Einleitung
Aussiedler kommen seit den frühen fünfziger Jahren in die Bundesrepublik. Mittlerweile leben über vier Millionen in Deutschland. In den ersten Jahrzehnten war der Zuzug wenig problematisch.
Dies änderte sich mit dem Fall des "Eisernen Vorhangs" - nicht nur, weil die Zuwanderungszahlen rapide anstiegen (allein seit 1990 kamen über zwei Millionen Menschen nach Deutschland, vor allem Russlanddeutsche), sondern auch, weil die Bundesrepublik seit der Wiedervereinigung mit (staats-) wirtschaftlichen Engpässen konfrontiert ist und die Integrationsmaßnahmen für Spätaussiedler immer weiter gekürzt wurden.
Da gleichzeitig immer mehr Personen ohne deutsche Sprachkenntnisse in das vereinigte Deutschland kamen, verschlechterten sich die Integrationschancen der "Neubürger" erheblich.
Junge Aussiedler in der Straßenkultur
Unter Straßenkultur wird ein spezifisches soziales Regelwerk verstanden, das gerade im Arbeiter- und Unterschichtsmilieu entstanden ist und vermittelt wird. Es sieht im Kern vor, dass Streitigkeiten informell gelöst werden. Von polizeilichen Anzeigen wird nicht bloß abgesehen, sie stoßen vielmehr auf erhebliche Ablehnung. Hingegen sieht es die männliche Ehre vor, dass man(n) sich selbst und sein soziales Umfeld sowohl bei Beleidigungen als auch tätlichen Angriffen verteidigen kann. Weicht man(n) Konflikten aus, gilt das als feige und unmännlich, was für den Betreffenden Sanktionen bis hin zum Ausschluss aus dem Freundeskreis nach sich ziehen kann.
Die Reputation des Individuums ist somit von entscheidender Bedeutung. Da im Milieu der Straße dem Einzelnen meist nur wenige Möglichkeiten zur Verfügung stehen, soziale Anerkennung zu erlangen, haben Gewalt und Kriminalität oft rein funktionalen Charakter: Schlägereien dienen dazu, Prestige zu erlangen, aber auch um Langeweile zu vertreiben. Zudem können Diebstähle dazu beitragen, die eigene prekäre, finanzielle Lage zu verbessern.
In zwei aktuellen Forschungsarbeiten wurde die Straßenkultur der Spätaussiedler erstmals untersucht.
Die Provokateure instrumentalisieren das Regelwerk der Straßenkultur, indem sie die "Ehre" Dritter bewusst in Frage stellen und bereits auf vermeintliche Beleidigungen der eigenen Ehre - wie "schiefe" Blicke - reagieren. Solidarität wird eingefordert, ein geringes Interesse des Einzelnen an körperlicher Gewalt wäre ein Ausschlusskriterium, das heißt man hat sich an den Kämpfen der Clique zu beteiligen. Dieser Zusammenhalt steht nicht in Widerspruch zu gruppeninternen Rangordnungskämpfen, die der Etablierung und Aufrechterhaltung von Hierarchien dienen können. Für solche Auseinandersetzungen gibt es gruppeninterne Fairnessregeln, um einzuschreiten, wenn einer der Beteiligten zu weit zu gehen droht. Die Inanspruchnahme der Polizei bei Körperverletzungen wird von Provokateuren abgelehnt und als Zeichen von Schwäche empfunden.
Die Verteidiger unterscheiden sich von Erstgenannten in einigen wesentlichen Punkten. Sie lehnen hierarchische Strukturen generell ab. Streitigkeiten werden nicht gezielt hervorgerufen, ihnen wird aber auch nicht ausgewichen und auf Provokationen wird reagiert. Körperliche Gewalt wird also nicht nur zur Selbstverteidigung eingesetzt. Dennoch kann es akzeptiert werden, sich aus einer Schlägerei herauszuhalten. Der Einzelne darf damit aber weder die Freunde gefährden noch in den Ruf geraten, aus Feigheit Konflikten auszuweichen.
Einen besonderen Typus stellen die Daueropfer dar, die oftmals keiner Clique zuzuordnen sind, da sie kaum Freunde haben. Ihr Verhalten unterliegt daher nicht dem Gruppendruck, in Konflikten Stärke und Männlichkeit demonstrieren zu müssen. Sie befinden sich jedoch unter der sozialen Kontrolle ihrer "Peiniger", von denen sie zu Dienstleistungen und Geldzahlungen gezwungen werden. Sie akzeptieren die Regeln der Straßenkultur, vor allem wenden auch sie sich nicht an die Polizei. Das beruht jedoch anders als bei den Provokateuren und den Verteidigern nicht auf der Angst, bei einem Zuwiderhandeln den Freundeskreis zu verlieren, sondern auf der Furcht vor weiteren Repressalien.
Die Ablehner wenden im Gegensatz zu den Verteidigern keine körperliche Gewalt an, sobald sie provoziert werden, sie wehren sich allenfalls, wenn sie tätlich angegriffen werden. Sie meiden zudem Gewaltorte wie so genannte "Russendiskos" mit negativem Ruf. Ferner versuchen sie, in Konflikten zu schlichten. Diese Verhaltensweisen sind für sie keine Schwäche, sondern ein Zeichen von Stärke und Intelligenz, da sie die Straßenkultur konsequent ablehnen. Hierzu zählt auch, dass sie Körperverletzungen bei der Polizei anzeigen. Das macht diesen Personenkreis im Vergleich zu den Daueropfern zu "unattraktiveren" Gegnern und schützt sie weitgehend vor Übergriffen.
Ein weiterer Typus sind die Herausgewachsenen. Obwohl die Betreffenden im sozialen Umfeld ihres früheren Freundeskreises weiterhin die jeweiligen subkulturellen Normen respektieren, werden sie kaum als Teil der Gewaltprozesse angesehen. Kennzeichnend für ihren Wandel ist der Übergang in einen anderen Lebenszusammenhang; meist durch eine feste Partnerbeziehung oder eine Ehe. Sie sehen sich gegebenenfalls in der Verantwortung, ihre Partnerin zu beschützen. Da sie jedoch selbst an Gewaltorten kaum provoziert werden, besteht ihre Rolle weniger in der des Beschützers, sondern vielmehr in der des Ernährers. Dies erfordert eine materielle Grundlage. Deshalb führen feste Partnerbeziehungen im Jugendalter, wo man über kein ausreichendes Einkommen verfügt, längst noch nicht zu einem Sinneswandel.
Die Zusammenschlüsse der Aussiedler kennzeichnet erhebliche Solidarität, sodass die jungen Männer nur in Ausnahmefällen den Freundeskreis wechseln. In diesem Punkt unterscheiden sie sich deutlich von den Aussiedlerinnen, die im Laufe der Jugend nicht selten verschiedenen Cliquen angehören. Dazu kommt es unter anderem durch Ausschluss, wenn sie das Verhalten der Männer wiederholt kritisieren und Partnerschaften mit männlichen Gruppenmitgliedern enden. Deshalb werden innerhalb der Aussiedlercliquen auch allein die Männer als relevante Instanz der Wertschätzung und Beurteilung des Maskulinen erachtet. Nur diese verstünden, wie man sich bei Konflikten zu verhalten habe, sodass Auseinandersetzungen nach Möglichkeit nicht im Beisein von Frauen ausgetragen werden.
Gegenseitige Wahrnehmung von Polizei und Aussiedlern
Das Bild von den in Deutschland lebenden Aussiedlern ist meist durch Vorurteile geprägt. Hierzu gehört der "gewalttätige junge Russlanddeutsche" ebenso wie der "polnische Autodieb" und der "rumänische Wohnungseinbrecher". Dabei handelt es sich nicht zuletzt um mediale Konstruktionen, manchmal aber auch um Ereignisse, die wir in Alltagssituationen mit Aussiedlern persönlich erlebt haben. Problematisch ist jedoch, dass negative Verhaltensweisen von Angehörigen ethnischer Minderheiten und sozialer Randgruppen meist als persönlichkeitsspezifische Defizite betrachtet, positive dagegen auf situationsspezifische Ursachen zurückgeführt werden.
Stereotype lassen kaum Raum für Differenzierungen und bergen die Gefahr in sich, mit dem eigentlichen Stigma weitere negative Eigenschaften zu verbinden. Der damit verbundene Prozess der Stigmatisierung hat wiederum häufig den sozialen Rückzug der Betroffenen zur Folge. Damit wird nicht nur eine strukturelle Assimilation als Voraussetzung für eine gelingende Integration über die Teilhabe am Arbeits-, Wohnungs- und Heiratsmarkt verhindert. Vielmehr macht es dieser Schutzraum für Mitglieder bestimmter Minderheiten besonders schwierig, sich zu lösen und auf eigenen Beinen zu stehen - besonders dann, wenn wie bei vielen jungen Aussiedlern Sprachkenntnisse fehlen, Verschlossenheit und Misstrauen gegenüber der Polizei vorherrschen sowie ein importiertes Ehrverständnis handlungsleitend ist.
Das Rückzugsverhalten beruht also selten allein auf einem Desinteresse der Aussiedler an gesellschaftlicher Teilhabe, sondern hat mit dem Gegensatz von Ethnizität und Ethnisierung zu tun. Während Ethnizität "selbstintendiertes Anderssein" meint, verweist Ethnisierung auf ein "fremdintendiertes Anderssein".
Hinzu kommt die so genannte Armutskriminalität, mit der es die Polizei täglich zu tun hat. Auch die Menschen in den Randzonen unserer Städte wollen am Wohlstand partizipieren, die legalen Wege hierzu bleiben ihnen jedoch meist verschlossen. Oft weichen sie deshalb aus in die Illegalität, wie den Handel mit Drogen und die Hehlerei. Es verwundert daher nicht, dass Ausgrenzung in Form von Segregation nicht nur abweichendes Verhalten, sondern auch negative Einstellungen bei Polizeibeamten gegenüber Aussiedlern fördert.
Die Polizei ist insofern ein Spiegelbild der Gesamtgesellschaft, als Stereotype über Aussiedler auch in der Polizeikultur verbreitet sind. So äußerten im Rahmen einer Beamtenbefragung 56,9 Prozent die Meinung, dass die Aussiedler an einer Integration in unsere Gesellschaft gar nicht interessiert seien und jeder zweite Befragte meinte, es sei kein Vorurteil, dass die meisten Aussiedler nur deshalb nach Deutschland kämen, weil sie glaubten, hier läge das Geld auf der Straße.
Die polizeilich konstruierte Wirklichkeit stellt eine Mischung aus besagten Vorurteilen und realen Alltagserfahrungen dar, die sich wiederum gegenseitig bedingen. Auf diese Weise bedienen die im Einsatz gemachten Erfahrungen gängige Stereotype, auf der anderen Seite bestimmen Stereotypen das polizeiliche Handeln. Beispielsweise konnten sich von den Aussiedlern, deren Begegnungen mit Zivilbeamten eines Einsatztrupps zur Bekämpfung der Straßenkriminalität im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung detailliert in Feldprotokollen festgehalten wurden, 41,9 Prozent nicht ausweisen. Dies war für die Beamten mit Mehrarbeit verbunden, weil sich die Personenüberprüfung und die Identifikation von Tatverdächtigen wesentlich zeitintensiver gestaltete. Darüber hinaus waren 54,3 Prozent der im Einsatzgeschehen angetroffenen Aussiedler polizeilich bekannt und 25,6 Prozent standen sichtbar unter Alkohol- bzw. Betäubungsmitteleinfluss, ein Umstand, der zur Eskalation von Einsätzen und somit zur Gefährdung der Beamten beitragen kann. Hinzu kommt, dass - glaubt man der polizeilichen Kriminalstatistik - insbesondere junge Aussiedler überdurchschnittlich häufig durch Straftaten, insbesondere Gewaltdelikte auffallen. So betrug im Jahr 2004 in Nordrhein-Westfalen der Anteil der Tatverdächtigen unter 21 Jahren an allen Tatverdächtigen bei den Spätaussiedlern 41 Prozent, bei den Deutschen und Nichtdeutschen dagegen nur 29,4 Prozent bzw. 25,8 Prozent.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Aussiedler im Brennpunkt polizeilichen Interesses stehen. Hier gilt es allerdings zu differenzieren, denn die verstärkte Kontrolle orientiert sich nicht an Aussiedlern allgemein; das polizeiliche Interesse zielt vielmehr auf junge Aussiedler und "reisende Täter" aus Osteuropa ab, mit denen viele Polizeibeamte ein erhöhtes Kriminalitäts- und Gewaltpotenzial verbinden. Insbesondere polizeiliche Organisationseinheiten wie der oben beschriebene Einsatztrupp zur Bekämpfung der Straßenkriminalität haben verstärkt Jugendliche und Heranwachsende im Visier. So waren 61,9 Prozent der von den Beamten überprüften Aussiedler unter 21 Jahre alt, wobei es sich bei den Einsätzen in der Regel um eigeninitiierte Personenkontrollen gehandelt hat. Dies führt zu Unmut unter den Jugendlichen, sobald ihre Treffen im öffentlichen Raum immer wieder Personenkontrollen hervorrufen. Gleichzeitig leistet es einem Gefühl staatlicher Willkür und der Benachteiligung auf Grund eines marginalisierten gesellschaftlichen Status Vorschub.
Aus der Sicht des Normdurchsetzers ist eine verstärkte Kontrolle dieser Bevölkerungsgruppe jedoch "natürlich", verspricht sie doch polizeilichen Erfolg. So fördert die polizeiinterne Sozialisation und die Struktur der Polizei Vorurteile und Stereotype, wodurch unter anderem "Ethnizität als gesellschaftliche Klassifizierungskategorie in die Selektionsentscheidungen einer Organisation" einfließt.
Feldnotiz:
Zwei Zivilbeamte kontrollieren während der Nachtschicht einen Kleinbus mit polnischem Kennzeichen, der besetzt ist mit acht männlichen und einer weiblichen Person. Der Fahrer gibt auf die Nachfrage der Beamten an, man sei auf den Weg nach Belgien. Während der eine Beamte über Funk die Personalien und das Kennzeichen überprüft, nutzt sein Kollege die Zeit, einen Blick in das Innere des Fahrzeugs zu werfen, wobei ihm nichts Ungewöhnliches auffällt. Der Kofferraum ist voll mit Reisetaschen, in denen sich Kleidungsstücke und persönliche Gegenstände der Fahrzeuginsassen befinden. Nachdem der Beamte die Durchsuchung beendet hat, stellt er sich an den Straßenrand und wartet auf das Ergebnis der Personenüberprüfung, mit der sein Kollege noch beschäftigt ist. Der Fahrer des polnischen Kleinbusses, der mittlerweile ausgestiegen ist, nutzt die Zeit und bittet den Beamten, sich auszuweisen, da seines Wissens nach in Belgien häufig Kriminelle sich als Polizeibeamte ausgeben würden und er nur sichergehen wolle, dass er es auch mit "richtigen" Polizisten zu tun habe (Anmerkung: Die Beamten hatten das Fahrzeug mit einer Kelle zum Anhalten aufgefordert, sich jedoch nicht ausgewiesen). Der Beamte, angesichts dieser Bitte vollkommen konsterniert, holt seinen Ausweis mit den Worten hervor: "Wir sind hier in Deutschland und nicht in Polen. Hier geht alles noch korrekt zu!"
Quelle: Aus dem Feldtagebuch von Thomas Schweer, das im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung operativer Kräfte der Polizei entstanden ist.
In unserem konkreten Fall waren die Schlüsselreize das polnische Kennzeichen sowie der mit mehreren Personen besetzte Kleinbus, der in besagter Nacht durch einen Schutzbereich der Beamten fuhr, in dem häufig Autos aufgebrochen wurden. Nicht der Migrantenstatus war somit das entscheidende Kriterium, sondern die Verkettung personen- und situationsspezifischer Merkmale. Das bedeutet aber auch, dass polizeiliche Selektionsmechanismen eben nicht willkürlich sind, vor allem, wenn man sich vor Augen hält, dass die Beamten bei ihren Durchsuchungen von aus ihrer Sicht verdächtigen Personen und Fahrzeugen häufig auf Einbruchswerkzeuge stoßen, die Hinweise darauf geben, dass die Kontrollierten in Begriff waren, eine Straftat zu begehen. Da es aber nicht verboten ist, mit Schraubenziehern, Brecheisen und Zündkerzen
Die Alltagsroutine der Polizisten reproduziert soziale Ungleichheit, und diese spiegelt sich auch in polizeilichen Handlungsmustern wider. Dies ist jedoch kein polizeispezifisches Phänomen. Diskriminierende Behandlung von Menschen, die sich am unteren Ende der sozialen Leiter befinden, ist in allen Teilen unserer Gesellschaft anzutreffen. Hierin zeigt sich nicht nur die Verunsicherung vieler Menschen im Zuge gesellschaftlicher Transformationsprozesse, sondern auch die Angst, bei der Verteilung immer knapper werdender Ressourcen als Verlierer dazustehen. Armut wird nicht mehr als Folge einer verfehlten Sozialpolitik begriffen, sondern als individuelles Defizit.
Verstärkt wird diese Tendenz dadurch, dass die Polizei als Institution häufig als "Werkschutz" von der Stadt und privaten Geschäftsleuten instrumentalisiert wird.
Vorbehalte finden sich jedoch auch beim polizeilichen Gegenüber. Viele in Deutschland lebende Aussiedler begegnen der hiesigen Polizei mit Misstrauen, was eine Befragung zum Verhältnis von Polizeibeamten und Aussiedlern mehr als deutlich machte.
Insbesondere junge Aussiedler kommen, wie gesagt, häufig in Kontakt mit der Polizei. Zum einen sieht es die hiesige polizeiliche Ermittlungsarbeit vor, junge Leute häufiger zu kontrollieren. Zum anderen wird das Verhalten von Pubertierenden schon seit jeher als auffällig wahrgenommen. Verstärkend kommt hinzu, dass die jungen Aussiedler wegen der räumlichen Enge zuhause und der fehlenden Freizeitangebote in ihrem Stadtviertel, aber auch auf Grund ihres soziokulturellen Backgrounds viel Zeit auf der Straße verbringen. Das allein wird von den Einheimischen schon als fremd und bedrohlich empfunden und ruft Ängste hervor. Die Jugendlichen müssen sich gar nicht erst abweichend verhalten, um sowohl bei den Anwohnern als auch bei der Polizei Argwohn hervorzurufen.
Bei der Betrachtung delinquenten Verhaltens junger Aussiedler wird somit ein Bezugsystem konsequent vernachlässigt - die bereits oben dargestellte street culture und street corner society. Jan Koehler beschreibt die Schule der Straße als einen Raum der geduldeten Abweichung, der in vielen Ländern Osteuropas eine wichtige Sozialisationsinstanz gewesen sei.
Präventionsansätze aus der Sicht von Sozialarbeitern
Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um Ergebnisse aus der Dissertation von Steffen Zdun.
Will man der Straßenkultur effektiv begegnen, hilft es nicht, diese aus bürgerlicher Perspektive heraus als gewalttätig zu stigmatisieren und von Heranwachsenden Verhaltensänderungen einzufordern. Die Straßenkultur und ihre Regeln kennzeichnen die Lebenswelt der jungen Menschen, die nicht einfach umzukrempeln ist. Vielmehr scheinen sich gewaltpräventive Konzepte anzubieten, die sich an die jeweiligen Gewalttypen richten.
Am schwierigsten gestaltet sich der Umgang mit den Provokateuren, hat die Gewalt für sie doch die größte Bedeutung, insbesondere als Mittel, um soziale Anerkennung zu erlangen. Ihre Cliquen sind sehr verschlossen und bieten somit Außenstehenden kaum die Möglichkeit zu intervenieren. Gruppenarbeit führt kaum zum Erfolg, Provokateure lassen sich, wenn überhaupt, meist nur auf Einzelgespräche ein.
Dazu ist jedoch Vertrauen nötig, das es durch dauerhafte Maßnahmen aufzubauen gilt. Die Präventionskräfte müssen als Respektspersonen anerkannt werden, da auf Anzeichen von Schwäche ablehnend reagiert würde. Nur als Vorbilder können sie alternative Handlungsweisen vermitteln und dafür sorgen, dass die Heranwachsenden ihr Verhalten reflektieren. Dabei gilt es, die Einhaltung gemeinsam aufgestellter Regeln sowohl positiv als auch negativ zu sanktionieren, denn dies bietet den jungen Menschen Orientierung - viele Jugendliche beklagen, dass ihnen das liberale deutsche Gesellschaftssystem als zu orientierungslos erscheint. Orientierung bedeutet auch, die Gesetze der Bundesrepublik zu verdeutlichen und zwischen den Kulturen zu vermitteln.
Der Umgang mit den Verteidigern gestaltet sich einfacher, da diese gewaltpräventiven Maßnahmen aufgeschlossener gegenüberstehen. Ihr Interesse wird über Projekte geweckt, die ihre jeweiligen Hobbys berücksichtigen und eine Alternative zu einem tristen und rauen Alltag bieten. Aber auch bei ihnen erweist sich Gruppenarbeit zum Thema Gewalt als schwierig. Durch indirekte Fragen sowie die Diskussion abstrakter Beispiele können bei einem dauerhaften Kontakt aber nach und nach Gespräche initiiert werden, die dazu beitragen, das eigene Verhalten zu überdenken. Persönliche Schwierigkeiten lassen sich dennoch am besten in Einzelgesprächen erörtern, da auch Angehörige dieser Gruppe Wert darauf legen, keine Schwächen vor anderen Jugendlichen preiszugeben. Damit wäre ein Ehrverlust verbunden, der ihre soziale Anerkennung gefährden würde.
Die Daueropfer finden wenig Anschluss und wagen es oftmals nicht, Jugendeinrichtungen zu besuchen. Da sie ihre Freizeit weitgehend allein zu Hause verbringen, ist die Schule ein sozialer Raum, in dem sie Unterstützung finden können. Weil diese Personen im Klassenverband leicht zu erkennen sind, wäre es die Aufgabe der Pädagogen und Sozialarbeiter, Kontakte herzustellen. Um Ängsten entgegenzuwirken und schrittweise ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, ist ein empathisches Vorgehen nötig. Dies erfordert ein Bewusstsein dafür, aus welchen Gründen sich die Betroffenen nicht gegen ihre Peiniger zur Wehr setzen. Äußerste Diskretion ist die Voraussetzung, damit sie sich auf Einzelgespräche einlassen. Es bieten sich langfristige Maßnahmen an, die darauf abzielen, das Selbstbewusstsein zu stärken und Anschluss an einen Freundeskreis zu finden. Kurzfristige Erfolge können erzielt werden, wenn sozial anerkannte Personen in die Pflicht genommen werden, die Betreffenden zu "beschützen".
Infolge des spezifischen Gewaltverständnisses der Ablehner bedürfen sie ganz anderer präventiver Maßnahmen. Im Gegensatz zu den übrigen Aussiedlern sind sie in ihren Denk- und Handlungsweisen zu bestärken. Da die Ablehnung von Gewalt zahlreiche Gründe haben kann, gilt es, die jeweiligen Einstellungsmuster der Ablehner zu thematisieren. Hierzu bedarf es ebenfalls eines positiven Vertrauensverhältnisses, das sich bei diesen Gruppierungen aber am leichtesten herstellen lässt. Besteht erst einmal Vertrauen, können gewaltpräventive Botschaften vermittelt werden, die die bisherigen Motive der Gewaltablehnung des Einzelnen ergänzen und stärken. So kann auch das Bewusstsein für das persönliche Auftreten geschärft werden.
Obwohl Gewalt bei den Frauen der Cliquen Russlanddeutscher eine untergeordnete Rolle spielt - es sei denn, sie sind der Auslöser -, sollten auch sie präventiv begleitet werden. Sie haben meist nur geringen Einfluss auf das Gewaltverhalten ihrer Partner, weil diese sich von der Relevanz ihrer Männlichkeitsbilder nicht abbringen lassen. Für die Aussiedlerinnen geht es darum, Möglichkeiten zu eröffnen, aus dem traditionellen Rollenverständnis ihrer Partner auszubrechen, wonach sie deren Besitz und entsprechend zu behandeln sind. Eine solche Förderung ist eine Hilfe zur Selbsthilfe der Frauen. Zu diesem Zweck soll das westliche Rollenverständnis und Geschlechterverhältnis aufgezeigt werden, um alternative Denkweisen zu vermitteln, auf deren Grundlage sie ihre Situation reflektieren können.
In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass die Frauen in der Regel für die Erziehung der Kinder zuständig sind. Mit Blick auf die nächsten Generationen trägt ein verändertes Rollenverständnis der Frauen maßgeblich dazu bei, dass tradierte Geschlechterrollen an Relevanz verlieren, die heute noch der Gewaltkultur Vorschub leisten.
Hingegen trägt der Wandlungsprozess der männlichen Herausgewachsenen nicht dazu bei, dass bisherige Einstellungsmuster zur Gewalt überdacht werden, vielmehr wird nur auf die Anwendung verzichtet. Hinsichtlich tradierter Männlichkeits- und Rollenbilder wird also kein Wandel vollzogen, sodass die Gefahr besteht, dass je nach vorherigem Cliquentyp bestimmte Denkweisen an die kommende Generation weitergegeben werden. Abhängig davon, in welches soziale Umfeld die in Deutschland geborenen Aussiedlerkinder dann hineinwachsen, ist davon auszugehen, dass die Denkmuster der Straßenkultur über Generationen aufrechterhalten werden. Dies gilt besonders in Bezug auf segregiert lebende Russlanddeutsche in den so genannten "Russengettos", deren Integration als mangelhaft zu bezeichnen ist und die auf Grund knapper Ressourcen in Konflikt zu den anderen Bevölkerungsgruppen stehen.