Weg schriftlicher Kommunikation bisweilen abnehmen, sind bisher ohne schriftbasierte Kompetenzen nicht denkbar.
Dem schnellen Lesen von Kurznachrichten steht das vertiefte Bücherlesen gegenüber. Und das scheint gesamtgesellschaftlich gesehen immer weniger praktiziert zu werden. In allen Feuilletons der überregionalen Tageszeitungen wurde im vergangenen Frühherbst höchst besorgt über die vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels beauftragte GfK-Studie "Buchkäufer – quo vadis?" vom Juni 2018 berichtet, die den Deutschen eine stark rückläufige Nachfrage nach Büchern attestierte.
Die empirischen Erhebungen stehen im Gegensatz zu den buchbegeisterten Usern von Social-Media-Plattformen, die sich als "richtige" Leser inszenieren. Dort wird vertieftes Lesen gedruckter Bücher oft mit sinnlichem Genuss assoziiert.
Damit greift man auf den Social-Media-Plattformen bürgerliche Lebensstile auf, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts hat wie in keinem Jahrhundert zuvor den Leseakt mit sozialen Normen und Werten belegt, die weit über die dominierenden Lesefunktionen Information, Unterhaltung, Bildung hinausgehen: Die Wahl des Lektürestoffs entschied maßgeblich über die soziale Anerkennung des Einzelnen. Das Ende des 18. Jahrhunderts als sozialer Stand etablierte Bürgertum wurde somit zur maßgebenden Kontroll- und Lenkungsinstanz der kulturellen Praktiken und damit auch der Kulturtechnik Lesen. Das kulturdominierende Bildungsbürgertum las fortan zur sozialen Distinktion. Entsprechend sind die Wertzuschreibungen an das Lesen sozial aufgeladen. Lesen wurde im Bürgertum habituell, und Lesepraktiken wie auch die Institution der privaten Hausbibliothek wurden zum Ausdruck des Lebensstils – wie Instagram zeigt, bis heute.
So wurde spätestens mit Anbruch der Moderne Lesen zu einer sozialen Norm. Das Buch wurde im 19. Jahrhundert im gehobenen bürgerlichen Milieu erstmals kunstästhetisches Leitmedium, das einerseits der individuellen Geschmacksbildung diente, andererseits aber auch Instrument der Selbstvergewisserung einer ganzen sozialen Gruppe war.
Tradierte Funktionen und Leistungen des Lesens
Der Kulturtechnik Lesen werden heute noch viele Werte zugeschrieben,
In der christlichen Tradition des Mittelalters war die Kontemplation ein wesentlicher Effekt des klerikalen Lesens. Auch in Laienkreisen spielte die religiöse Erbauung als eine Funktion des Lesens eine Hauptrolle, wenn auch die Predigt und mündliche Unterweisung in moralischen Fragen weiterhin dominant blieb. Im 12. und 13. Jahrhundert wurde das Lesen von Büchern zur Grundlage geistiger Arbeit der Gelehrten; daneben wurde Lesefähigkeit in kaufmännischen Kontexten professionell erforderlich. Nach Einführung des Buchdrucks mit beweglichen Bleitypen durch Johannes Gutenberg und dem Anwachsen großer Handelszentren, die allesamt zu Standorten großer Medienunternehmen avancierten, wurde nicht nur die allgemeine Lesefähigkeit in den Städten beflügelt. Auch eine neue Funktion des Lesens kam hinzu: Lesen hatte nun nicht mehr nur eine allgemeine Erbauungs- und Bildungsfunktion, sondern diente der säkularen Berufsausübung, machte sie überhaupt erst möglich. Funktional war der Leseprozess nun neben liturgischen, gelehrten oder administrativen Zwecken vor allem auf kaufmännische Ziele gerichtet. Während die Funktionseliten aus Staat, Verwaltung, Wirtschaft und anderen gesellschaftlichen Teilsystemen wie der Kirche in erster Linie aus professionellen Gründen lesen mussten, griff das wohlhabendere Bürgertum in den Städten nach der Erfindung des Buchdrucks vor allem zu Ratgeberliteratur und religiösen Erbauungsschriften, bisweilen auch zu erzählender Literatur.
Ein wesentliches Motiv in der Frühen Neuzeit, zum Buch zu greifen, war die Bewältigung des lebensweltlichen Alltags. Während die deutschsprachige Fachprosa des Mittelalters noch das Ziel verfolgt hatte, Wissensbestände für individuelle, nämlich gedächtnisentlastende Zwecke zu erhalten, ging es im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert stärker darum, Wissen an ein Laienpublikum zu vermitteln. Die zahlreichen volksmedizinischen Schriften, die Kräuterbücher und die Kochbücher, die als thematische Schnittmenge die Gesundheit des Menschen aufweisen, zeigen beispielhaft, wie sich die Funktion des Lesens vom individuellen Nutzen weiterentwickelt hat hin zu einer Standardisierung des gesellschaftlichen Wissens über prophylaktische und therapeutische Maßnahmen im Krankheitsfall. Solche Lesestoffe für existenzielle Situationen und alltagsweltliche Herausforderungen erweiterten den Kanon der Lesefunktionen um eine weitere Facette, die bis heute Bestand hat: Die Buchhandlungen sind mit vielen Regalmetern Ratgeberliteratur gefüllt, die zu sämtlichen alltagsrelevanten Themen eine breite Palette von Titeln offerieren.
Mit dem Aufkommen der periodischen Zeitungen zu Anfang des 17. Jahrhunderts erhält das Lesen eine neue soziale Dimension, und zwar die der Partizipation am gesellschaftlichen Leben. Die Zeitungslektüre diente anfangs zur reinen Information, in politisch brisanten Zeiten ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert, vor allem aber im 19. Jahrhundert auch zur öffentlichen Meinungsbildung und politischen Partizipation des bürgerlichen Publikums. Der Literaturwissenschaftler Werner Graf beschreibt Partizipation als einen (individuellen) Lesemodus, der sowohl "die aktualitätsbezogene Zeitungs- und Zeitschriftenlektüre als literarische Teilnahme am öffentlichen Diskurs"
Allerdings erfährt das Lesen in der Spätaufklärung noch eine weitere erhebliche und folgenreiche Funktionserweiterung: Auf der individuellen Ebene diente Lesen zwar einerseits der moralischen Unterweisung, andererseits bald aber auch der reinen Unterhaltung und Zerstreuung ohne Bildungsanspruch. Bestimmte Formen des Lesens wurden sogar zur Modeerscheinung, zum Beispiel das Lesen im Freien. Dieses einsame Lesen zur Unterhaltung, sei es in der Natur oder zurückgezogen im Haus, war ein Leseerlebnis ohne soziale Kontrolle und damit gesellschaftlich suspekt. Insbesondere die weit verbreitete Romanlektüre wurde in scharf formulierten Wertungen als negativ beurteilt. Sie galt als schädlich, weil eskapistisch. Zeitgenössisch wurde sie als Lesesucht und Lesewut stigmatisiert. Die reine Unterhaltungsfunktion der Lektüre beim Lesen von Romanen wurde dennoch höchst populär. Hier liegen die Wurzeln für die bis heute gängige Auffassung, Lesen bedeute sinnlichen Genuss.
Eine andere Form des Lesens mit dem Ziel der individuellen geistigen Emanzipation war das kollektive Lesen, das den kritischen Diskurs und die Reflexion des Lesestoffs im Austausch mit anderen vorantreiben sollte. Bürgerliche Lesegesellschaften wurden zunächst aus ökonomischen Gründen zur Verbilligung der Lektüre für den einzelnen gegründet. Sie boten aber auch eine Möglichkeit der Partizipation an der politisch-kritischen Öffentlichkeit. Diese temporäre Lesefunktion und -praxis erlebt heute online auf den Social-Media-Plattformen eine Auferstehung, allerdings aktuell meist nicht mit dem Anspruch, einen bürgerlich-kritischen Diskurs zu führen.
Die politische Dimension des Lesens
Auf individueller Ebene war der Leseakt fortan ab dem 19. Jahrhundert auf das literarisch-ästhetische Erleben gerichtet, bis in die Hochkultur der Gegenwart. Auf sozialer Ebene wurde die Herausbildung und Verfestigung einer kollektiven kulturellen Identität beziehungsweise kulturellen Gedächtnisses angestrebt. Im deutschen Sprachraum wird dies durch die sozialen und politischen Konstellationen ab dem 19. Jahrhundert erklärbar. Neben die ästhetischen und sozialen Funktionen des Lesens trat die Vorstellung, Lesen und Lesestoffe konstituierten eine nationale Identität.
Auch die politische Dimension des Lesens ist bis in die Gegenwart ein Thema. Angesichts von Fake News und den Möglichkeiten digitaler Massenmanipulation ist das kritische Urteilsvermögen des Individuums ein hohes Gut. Dem Lesen werden "idealtypisch meist erwünschte politische Implikationen zugeschrieben und konsonant dazu das Medium Buch und die Lesekultur als unverzichtbare Voraussetzung demokratischer Gesellschaften betrachtet", konstatiert der Schweizer Medienwissenschaftler Heinz Bonfadelli.
Daraus resultiert nach Bonfadelli, dass Print-Medien wie auch Online-Medien gleichermaßen der Information dienen, die Integrationsfunktion und politische Partizipation beim Lesen von Büchern aber einer Fragmentierung von Wissen und Themen in den Online-Medien gegenübersteht. Die politische (Online-)Partizipation, so Bonfadelli, bringe eine verstärkte Individualisierung hervor, womit die Gefahr der gesellschaftlichen Fragmentierung steige.
Nicht nur für die postmodernen Industriegesellschaften der westlichen Welt gelten diese Charakteristika. Die Fähigkeit der souveränen Buchnutzung und eine hohe Lesekompetenz werden weltweit als Grundvoraussetzungen für individuelle Freiheit und kollektiven Frieden angesehen, was zum Beispiel der UNESCO jahrzehntelang als Handlungsmotiv für ihre Fördermaßnahmen in Entwicklungsländern gedient hat.
Lesen in der Kommunikationsgesellschaft
In unserer Gesellschaft ist Kommunikation ein zentraler Wert. Dementsprechend ist Anschlusskommunikation – der Austausch über die rezipierten Inhalte – eine wesentliche Dimension der Mediennutzung, die ein impulsgebender Reflex im Leseprozess ist und die Aneignung des Gelesenen unterstützt:
Dem steht ein neuer Trend entgegen: "Slow Reading". Langsames, intensives Lesen ist ein Phänomen, das aus Neuseeland und den USA, insbesondere US-amerikanischen Colleges und Universitäten, als neue Lesepraktik nach Europa exportiert wird. Man kann es als Reaktion auf die seit Jahrzehnten existierenden Überlegungen und Tipps zur Beschleunigung des Lesetempos bei gleichzeitig effizienter Erfassung komplexer Texte verstehen, man kann es aber auch als Reaktion auf das häppchenweise, oberflächliche und eher flüchtige Lesen verstehen, das bei der Nutzung von Online-Medien geradezu unvermeidlich scheint. Grundsätzlich geht es beim Slow Reading in erster Linie um das intensive, konzentrierte und entsprechend langsame Lesen literarischer Texte und ihr Verstehen.
Je nach Lesemodus kann Lesen heute also einen unterschiedlich hohen Integrationsgrad besitzen. Hoch ist das soziale Integrationspotenzial, wenn Lesen erstens Ausdruck des Lebensstils ist und zum Habitus gehört oder zweitens ein Mittel zur Herausbildung der kulturellen und politischen Identität ist oder drittens der Partizipation am literarischen und politischen Diskurs dient. Eher gering ist sein soziales Integrationspotenzial, wenn Lesen lediglich kognitives Hilfsmittel ist, wenn es rein der Bewältigung des lebensweltlichen Alltags dient oder in erster Linie aus professioneller Erfordernis gelesen wird.
Fazit
Im Vergleich mit anderen (audiovisuellen) Medien wird den schriftbasierten Medien wie dem Buch die Förderung der genannten Eigenschaften in der Persönlichkeitsbildung zuerkannt: Eigeninitiative statt passiver Konsum, umfassende Information statt punktuelle. Unterstützung in der Herausbildung seiner Persönlichkeit findet der Leser im Buch, denn Lesen ist probates "Mittel der Welterfahrung"