Einleitung
Die Unterhauswahl in Großbritannien am 5. Mai 2005 endete mit einem historischen Wahlsieg für die Labour Party und Premierminister Tony Blair. Niemals zuvor ist es Labour gelungen, in drei aufeinander folgenden Amtszeiten die Regierung in No. 10 Downing Street zu stellen. Doch Blair kehrt mit dem geringsten prozentualen Stimmenanteil der britischen Wahlgeschichte und einer auf 66 Sitze geschrumpften Unterhausmehrheit von Labour nach No. 10 zurück (siehe die Tabelle). Die Liberaldemokraten (Liberal Democrats) konnten ihren Stimmenanteil von 18,3 auf 22,1 Prozent erheblich ausbauen. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts schlug sich dies aber nur in einem Zuwachs von elf Sitzen (62 Sitze insgesamt) nieder. Die Konservativen (Tories) zeigten Zeichen der Erholung und gewannen 33 Sitze hinzu (nun 198 Sitze). Im Hinblick auf die nächste Unterhauswahl ist es der Opposition insgesamt gelungen, die große Labour-Mehrheit von ehedem 165 Sitzen so weit zu reduzieren, dass ein Regierungswechsel nach der kommenden Wahl nicht mehr unmöglich erscheint.
Gewählt wurde das Unterhaus in 529 englischen, 59 schottischen, 40 walisischen und 18 nordirischen Wahlkreisen. In Schottland waren, um die Überrepräsentation Schottlands im Unterhaus auszugleichen, 13 Wahlkreise mit anderen verschmolzen worden, sodass sich die Gesamtzahl der Sitze im Vergleich zu 2001 von 659 auf 646 reduzierte.
Die große Mehrheit, die Labour 2001 hatte gewinnen können, stellte für die Oppositionsparteien im Vorfeld des Wahlkampfes 2005 eine nicht gerade ermutigende Ausgangslage dar. Um mit einer eigenen Mehrheit regieren zu können, hätten die Konservativen einen landesweiten Umschwung (swing) von mehr als 9,5 Prozent der Stimmen benötigt. Das Mehrheitswahlrecht mit seinen Eigenheiten
Als entscheidende Themen wurden von den Wählerinnen und Wählern der Zustand und die Zukunft des Gesundheitswesens, gefolgt von der Einwanderungs- und Asylpolitik, Bildung, Kriminalität, Steuerpolitik, Reform der öffentlichen Verwaltung und die Wirtschaftspolitik genannt. Der Irakkrieg spielte dagegen offenbar nur eine untergeordnete Rolle. Anders bei den Wechselwählern: Für sie war die britische Beteiligung am Krieg der entscheidende Grund, Labour den Rücken zu kehren (23 Prozent), gefolgt von denjenigen, die Blair nicht mehr vertrauen (21 Prozent) und jenen, die eine ungenügende Einwanderungskontrolle beklagen (21 Prozent). Eine wichtige Rolle spielte der Irakkrieg auch in Wahlkreisen mit starkem muslimischen Bevölkerungsanteil, wo er zu erheblichen Stimmenverlusten für Labour bis hin zum Verlust von Wahlkreisen führte.
Das Ergebnis zeigt (siehe Tabelle der PDF-Version, S. 14), welche Belastung das Thema Irak für den Labour-Wahlkampf darstellte. Auffällig in diesem Zusammenhang war, dass die Parteistrategen von der Beständigkeit überrascht wurden, mit der das Thema in den Medien gehalten und von der Opposition genutzt wurde. Labour befand sich während der heißen Wahlkampfphase in einer Defensivposition. Die zentrale Frage lautete: Kann man Blair noch vertrauen, oder ist er einer, wie es ein Plakat der Konservativen postulierte, der schon bei der Begründung des Irakkriegs log und daher auch für einen Wahlsieg lügen würde? Umfrageergebnisse, die andeuteten, dass mit Schatzkanzler (Finanzminister) Gordon Brown an der Spitze die Werte deutlich besser gewesen wären (was sich in der Entscheidung niederschlug, Brown Anfang April wieder neben Blair ins Zentrum der Kampagne zu rücken), ließen schon vor dem Wahltag vermuten, dass sich Blairs Zeit in No. 10 - unabhängig vom Wahlausgang - dem Ende zuneigt. Des Weiteren zeigte sich, dass die Konservativen aus den Fehlern von 1997 und 2001 gelernt haben. Da sich ihre Wahlaussagen in den wesentlichen Feldern nicht sehr von denen Labours unterschieden, machten sie populistische "Angstthemen", etwa die Asyl- und Einwanderungspolitik, zu ihren Kernthemen.
Die Konservativen
Ein halbes Jahr nach der Unterhauswahl wird deutlich, dass sich die Konservative Partei, die dominierende politische Kraft des 20. Jahrhunderts in Großbritannien, trotz leichter Zugewinne in einigen Regionen nach wie vor in einer schwierigen Phase befindet. Weder konnten die Konservativen ihren Stimmenanteil landesweit ausbauen, noch erreichten sie die selbst gesteckte Marke von 200 Sitzen "plus X" im Unterhaus. Programmatisch und personell wird die Partei nach wie vor nicht als gleichwertige Alternative zu Labour empfunden. Zudem konnten die Tories nur unterdurchschnittlich wenige junge, in Großstädten lebende und/oder weibliche Wahlberechtigte für sich gewinnen - Gruppen, deren Zustimmung für einen Wahlsieg unverzichtbar ist. Die Konservativen befinden sich in einer ähnlichen Lage wie die Labour Party von 1979 bis 1997, die erst nach einem schwierigen Prozess innerparteilicher Erneuerung und nach vier Wahlniederlagen zurück an die Regierung gelangte.
Doch die Unterhauswahl 2005 birgt für die Tories auch Hoffnungszeichen: Zum einen haben sie Sitze im Süden Englands und in London zurückgewinnen können und damit Fortschritte in ihrem traditionellen Stammland erzielt. Ohne Zustimmung in diesen Regionen kann man keine Unterhauswahl gewinnen. Zum anderen zeigt sich bei genauerer Betrachtung der Wahlkreise, dass die Tories in den so genannten Labour-Tory marginals, also in den besonders umkämpften Wahlkreisen, sehr gut abgeschnitten haben oder Labour gar schlagen konnten. Zudem gelang es den Liberaldemokraten in den Wahlkreisen, in denen sie mit den Tories Kopf an Kopf lagen, nicht, konservative Kandidaten im geplanten Ausmaß zu gefährden.
Was die personelle Erneuerung anbelangt, so musste die Partei unmittelbar nach dem 5.Mai damit beginnen, zum sechsten Mal seit 1990 einen neuen Parteivorsitzenden zu suchen. Auch wenn es Kritik an Michael Howards Entscheidung gab, nach der Wahlniederlage vom Amt des Vorsitzenden zurückzutreten, war sie doch nachvollziehbar. Entscheidend wird sein, ob die Konservativen den Übergang an der Parteispitze so zu gestalten verstehen, dass möglichst wenig Energie auf interne Machtkämpfe und stattdessen auf eine Regierung und Fraktion gerichtet wird, deren Arbeitsfähigkeit sich während der Legislaturperiode immer wieder beweisen muss.
Howard hatte noch im Mai angekündigt, der Partei bis Weihnachten Zeit zu geben, um einen neuen Vorsitzenden zu finden. Der zu wählende Vorsitzende muss den Spagat leisten, eine Partei mit einer überalterten Mitgliederbasis, die sich seit 1997 stetig nach rechts bewegt hat und die Mitte des politischen Spektrums weitgehend Labour überließ, attraktiv für diejenigen zu machen, die bislang Labour oder die Liberaldemokraten gewählt haben, ohne aber die traditionellen core voters zu verprellen.
Dazu wollte die Parteiführung die Regeln zur Wahl des Vorsitzenden, die seit 1998 die Entscheidung darüber den einfachen Parteimitgliedern übertrug, so verändern, dass wie zuvor nur die Unterhausabgeordneten den Parteivorsitzenden wählen. Der dazu gefasste Beschluss der Fraktion wurde aber von der Parteibasis abgelehnt, auch weil dieses Vorgehen als Misstrauensbeweis gegenüber den einfachen Parteimitgliedern und als Rückschritt für die innerparteiliche Demokratie angesehen wurde. Die Erfahrungen seit 1998 belegen, welch große Rolle das Wahlverfahren für die Chancen der einzelnen Kandidaten hat.
Programmatisch steht die Partei vor der Aufgabe, die Mitte des Spektrums zurückzugewinnen. Dazu muss es gelingen, die Wähler davon zu überzeugen, dass die Partei die Realitäten der modernen, multikulturellen britischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts akzeptiert. Ein so genannter Caring Conservatism müsste traditionelle Wertvorstellungen mit progressiven Modellen nicht nur in der Sozialpolitik oder hinsichtlich der Gleichberechtigung von Frauen zu verbinden suchen. Gelingt der Partei die programmatische Öffnung, dann hat sie mit der Wahl 2005 ihre Talsohle wohl durchschritten.
Die Liberaldemokraten
Die Liberaldemokraten (LDP) unter Charles Kennedy konnten mit der Wahl ein weiteres Mal unter Beweis stellen, dass sie eine Größe in Westminster sind, mit der die beiden anderen großen Parteien rechnen müssen. Das Ziel von 70 Sitzen plus X wurde zwar nicht erreicht, und der Zuwachs an Sitzen fällt im Vergleich zum landesweit erzielten Stimmenanteil kaum ins Gewicht. Doch es ist allein das Mehrheitswahlrecht, das diese für die LDP so nachteilige Situation verursacht und die vollständige Etablierung eines Dreiparteiensystems auf nationaler Ebene verhindert. Im Vergleich zur Wahl 2001 konnte die LDP in weiteren 160 Wahlkreisen die Position als zweite Kraft hinter dem jeweiligen Gewinner einnehmen. Dies ist ein klares Signal dafür, dass der Slogan des Wahlkampfes, die einzige wirkliche Alternative im politischen System zu sein, von den Wählern aufgegriffen wurde. Ein Blick auf die politische Landkarte zeigt, dass die LDP neben ihren traditionellen Stammlanden regionale Schwerpunkte im industriellen Gürtel Nordenglands entwickelt sowie ihre starke Position im Südwesten und in den Vorstädten Londons gefestigt hat.
Aber die Gewinne der Liberalen gingen meist zu Lasten der Labour Party, während man bezüglich der Konservativen, entgegen gehegter Hoffnungen, nicht wesentlich aufholen konnte. Dennoch scheint die Zeit der traditionell zweidimensionalen Sichtweise auf die politische Landschaft Großbritanniens vorüberzugehen. Damit sind für das politische System und die LDP gleichermaßen Konsequenzen verbunden.
An erster Stelle muss nach der Funktionalität des geltenden Wahlrechts und der demokratischen Legitimation einer Regierung gefragt werden, die bei sehr niedriger Wahlbeteiligung und einem Stimmenanteil von 35 Prozent tatsächlich nur von rund 22 Prozent der Wahlberechtigten unterstützt wird. Eine Anpassung des Wahlrechts, etwa analog des in Schottland geltenden Systems des Verhältniswahlrechts, dürfte erneut diskutiert werden - nicht nur, weil es der LDP und ihren Wählern gegenüber für mehr Gerechtigkeit sorgen würde. Das Wahlergebnis hat gezeigt, dass die Zeiten vorbei sind, in denen eine starke Anti-Tory-Stimmung herrschte und die Wähler Labours und der LDP gegebenenfalls taktisch vorgingen, um die Wahl eines konservativen Kandidaten zu verhindern. Das Schreckgespenst einer Tory-Regierung wird bei künftigen Wahlen kaum mehr in der seit 1997 gewohnten Weise von den anderen Parteien zu instrumentalisieren sein (2009 wird kein Wähler unter 35 die Amtszeit von Margaret Thatcher noch bewusst erlebt haben). Nicht nur die größere Stimmengerechtigkeit würde mithin für eine Veränderung des Wahlrechts sprechen, sondern auch pragmatisch-strategische Gründe, und deshalb könnte Labour versuchen, die Liberaldemokraten mit einer Wahlrechtsreform an sich zu binden. Es gibt jetzt 44 super marginals, die Labour nur mit knapper Mehrheit hält. Diese könnten die Konservativen zukünftig bei einem ähnlichen swing wie bei dieser Wahl gewinnen - ein Sieg der Konservativen wäre damit möglich, auch wenn sie ihren Stimmenanteil gegenüber dem Ergebnis von 2005 nicht mehr wesentlich ausbauen würden. Um Mehrheiten zu sichern, wäre die Änderung des Mehrheitswahlrechts trotz aller Widerstände ein sinnvoller Zug der Regierung Blair.
Die Liberaldemokraten gaben nach der Wahl eine Überarbeitung ihrer Programmatik bekannt. Damit will man sich sowohl in dieser Legislaturperiode als auch zur nächsten Wahl erneut und mit noch mehr Nachdruck als "wirkliche Alternative" präsentieren. Hier liegt das zentrale Problem der Partei: Welche Art von Oppositionspolitik sollen die Liberaldemokraten betreiben? Positionieren sie sich rechts oder links von Labour? Der LDP steht ein schwieriger Balanceakt bevor. Soll das für die LDP erfreuliche Wahlergebnis mehr sein als nur ein Strohfeuer, entzündet von Protestwählern, dann müssen die Liberaldemokraten im Unterhaus Profil gegenüber der Regierung zeigen. Bei vielen Themen der politischen Agenda stehen sie aber Blair und Brown sehr viel näher als etwa die Parteilinke innerhalb der Labour Party.
Die Labour Party
Im Mai und Juni wirkte Tony Blair trotz des Wahlsiegs wie ein Boxer, der zwar einen Punktsieg errungen hatte, dessen Fähigkeiten aber kaum mehr für viele weitere Runden im Ring reichen würden. Eine rasche Amtsübergabe von Blair an Gordon Brown forderten der linke Parteiflügel und auch die Medien. Eine Unterhausmehrheit von 66 Sitzen, die vor den beiden Erdrutschsiegen von 1997 und 2001 als ein Traumergebnis für die Partei angesehen worden wäre, erschien nun vielen als persönliche Niederlage des Premiers. Erneut zeigte sich, wie sehr die Fehlentscheidung des Premiers, in den Irakkrieg zu ziehen, seine Amtsführung bis heute überschattet.
Dennoch ist die der Kritik nach dem 5.Mai innewohnende Unausgewogenheit der Argumentation unübersehbar, angesichts der durchaus positiven Bilanz nach acht Jahren Labour-Regierung: die Erfolge in der Sozial- und Wirtschaftspolitik; die seit Jahren anhaltende behutsame Umverteilung von Vermögen, ohne dabei die Unterstützung der Mittelklasse zu verlieren; der Kampf gegen Kinderarmut. Es ist kaum bestreitbar, dass sich die Lebensumstände der Bürger seit 1997 im Großen und Ganzen positiv entwickelt haben. Diese erfolgreiche Politikgestaltung hat ihre Ursache neben der effektiven Umsetzung der seit 1997 praktizierten politischen Steuerungsstrategie der Regierung (gekennzeichnet durch Machtzentrierung, informalisierte Entscheidungsstrukturen sowie professionelles Medienmanagement und Kommunikation)
An dieser Stelle, der Frage nach der ideologischen Verankerung der Politik von "New Labour", treffen sich kritische Analysen aus der Wissenschaft wie die des Historikers Anthony Seldon
Es konnte nicht überraschen, dass unmittelbar nach der Wahl aus diesen Lagern Forderungen nach einem möglichst baldigen Rücktritt Blairs laut wurden. Doch wie so oft in der Politik erwiesen sich diejenigen, die vor der Zeit aus der Deckung treten und vorgeblich wohl begründet den Rücktritt eines Politikers fordern, als nicht gut beraten. Schon im Hochsommer und Frühherbst 2005 erfreute sich Blair der zweithöchsten Zustimmungsrate seiner Amtszeit, und das Thema Amtsübergabe an Brown fand kaum mehr Widerhall.
Blairs Führungsstärke
Für die Stabilisierung der Stellung der Premiers lassen sich mehrere Gründe benennen. Im zweiten Halbjahr 2005 übernahm Blair turnusgemäß die EU-Ratspräsidentschaft vom luxemburgischen Premierminister Jean-Claude Juncker. Es ist nicht ohne Ironie, dass gerade diese Tatsache dem britischen Premier bei der Stabilisierung seiner Position half, obwohl doch das Thema Großbritannien und Europa ein wahrlich nicht unproblematisches Beziehungsgefüge beschreibt. Doch der historische Zufall wollte es, dass Blair die Präsidentschaft übernahm, als in Frankreich und später auch in den Niederlanden die Bürgerinnen und Bürger in Referenden den Verfassungsentwurf für die EU ablehnten. Zur selben Zeit dominierten in Berlin die innenpolitischen Debatten um die vorgezogene Bundestagswahl. Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland fielen also die traditionellen Führungskräfte Europas in dieser schwierigen Phase aus - und Blair ergriff die sich bietende Chance.
Mitte Juni 2005 hatte Blair den EU-Gipfel an der Frage der Haushaltsfinanzierung scheitern lassen und war bestrebt, sich in der Folgezeit als Ideengeber für eine grundlegende Reform der Union zu präsentieren. Diese müsse sich mit den Herausforderungen der Globalisierung auseinander setzen. Mit einer Taktik, die einerseits Flexibilität signalisiert (der britische Beitragsrabatt sei eine Anomalie und müsse im Rahmen einer Gesamtreform aufgegeben werden) und damit über bloße Besitzstandswahrung hinausgeht, andererseits mit der Argumentation arbeitet, die Union müsse sich von überholten Subventionsstrukturen wie denen im Agrarbereich verabschieden und statt dessen in die Zukunft der Europäer investieren, in Forschung und Bildung etwa, konnte Blair sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch Punkte sammeln. Denn anders als die ersten Reaktionen aus Paris und Berlin nach dem Scheitern des Gipfels glauben machten, ist die Vision Blairs für ein "neues" Europa keineswegs der Abschied von einem sozialen Europa. Blair transportiert die Erfahrungen aus Großbritannien auf die europäische Bühne und fragt, wie sozial 20 Millionen Arbeitslose in der EU seien. Damit eröffnete er eine Debatte, die für die EU, wenn sich die anderen Mitgliedstaaten konstruktiv beteiligten, die Chance für eine echte Umgestaltung der Strukturen bieten könnte. Dass sie federführend von Großbritannien gestaltet wird, sollten die anderen Staaten als Chance begreifen. Blairs Auftritt vor dem Europaparlament Ende Juni zeigte jedenfalls, dass es hierfür realistische Perspektiven gibt.
Auch innenpolitisch wirkte sich die Krise der EU positiv für den britischen Premierminister aus. Die Regierung hat den Prozess der Ratifizierung der EU-Verfassung vorerst gestoppt und plädiert für eine europaweite Denkpause. Solange diese andauert, wird es in Großbritannien kein Referendum zur Verfassung geben. Nach der Wahl war zunächst darüber spekuliert worden, ob Brown Blair den aussichtslos erscheinenden Kampf um ein Ja der Briten im Jahr 2006 kämpfen lassen würde, statt selbst als Premierminister hier bereits eine erste Niederlage zu erleben. Diese Option gibt es für den Herausforderer nun nicht mehr. Zudem konnte sich der Premier auf dem gescheiterten Gipfel in Brüssel vorerst als Bewahrer britischer Interessen und als handlungsfähiger Staatsmann in Szene setzen.
Zusätzlich gelang es Blair, auch durch persönlichen Einsatz, die Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees dazu zu bringen, die Olympischen Spiele 2012 nach London und nicht, wie allgemein erwartet, nach Paris zu vergeben. Ebenso wie auf dem vom Bombenterror überschatteten G-8-Gipfel im schottischen Gleneagles Anfang Juli 2005 bewies Blair der britischen Öffentlichkeit erneut, dass er britische Interessen im In- und Ausland erfolgreich zu vertreten weiß.
Eigentlich sollte das Treffen der acht wichtigsten Industrieländer (G 8) in Schottland der Höhepunkt einer seit der Unterhauswahl kaum mehr erwarteten Erfolgsgeschichte des Premiers werden. Blair wollte auf dem Gipfel als Gastgeber Meilensteine setzen: ein Entschuldungsprogramm für Afrika und Verhandlungen über eine Wende in der amerikanischen Klimapolitik.
Doch die Bombenanschläge am 7. Juli 2005 auf das Londoner Verkehrsnetz ebenso wie die versuchten Anschläge vom 21. Juli ließen den G-8-Gipfel in den Hintergrund treten. Allerdings zeitigten die Anschläge einen anderen Effekt, als es sich die Terroristen wohl erhofft hatten. Zwar überschattete die Tragödie, bei der über 50 Menschen ermordet wurden, den Gipfel in Schottland. Aber die britische Öffentlichkeit und der Premierminister wurden durch den Terror nicht gespalten. Im Gegenteil: Wer die Bilder von stoisch und ruhig den Horror ertragenden Bürgern auf Londons Straßen vor Augen hat, konnte schon am Tag der Anschläge erahnen, dass die Terroranschläge das Land hinter dem Premier vereinten. Regierung und Opposition schlossen angesichts der Bedrohung demonstrativ die Reihen, und kritische Stimmen, die einen Zusammenhang zwischen dem Terror in London und dem Irakkrieg zu konstruieren suchten, fanden kaum Widerhall. Abzuwarten bleibt, ob sich diese Stimmungslage angesichts der anhaltenden terroristischen Bedrohung verfestigt.
Über Blair hinaus
Die Rufe nach einem raschen Rücktritt Blairs sind verstummt; frühestens 2007 wird man in dieser Richtung Schritte erwarten können. Sicher scheint nur, dass Blair kaum als einfacher Abgeordneter im Parlament bleiben, sondern sich aus Westminster zurückziehen wird. Über den Termin werde er allein entscheiden.
Im Parlament wird Blair und auch sein Nachfolger einen anderen Weg der Zusammenarbeit als bislang finden müssen, denn mit einer Mehrheit von "nur" 66 Sitzen regiert es sich anders als mit 165 Sitzen Vorsprung. Es gibt genügend Themen in der Sozial-, Innen- und Rechtspolitik, die bereits im letzten Parlament innerhalb der Fraktion umstritten waren und die jetzt erneut anstehen. So werden etwa die Verschärfung der Anti-Terror-Gesetzgebung und die damit verbundene Einschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte ebenso wie die geplante Einführung eines Personalausweises bzw. eines Meldewesens innerhalb der Labour-Fraktion für Diskussionen sorgen. Dabei wird Blair mit altbekannten Gegnern zusammenarbeiten müssen: 218 Labour-Abgeordnete stimmten in der vergangenen Legislaturperiode gegen die Linie der Parteiführung. Von diesen sind 87 hartnäckige Rebellen, die zum Teil mehr als zehnmal gegen die eigene Regierung votiert haben. Von diesen sind zwar 27 aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr ins neue Unterhaus zurückgekehrt. Es verbleiben aber 60 Abgeordnete in der Fraktion, die für ihre prinzipielle Ablehnung des Kurses von New Labour bekannt sind. Angesichts der geschmolzenen Mehrheit müssten nur etwas mehr als die Hälfte dieser 60 bei einer Abstimmung gegen den Fraktionsvorsitzenden (Labour whip) votieren, um der Regierung eine parlamentarische Niederlage zu bereiten.
Dies wird sich auch in der "Nach-Blair-Ära" kaum ändern, denn wer in der Partei oder der Öffentlichkeit auf Veränderungen der politischen Inhalte hofft, wenn Gordon Brown das Amt führt, dürfte enttäuscht werden.
Internetempfehlungen
Externer Link: www.labour.org.uk
Externer Link: www.conservatives.com
Externer Link: www.libdems.org.uk
Prime Minister's Strategy Unit: Externer Link: www.strategy.gov.uk
Prime Minister's Delivery Unit: Externer Link: www.cabinetoffice.gov.uk/pmdu