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Ist Vorbeugen besser als Heilen? | Kriminalitätsprävention | bpb.de

Kriminalitätsprävention Editorial Auf dem Weg in die Präventionsgesellschaft? Verknüpfung von Repression und Prävention in Oberhausen Staatlichkeit im Wandel am Beispiel der Kriminalprävention Ist Vorbeugen besser als Heilen? Kriminalpräventive Maßnahmen bei jungen Aussiedlern

Ist Vorbeugen besser als Heilen?

Anja Mensching

/ 16 Minuten zu lesen

Wie riskant ist die Kriminalprävention? Kriminalprävention führt zur Verringerung von Risiken, hat aber zugleich nicht intendierte Folgen. Dieses Problem wird im Beitrag diskutiert.

Einleitung

In vielen unserer Lebensbereiche versuchen wir, Unangenehmes, Verunsicherndes oder gar Bedrohliches zu vermeiden. Wir greifen zum Schirm, wenn wir bei bewölktem Wetter das Haus verlassen, wir verschließen Fenster und Türen, wenn wir in den Urlaub fahren, wir impfen uns, wenn im Zielgebiet unserer Reise gefährliche Krankheitserreger drohen oder wir zerbrechen uns schon als Berufseinsteiger den Kopf darüber, welche finanziellen Reserven wir im Alter gern zum eigenen Verbrauch zur Verfügung hätten. Wir versichern unser Fahrrad - und da sind wir unserem Thema Kriminalprävention schon ganz nah - gegen Diebstahl, auch wenn wir im Fall der Fälledadurch unseren Drahtesel nicht zurückbekommen, aber immerhin werden uns dessen Kosten erstattet.

Kurzum: In diesen und vielen anderen Lebensbereichen - nicht nur, aber eben auch wenn es um Kriminalität geht - sorgen wir für eine ungewisse Zukunft vor. In den letzten Jahren erleben in diesem Sinne auch Konzepte der Kriminalprävention einen starken Aufwind. Wir sehnen uns zunehmend nach Berechenbarkeit und Sicherheit, um nicht durch das abweichende Verhalten anderer in unserer körperlichen Integrität gefährdet zu werden oder unser Hab und Gut bedroht zu sehen. Vor der Sorge steht deshalb die Vorsorge. Wenn letztere intensiv betrieben wird, so glauben wir, müssen wir uns ersterer gar nicht mehr widmen. Wenn wir Risiken mit sicherem Blick erkennen und sie zu bannen versuchen, dann bleiben uns unangenehme Überraschungen erspart. Dies klingt vernünftig und plausibel und appelliert an die oft beschworene Eigenverantwortung des noch viel häufiger bemühten "mündigen Bürgers".

Sicherheitsbedürfnis und Dauermedikation Prävention

Warum sollte man also unser aller Streben nach Vorsorge problematisieren? Wieso lohnt es sich, darüber nachzudenken, welche Sorgen wir uns mit dem Vorsorgen einhandeln? Warum glauben wir eigentlich, Unsicherheiten durch Prävention bewältigen zu können?

Unser Bedürfnis nach Sicherheit vor kriminellem Handeln ist ein unstillbarer Nimmersatt. Wer selbst schon einmal Opfer eines Diebstahls geworden ist, hat Angst, dass ihm dies erneut passieren könnte. Wer bisher eine solche Erfahrung nicht machen musste, den beschleicht das Unbehagen, dass es ihn in Zukunft treffen könnte. Inflationäre und reißerische Medienberichte verstärken diese Angst. Aber auch ganz grundsätzlich ist umfassende Sicherheit ein nicht erreichbarer Zustand. Er lässt sich für den Moment immer nur im Vergleich zu vergangenen oder zukünftigen, gewünschten oder unerwünschten (un-)sicheren Zeiten einschätzen. "Sicherheit gibt es nicht, außer im Moment. Nur Unsicherheit kann als dauerhaft vorgestellt werden." In dem als Selbstbeschreibung allseits gebrauchten Begriff der "Risikogesellschaft" steckt das sensible Bewusstsein, in einer zunehmend unübersichtlichen Welt vielen Unwägbarkeiten ausgesetzt zu sein, die vom Einzelnen nicht mehr antizipiert werden können und denen er trotzdem eigenverantwortlich etwas entgegensetzen soll.

Auf die Beziehung zwischen Risiken und Präventionsmaßnahmen wird im Weiteren noch einzugehen sein. Für den Moment sei festgehalten, dass sich Kriminalprävention offenbar - wenn man den unübersichtlichen Markt kriminalpräventiver Projekte und deren Popularität in Fachkreisen wie in der allgemeinen Bevölkerung überblickt - als Dauermedikation gegen Unsicherheitsgefühle und -erfahrungen bewährt hat. Nur leider verliert - wie bei vielen Medikamenten - auch eine bisher ausreichende Dosis Prävention ihre Wirkung, wenn sie regelmäßig über einen längeren Zeitraum angewandt wurde. Man verlangt nach mehr (Prävention) und muss die Medikation stetig erhöhen oder substanziell verändern, um noch die erwünschte Wirkung zu erlangen. Lassen wir uns also auf die Frage nach den Kosten oder unerwünschten Risiken und Nebenwirkungen der Kriminalprävention ein.

Der Volksmund sagt: Vorbeugen ist besser als Heilen

Welche Maßnahmen, Programme und Projekte können eigentlich als kriminalpräventive gelten? Nach einer allgemein anerkannten Definition umfasst die Kriminalprävention "die Gesamtheit aller staatlichen und privaten Bemühungen, Programme und Maßnahmen, die Kriminalität als gesellschaftliches Phänomen oder als individuelles Ereignis verhüten, mindern oder in ihren Folgen gering halten soll". Zur Konkretisierung dieser weit gefassten Begriffsbestimmung lässt sich noch einmal zwischen der "Verhaltensprävention", die auf die Beeinflussung des Verhaltens von Individuen und Gruppen zielt, und der "Verhältnisprävention", die sich auf die Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen und Rahmenbedingungen bezieht, unterscheiden.

Die meisten Präventionsprojekte lassen sich mit ihrem lokalen oder regionalen Zuschnitt, ihrer spezifischen Delikts-, Opfer- oder Täterorientierung und ihrem geringen zeitlichen, personellen und finanziellen Umfang - und nicht zuletzt wegen der oft beklagten mangelnden theoretischen Fundierung und gesellschaftlichen Einbettung - der ersten Kategorie der Verhaltensprävention zuordnen. Sie beabsichtigen nicht, gesellschaftliche Rahmenbedingungen generell zu verändern, sondern zielen darauf ab, die Handlungsmöglichkeiten von Tätern zu verringern und jene stärkenden, vorbeugenden Verhaltensweisen aller potenziellen Opfer (der community) positiv zu beeinflussen.

Innerhalb dieses bunten Potpourris an (vermeintlich) kriminalpräventiven Maßnahmen finden sich - je nach Kriminalitätsbereich, dem es vorzubeugen gilt - unter anderem freizeitpädagogische Maßnahmen, Informationsveranstaltungen, kulturelle Events, Sportaktivitäten oder intensive Einzelfallbetreuungen. Der Kreativität, einen Bezug herzustellen zwischen der geplanten oder durchgeführten Maßnahme und ihrer positiven Wirkung auf die Entwicklung der Sicherheitslage - bzw. viel eher auf das subjektive Sicherheitsempfinden -, sind keine Grenzen gesetzt.

Um ein paar willkürliche Beispiele herauszugreifen: Warum sollte Mitternachtsfußball gewalttätigen Auseinandersetzungen unter Jugendlichen vorbeugen? Wieso kann ein Bootstrip mit polizeibekannten Jugendlichen künftig vandalistisches Handeln verhindern? Inwiefern kann der Besuch einer polizeilichen Ausstellung zu den negativen Folgen des Drogenkonsums einen Jugendlichen künftig dazu veranlassen, keine Drogen mehr zu nehmen? Oder: Wer sagt uns, dass der Anblick von Todeskreuzen an den Alleen Autofahrer davor bewahrt, in betrunkenem Zustand den Zündschlüssel umzudrehen?

Aufgrund der immensen Vielfalt im "Präventionswarenhaus" lässt sich als kleinster gemeinsamer Nenner der Präventionsprojekte lediglich der Bezug auf den äußerst unbestimmten Begriff der Lebensqualität finden. Um diese zu schützen oder zu verbessern, wird Kriminalprävention aufgrund ihrer inhaltlichen, zeitlichen und zielgruppenbezogenen Entgrenzung als vorverlagerte Interventionsstrategie eingesetzt. Der Begründungszusammenhang lautet dabei: Primäres Ziel ist die Kriminalprävention, die zur Verbesserung der Lebensqualität von Bürgerinnen und Bürgern in ihren Stadtteilen oder Gemeinden beiträgt - und nicht die umgekehrte, aber mindestens genauso plausible Zielrichtung, die Lebensqualität zu steigern, was nebenbei auch Effekte auf kriminelles bzw. kriminalisierbares Handeln haben wird. Mit der kriminalpräventiven Brille lassen sich somit bestimmte Personen oder Gruppen identifizieren, die als kriminell gelten und deswegen zu Adressaten von Präventionsbemühungen werden. Die Fragen nach den Hintergründen für ihr Verhalten oder den ihnen zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen werden dabei jedoch zumeist vernachlässigt.

Auf kriminelles Handeln soll im Sinne der Präventionslogik nicht mehr reagiert, sondern im Vorhinein dagegen interveniert werden. Dies entpuppt sich als paradoxer Auftrag: Intervention gegen ein potenziell zukünftiges Verhalten, das eventuell auch ohne diese Abwehrbemühung nie eintreten wird. Hier deutet sich ein wesentliches Konfliktfeld an, denn die Frage, wie weit diese Vorverlagerung reichen darf, was im Namen des Vorbeugens noch erlaubt sei bzw. aufgrund des Schutzes persönlicher Rechte und individueller Handlungsspielräume zu weit gehen würde, bietet Zündstoff für Diskussionen.

Prävention zielt immer auf ein Bild davon, wie sich die Zukunft entwickeln sollte, das heißt auf ein spezifisches Bild von Normalität. Aber: Wer kann schon sagen, was künftig als normal gelten wird? Lehren uns unsere eigenen Erfahrungen nicht viel eher, dass es normal - im Sinne von üblich, immer wieder vorkommend - geworden ist, dass mein Fahrrad entwendet oder bei Abwesenheit in meine Wohnung eingebrochen werden kann? Dieser Gedanke soll keineswegs eigene Vorkehrungen vor derartigen Ereignissen als generell absurd und überflüssig beurteilen, sondern nur darauf hinweisen, dass es (zumindest) der bundesdeutsche Großstädter gewohnt sein mag, derartige Ereignisse als wahrscheinlich oder sogar normal in seinen Lebensentwurf zu integrieren.

Weil Prävention immer die Definition dessen voraussetzt, was als zu Vermeidendes, Störendes oder Abzuwendendes gilt, rücken die den kriminalpräventiven Projekten zu Grunde liegenden normativen Vorstellungen (Normalitätsfiktionen) in den Blickpunkt. Kriminalpräventionsarbeit kann - überspitzt formuliert - auf dieser Basis als Abfallprodukt unseres strafrechtlichen Sanktionssystems interpretiert werden. Prävention ist nicht der Gegenpol zur Repression, sondern benötigt diese als Element ihrer Selbstbegründung. "Prävention fällt quasi als Nebenprodukt der staatlichen Verfolgung und Bestrafung von Verbrechen und Vergehen an."

Präventionsarbeit muss neben der Schwierigkeit der Klärung dessen, was als erwünscht und normal gilt, noch mit einer anderen, unaufhebbaren Schwierigkeit kämpfen: Es wird versucht, die Erfahrungen aus der Vergangenheit und Gegenwart in die Zukunft zu verlängern. Aber auch in diesen künftigen Gegenwarten wird die Frage, was präventiv wirkt, erst retrospektiv zu entscheiden sein. In der Gegenwart werden Aussagen darüber getroffen, was in der Zukunft passieren könnte und auf diese Situationen will man sich heute einstellen.

Die Einschätzung von Risiken ist also zeitabhängig. Es gibt keinen Standpunkt, von dem aus objektiv einschätzbar wäre, was ein Risiko ist, sondern es sind nur jeweils standortgebundene und begründungsnotwendige Einschätzungen möglich. "Je nachdem, ob ein Schaden eingetreten oder ob es gut gegangen ist, wird man das Risiko nachträglich anders einschätzen. Man versteht nachträglich nicht mehr, wieso man in einer vergangenen Gegenwart derart vorsichtig oder derart riskant entschieden hatte. Und aus der Zukunft starrt uns eine andere Gegenwart an, in der die heute gegenwärtige Risikolage nachträglich mit Sicherheit anders beurteilt werden wird, aber unsicher bleibt wie?"

Offen bleibt zudem, ob das Nichteintreten von Ereignissen in der Zukunft auf die Bemühungen einer gegenwärtigen Präventionsarbeit zurückzuführen oder völlig unabhängig von diesen zu beurteilen ist. "Wie kann man etwas messen, was sich nicht ereignet, wenn man nicht weiß, ob es sich nicht auch dann nicht ereignet hätte, wenn man nichts - oder etwas anderes - getan hätte?"

Wenn Sicherheit nicht dauerhaft vorgestellt werden kann und zudem der Sicherheitsbegriff fiktiv ist - was bleibt dann noch, um uns auf künftige Kriminalitätsereignisse einzustellen? Vor allem bleibt uns die Kommunikation über Risiken unserer gegenwärtigen Entscheidungen und über die Präventionsrisiken zur Vermeidung von Risiken.

Keine Entscheidung ohne Risiko

Ein interessantes Angebot, die Frage der unbeabsichtigten Nebenwirkungen einer Disposition über Zukunft im Sinne der Risikoprävention zu thematisieren, hat Niklas Luhmann in seiner Arbeit zur "Soziologie des Risikos" unterbreitet. Der Sicherheitsbegriff ist für Niklas Luhmann nichts anderes als eine soziale Fiktion, ein Leerbegriff. Wenn man davon ausgeht, dass es keine Sicherheit über das Eintreten oder Nichteintreten künftiger Schäden geben kann, drängt sich die Frage auf, was kommunikativ als sicher oder unsicher behandelt wird. Der wenig geeignete Sicherheitsbegriff kann nach Luhmann ersetzt werden durch die These, dass es keine Entscheidung ohne Risiko geben kann. In dieser Hinsicht sind auch Entscheidungen über Risikoprävention riskant (Welchen Verhaltensweisen soll mittels welcher Maßnahmen vorgebeugt werden?) und werfen Fragen nach den nicht intendierten Kosten und Folgen der Risikoprävention auf.

Niklas Luhmann schlägt als tragfähigere Unterscheidung jene zwischen Risiko und Gefahr vor, denn mit der Verwendung dieser Begriffe akzeptiert man zunächst, dass die Zukunft immer mit Unsicherheit verbunden ist. Diese Unsicherheit unterscheidet sich aber hinsichtlich ihrer Zurechnungsmodalitäten. Mit Risiko sind Fälle gemeint, in denen Situationen eingegangen werden, die die Möglichkeit eines vermeidbaren Schadens aktiv herbeiführen. Vermeidbar meint, dass man sich bewusst dafür entschieden hat, eventuelle Nachteile wegen eines Vorteils in Kauf zu nehmen. Folglich muss sich die Person einen eventuell eintretenden Schaden selbst, das heißt der eigenen Entscheidung, kausal zurechnen lassen. Sie selbst ist der Riskierer. Von Risiko wird vorrangig dann gesprochen, wenn es um rationale Abwägung oder Kalkulation geht.

Im Gegensatz zum Risiko, das auf die Selbstzurechnung eines möglichen künftigen Schadens abstellt, bezeichnet der Gefahrbegriff all jene Fälle, in denen die Ursachen eines möglichen Schadens außerhalb der eigenen Kontrolle gesehen werden (zum Beispiel Naturkatastrophen). Hier begreift man sich nicht als aktiver Herbeiführer des Schadens, sondern als Gefährdeter. Während man sich also Risiken aussetzt, fühlt man sich Gefahren ausgesetzt.

Zu beobachten ist nach Luhmann, dass sich immer mehr Gefahren in zurechenbare Risikoentscheidungen transformiert haben, weil wir in immer mehr Bereichen auf rational kalkulierendes Entscheiden setzen und dies auch von unseren Mitmenschen verlangen. Luhmann verdeutlicht dies an dem einfachen Beispiel des Regenschirms: "Wenn es Regenschirme gibt, kann man nicht mehr risikofrei leben: Die Gefahr, daß man durch Regen naß wird, wird zum Risiko, das man eingeht, wenn man den Regenschirm nicht mitnimmt. Aber wenn man ihn mitnimmt, läuft man das Risiko, ihn irgendwo liegenzulassen."

Auch Kriminalität wird in diesem Sinn nicht als Gefahr entworfen, sondern als Risiko zugerechnet - sowohl auf der Seite der Täter (zum Beispiel das Entdeckungsrisiko oder das Risiko, eine Haftstrafe verbüßen zu müssen etc.) als auch auf jener der Opfer. Wer sein Fahrrad nicht abschließt, wer im Dunklen allein durch den Park joggt oder seine Kreditkarte sorglos anderen überlässt, dem wird zugeschrieben, (zu) riskant gehandelt zu haben.

Obwohl man nicht weiß, ob zukünftig ein Schaden tatsächlich eintreten wird, stellt man sich aktuell bereits auf diesen eventuellen Schaden ein. In dieser Hinsicht kann man dann von einem bereits gegenwärtigen Schaden sprechen: "Man ist besorgt, fühlt sich unwohl, beugt vor, nimmt Kosten in Kauf, die sich möglicherweise als unnötig erweisen werden." Dadurch, dass wir uns gegenwärtig auf eine wie auch immer geartete Zukunft einstellen und unsere Entscheidungen aufgrund der gegenwärtigen Annahmen über die künftigen Gegenwarten treffen, disponieren wir diese bereits. Indem wir uns aber für zukünftige Ereignisse präparieren wollen, treffen wir präventiv Maßnahmen, die unseren gegenwärtigen Alltag bereits verändern, ohne dass man weiß, wie man sie im Nachhinein beurteilen wird. Wir tun daher gut daran, das Augenmerk darauf zu richten, inwiefern gegenwärtige Präventionsmaßnahmen unsere Handlungsoptionen einschränken und wie Überreaktionen bei der Risikoeinschätzung vermieden werden können, damit zu den unweigerlich existierenden Risiken nicht noch umfangreiche Risiken der Risikoprävention - oder wie Luhmann formuliert: "Aufregungsschäden" - hinzutreten.

Für den uns hier interessierenden Zusammenhang zwischen Kriminalität und darauf bezogener Risikoprävention bleibt daher festzuhalten: Indem wir unsere Abneigung gegen abweichendes Verhalten bereits ins Vorfeld der potenziellen Möglichkeit verlagern, kann es niemals ausreichende Prävention geben, denn man könnte immer noch früher beginnen bzw. einen noch größeren Personenkreis als Zielgruppe der Präventionsarbeit erschließen. Prävention wird dann leicht zur "Risikophobie": "Denn dass keine gesicherten Erkenntnisse vorliegen, ist nicht bloß keine Entschuldigung, sondern muss geradezu als Appell zu noch viel größerer Vorsicht begriffen werden und dazu, jede Handlung von der Annahme des Schlimmsten her zu beurteilen."

Die boomenden kriminalpräventiven Ansätze reproduzieren damit permanent ihre eigene Notwendigkeit und "erzeugen auf paradoxe Weise das, was sie zu bekämpfen vorgeben: Kriminalität als bedrohliche soziale Tatsache". So können sich die Grenzen dessen, was aus der Vorsorgeperspektive noch akzeptabel und dem Einzelnen zumutbar erscheint, verändern. Das Präventivrisiko, zum Beispiel auf seinem Nachhauseweg durch Videokameras lückenlos "verfolgt" zu werden, wird dann mutmaßlich bereitwilliger akzeptiert als das Primärrisiko, auf diesem Weg überfallen und ausgeraubt zu werden. Ohne dass dies beabsichtigt wäre, verstärken wir durch die Präventionsbemühungen unser nimmersattes Sicherheitsbedürfnis. Was wir uns mit der Fixierung auf vorauseilende Kriminalprävention einhandeln, ist zudem das Zusatzrisiko, dass die Prävention sich als unnötig erweisen kann - entweder, weil ein anderes, nicht beachtetes Risiko eintritt; weil die Prävention kausal unwirksam ist oder sie nur eine "nützliche Ermutigungsfiktion" darstellte.

Präventionsarbeit tendiert also immer dazu, den Goliath Kriminalität besonders groß und bedrohlich zu entwerfen, um ihn wirkungsvoll bekämpfen zu können. Je mehr Zeit, Geld, Energie etc. wir für Prävention aufwenden, umso mehr stärken wir auch die Idee einer bedrohlichen und unsere Lebensmöglichkeiten einschränkenden Kriminalität. "Prävention ist das, wofür es Geld (sprich: Fördermittel) gibt." Dementsprechend werden nicht selten traditionelle Formen der Jugendarbeit umetikettiert und unter dem neuen Label "kriminalpräventive Maßnahme" erfolgreich verkauft. Dieser Etikettenschwindel ist jedoch nicht so unproblematisch, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn auf diesem Weg geraten all jene Angebote unter Zugzwang, die sich nicht mit dem Präventionslabel schmücken. Polizeiliche (oder sicherheits- und ordnungspolitische) Interventionen, welche die Auffälligkeiten bestimmter Gruppen (nicht selten sind es Jugendliche) problematisieren, beginnen Maßnahmen zu ersetzen, die primär an der Lebenssituation von Menschen ansetzen, wie zum Beispiel an gesellschaftlichen Ausgrenzungserfahrungen oder schwierigen Existenzbedingungen. Die Fokussierung auf unerwünschtes Verhalten ersetzt dann die Auseinandersetzung mit problematischen gesellschaftlichen Verhältnissen.

Verstärkte Kommunikation über die Risiken und Unsicherheiten im Kontext von Kriminalität kann damit - entgegen der Intention - ein zunehmendes Unsicherheitsgefühl bedingen. So tragen vermehrte Fußstreifen von Polizeibeamten im Sinne einer bürgernahen Polizeiarbeit nicht selten dazu bei, dass sich die Bewohner des durchstreiften Stadtteiles verunsichert fühlen und sich fragen, ob diese vermehrte Präsenz im Zusammenhang mit zunehmenden polizeilichen Einsätzen und einem gestiegenen Kriminalitätsaufkommen steht.

Um zu entscheiden, welche "Präventionszumutungen" gesellschaftlich akzeptabel sind, haben wir - da wir dies immer vor dem Hintergrund einer ungewissen Zukunft entscheiden müssen - keine andere Chance, als auf Evaluationen bisheriger kriminalpräventiver Maßnahmen zurückzugreifen. Problematisch dabei ist, dass überhaupt nur wenige Delikte - meist jene, die im öffentlichen Raum verübt werden - von Präventivmaßnahmen erfasst werden können, weswegen sich zahlreiche Präventionskonzepte auf Jugendliche konzentrieren. Dies trägt nicht unwesentlich dazu bei, dass die Wahrnehmung des Problems "Jugendkriminalität" in der Bevölkerung sehr präsent ist.

Momentan stellen sich überhaupt nur wenige Kriminalpräventionsprojekte einer Beurteilung durch unabhängige Evaluationsforschungen. Getreu der Logik, dass Prävention per se ein gutes Anliegen mit positiven Wirkungen sei, ist allein die Frage danach, was sie im Einzelfall bringe und ob ihre (materiellen und immateriellen) Kosten gerechtfertigt seien, ketzerisch. Nicht nur, dass viele Präventionsversprechen sich gar nicht realisieren lassen, weil deren Erfüllung bzw. Nichterfüllung sich empirisch nicht nachweisen lässt; es fehlt vielen Konzepten zudem an einer theoretischen Verankerung. Sie basieren auf diffusen Alltagstheorien, die sich einer Evaluation verweigern. Die Spreu ließe sich vom Weizen trennen, indem man nur jene Projekte als kriminalpräventiv betrachtet und finanziert, die theoretisch fundiert und evaluierbar sind. Letztlich ist dieser Weg über eine rückblickende Beurteilung präventiver Konzepte die einzige Möglichkeit, die Frage vergangener Entscheidungen zu beantworten. Nur über die Einschätzung der Vergangenheit können wir Ideen für die Zukunft entwerfen, auch wenn diese Entwürfe immer riskant bleiben.

Vorbeugen ist - ist nicht - ist besser als Heilen

Ist Vorbeugen nun tatsächlich besser als Heilen? Die hier entwickelte Antwort mag unbefriedigend bleiben: Es kann gegenwärtig nicht darüber entschieden werden, ob wir zukünftig die derzeit verfolgten Präventionsstrategien als sinnlose Präventionszumutungen oder als vorausschauende Handlungen bewerten. Das einzige, was uns mit Sicherheit bleibt, ist die Unsicherheit künftiger Ereignisse.

Weil dies aber unvermeidbar ist, sollten wir sehr genau die daraus resultierenden unerwünschten Nebenwirkungen im Blick behalten - wie etwa generelles Misstrauen gegenüber Fremden, zunehmende wechselseitige Überwachung (zum Beispiel neighborhood watch programs) oder die Logik, sich gegen jeden nur erdenklichen Schadensfall versichern zu müssen. Die um sich greifende "Präventionskultur" ist mit kritischem Blick zu begleiten, so dass die unerwünschten Nebenwirkungen der Dauermedikation "Prävention", die zu jenen gesellschaftlichen Kosten gehören, die neben den finanziellen und personellen Investitionen in Prävention anfallen, nicht deren Nutzen übersteigen. Auch hierfür ist eine Evaluation erforderlich, die neben der Frage der Umsetzung der im Rahmen von Präventionskonzepten selbst gesteckten Ziele auch die komplexen, sich daraus ergebenden Veränderungen im Umfeld der Projektintentionen berücksichtigt. Gerade diese Einbindung in gesellschaftliche Fragen könnte ein wirksames Gegenmittel gegen jene Umetikettierung sein, die Stadtteil-, Jugend- und Familienprojekte in kriminalpräventive umzeichnet, womit komplexe gesellschaftliche Ausschließungsprobleme plötzlich zu individualisierbaren Vorbeugemaßnahmen werden.

Was folgt daraus? Kein generelles Plädoyer gegen Prävention, wohl aber gegen eine allzu überschwängliche Euphorie in Sachen Kriminalitätsvorbeugung, ein Plädoyer also dafür, zu akzeptieren, dass auch Kriminalprävention zuallererst einmal die (berechtigte) gesellschaftliche Autosuggestion in Sachen Zukunftskontrolle ist, die vor allem dazu dient, aktuell wahrgenommene Unsicherheiten zu reduzieren, um weiter handlungsfähig zu bleiben. Weil wir Kriminalität als Risiko begreifen, sind wir es gewohnt, Verantwortliche zu identifizieren, deren heutiges Handeln in Zukunft als falsch, nicht schnell oder umfassend genug etc. etikettiert werden kann.

Wenn wir die Unsicherheit bezüglich zukünftiger Ereignisse ernst nehmen, dann gilt es, neben den abweichenden Verhaltensweisen (der Kriminalität) auch den vermeintlichen Aufregungsschäden vorzubeugen, die uns der - im Beitrag von Hermann Strasser und Henning van den Brink entworfenen - Präventionsgesellschaft Schritt für Schritt näher bringen. Gerade weil es keine Autoritäten gibt, die wir zu Risiken und Nebenwirkungen der aktuellen Kriminalpräventionsstrategien befragen könnten, müssen wir uns diese Frage immer wieder selbst beantworten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe den Beitrag von Hermann Strasser und Henning van den Brink in diesem Heft.

  2. Niklas Luhmann, Die Welt als Wille ohne Vorstellung. Sicherheit und Risiko aus der Sicht der Sozialwissenschaften, in: Die politische Meinung, (1986) 229, S. 18 - 21, S. 20f.

  3. Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986.

  4. Zentrale Geschäftsstelle polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes, Qualitätssicherung polizeilicher Präventionsprojekte. Eine Arbeitshilfe für die Evaluation, Stuttgart 2003, S. 95.

  5. Vgl. Ernst von Kardorff, Prävention: wissenschaftliche und politische Desiderate, in: Diskurs. Studien zu Kindheit, Jugend, Familie und Gesellschaft, 5 (1995) 1, S. 6 - 14, S. 8.

  6. Vgl. Hans-Rüdiger Volkmann, Wann ist ein Projekt ein kriminalpräventives Projekt?, in: Neue Kriminalpolitik, 14 (2002) 1, S. 14 - 19.

  7. Zur mittlerweile nahezu magischen Bedeutung des Wortes community im Präventionskontext vgl. Reinhard Kreissl, Die Simulation sozialer Ordnung. Gemeindenahe Kriminalitätsbekämpfung, in: Kriminologisches Journal, 19 (1987) 4, S. 269 - 284.

  8. Vgl. H.-R. Volkmann (Anm. 6), S. 14.

  9. Vgl. Henning van den Brink, Kommunale Kriminalprävention. Mehr Sicherheit in der Stadt? Eine qualitative Studie über kommunale Präventionsgremien, Frankfurt/M. 2005, S. 26 und Michael Lindenberg, Paradoxe Intervention. Sicherheitskonferenzen zwischen kommunaler Kriminalprävention und Quartiersbelebung, in: Widersprüche, 21 (2001) 82, S. 53 - 66.

  10. Vgl. E. v. Kardorff (Anm. 5), S. 13.

  11. Vgl. M. Lindenberg (Anm. 9), S. 59.

  12. H. v. d. Brink (Anm. 9), S. 18.

  13. Niklas Luhmann, Soziologie des Risikos, Berlin-New York 1991, S. 51.

  14. Thomas Feltes, Zur Einführung: Kommunale Kriminalprävention und bürgernahe Polizeiarbeit, in: Thomas Feltes (Hrsg.), Kommunale Kriminalprävention in Baden-Württemberg. Erste Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung von drei Pilotprojekten, Holzkirchen 1995, S. 19.

  15. Vgl. N. Luhmann (Anm. 13).

  16. Vgl. ebd., S. 128f.

  17. Niklas Luhmann, Die Moral des Risikos und das Risiko der Moral, in: Gotthard Bechmann (Hrsg.), Risiko und Gesellschaft. Grundlagen und Ergebnisse interdisziplinärer Risikoforschung, Opladen 1993, S. 328.

  18. Niklas Luhmann, Risiko und Gefahr, in: ders., Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 1990, S. 159.

  19. N. Luhmann (Anm. 2), S. 21.

  20. Werner Lindner/Thomas Freund, Der Prävention vorbeugen? Thesen zur Logik der Prävention und ihrer Umsetzung in der Kinder- und Jugendarbeit, in: Deutsche Jugend, 49 (2001) 5, S. 212 - 220, S. 216.

  21. R. Kreissl (Anm. 7), S. 281.

  22. N. Luhmann (Anm. 13), S. 39.

  23. W. Lindner/T. Freund (Anm. 20), S. 212.

  24. Vgl. M. Lindenberg (Anm. 9), S. 55.

  25. E. v. Kardorff (Anm. 5), S. 7.

  26. Vgl. H. v. d. Brink (Anm. 9), S. 41, mit weiteren Literaturhinweisen.

  27. Vgl. H.-R. Volkmann (Anm. 6), S. 19.

  28. Vgl. Stefan Hornbostel, Die Konstruktion von Unsicherheitslagen durch kommunale Präventionsräte, in: Ronald Hitzler/Helge Peters (Hrsg.), Inszenierung: Innere Sicherheit. Daten und Diskurse, Opladen 1998, S. 99.

geb. 1975, Diplom-Kriminologin, Diplom-Sozialpädagogin (FH), wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FU Berlin, Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Arnimallee 11, 14195 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: anjamen@zedat.fu-berlin.de