Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die Zukunft der nuklearen Ordnung | Nonproliferation | bpb.de

Nonproliferation Editorial Die Zukunft der nuklearen Ordnung Das iranische Atomprogramm Poker um Nordkoreas Atomprogramm Das Proliferationsnetzwerk um A. Q. Kahn Terrorgruppen und Massenvernichtungswaffen

Die Zukunft der nuklearen Ordnung

Harald Müller

/ 17 Minuten zu lesen

Die Überprüfungskonferenz des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages scheiterte im Mai in erster Linie an der Weigerung der Kernwaffenstaaten, ihre eingegangenen Abrüstungsverpflichtungen anzuerkennen.

Einleitung

In den frühen sechziger Jahren trieb die Kennedy-Regierung ein weltpolitischer Alptraum um: In ein oder zwei Dekaden, so befürchtete man, werde es zwanzig bis dreißig Kernwaffenstaaten geben. In einer solchen Welt wäre ein Nuklearkrieg dann nur noch eine Frage der Zeit. Selbst wenn das amerikanisch-sowjetische strategische Verhältnis stabil gehalten werden könne, sei es durchaus vorstellbar, dass die beiden Supermächte durch die eigenmächtigen Aktionen anderer kleiner Atommächte in einen "katalytischen Krieg" hineingezogen würden. Dieser Alptraum motivierte die entschlossene Unterstützung der USA für den irischen Vorschlag, einen Nichtverbreitungsvertrag abzuschließen. Washington konnte Moskau für diese Idee gewinnen. 1970 trat der Vertrag in Kraft.

Seither hat es alle fünf Jahre Überprüfungskonferenzen des Nichtverbreitungsvertrages (NVV) gegeben. 1995 wurde dieses Treffen als kombinierte Verlängerungs- und Überprüfungskonferenz abgehalten, denn die Vertragsdauer war zunächst auf 25 Jahre befristet. Diese Frist wurde 1995 einvernehmlich aufgehoben. Von den Verlängerungskonferenzen endeten drei (1975, 1985, 2000) mit einem Konsens. 1980, 1990 und 1995 gingen die Parteien jedoch auseinander, ohne sich auf eine Schlusserklärung geeinigt zu haben. 1995 war das noch hinnehmbar, hatten doch die Vertragsparteien dem Entfristungsbeschluss Entschließungen über "Prinzipien und Ziele", einen "erweiterten Überprüfungsprozess" und über den Mittleren Osten beigegeben, die über den Mangel einer Schlusserklärung mehr als hinwegtrösteten.

Im Jahre 2005 hingegen endete die Überprüfung in einem präzedenzlosen Desaster. War in früheren Fällen die gemeinsame Schlusserklärung knapp an einer einzigen Frage gescheitert, so gab es diesmal überhaupt keine Einigung über irgendeine Frage. Mit knapper Not entgingen die Delegierten einem Konferenzende ohne "formalen" Report, das heißt: einem Bericht an die Außenwelt. Die Vertragsgemeinschaft präsentierte sich als zerstrittenes Amalgam von Staaten und Staatengruppen.

Schlechte Vorzeichen und ihre Ursachen

Bereits zu Beginn stand die Überprüfungskonferenz unter keinem guten Stern. Der Vorbereitungsprozess (drei zweiwöchige Treffen) war von permanentem Streit gekennzeichnet, und die Delegationen starteten ihre Arbeit ohne eine vereinbarte Tagesordnung. Ursächlich für diese missliche Lage war eine beispiellose Position der USA, der sich Frankreich, wenngleich mit großer Diskretion, angeschlossen hatte: Man beanspruchte, die Ergebnisse der Überprüfungskonferenz von 2000 hinsichtlich der dort getroffenen Vereinbarungen über die nukleare Abrüstung zu ignorieren. Damals hatte man sich auf "Dreizehn Schritte" eingelassen, die eine Kombination von Abrüstungsprinzipien und konkreten Maßnahmen darstellten. Zu den Prinzipien zählten beispielsweise Transparenz und eine Minderung der Rolle von Kernwaffen in den nationalen Strategien. Zu den konkreten Schritten zählten der Beginn von Verhandlungen über ein verifizierbares Ende derSpaltstoffproduktion für Waffenzwecke (FMCT) und die Einbeziehung taktischer Kernwaffen in die vereinbarte Abrüstung.

Der Bush-Administration passte das Setzen verbindlicher Abrüstungsnormen nicht in ihr Konzept einer möglichst großen militärpolitischen Handlungsfreiheit. Die freundliche Erwähnung des mittlerweile gekündigten ABM-Vertrags und die dringende Aufforderung, den Teststopp in Kraft zu setzen, behagten der US-Administration ebenso wenig wie die Befürwortung eines verifizierbaren FMCT, denn die gegenwärtige Regierung möchte nicht, dass auswärtige Inspektoren im amerikanischen Nuklearkomplex "herumschnüffeln". Was die französische Regierung zu ihrem Handeln motivierte, ist schwer zu verstehen. Anscheinend missfällt es ihr, dass generelle Verpflichtungen hinsichtlich der glorreichen "Force de Frappe" eingegangen werden müssen. Die starre Haltung der Kernwaffenstaaten war ausschlaggebend dafür, dass die "blockfreien" Staaten mit Misstrauen und Frustration in die Konferenz eintraten. So nahmen beispielsweise die Ägypter dem Iran, der unter erheblichem Druck wegen seiner sensitiven nuklearen Aktivitäten stand und dem an einer einigen Vertragsgemeinschaft daher wenig gelegen war, über weite Strecken die Rolle des "Störenfrieds" ab.

Die Problematik, hinsichtlich getroffener Vereinbarungen auf früheren Überprüfungskonferenzen "zurückzurudern", liegt in der wichtigen Rolle solcher Konferenzen in der Entwicklung eines Vertragsregimes. Verträge sind aus zwei Gründen provisorische Einrichtungen. Erstens: Sie sind in Sprache gegossen und enthalten daher zwangsläufig interpretationsbedürftige Zweideutigkeiten. Überprüfungskonferenzen sind die Orte, an denen die Vertragsgemeinschaft einvernehmlich ihre autoritative Interpretation solcher streitigen Passagen verhandeln kann. Zweitens: Verträge werden zu einem bestimmten Zeitpunkt und unter bestimmten Umständen abgeschlossen. Gäbe es keine Möglichkeit, das Vertragsregime mit dem Wandel zu entwickeln, würden Verträge schnell obsolet und könnten womöglich zerbrechen. Vertragsänderungen sind schwierig, weil ihre rechtlichfixierten Bedingungen sehr anspruchsvollsind. Überprüfungskonferenzen bieten daher die Chance, die Anpassung mittels "weichem" Recht, das heißt durch Neuinterpretation und ergänzende Maßnahmen, zu vollziehen. Im NVV ist dies wiederholt geschehen (etwa durch die Feststellung der Konferenz, es gebe keinen plausiblen Grund für "friedliche Kernexplosionen", ein Recht, das in Art. V niedergelegt war).

Damit Überprüfungskonferenzen diese Aufgabe wahrnehmen können, müssen sich freilich die Mitglieder darauf verlassen können, dass deren gemeinsam beschlossene Ergebnisse auch von allen akzeptiert werden - gegen diese Norm haben die USA und Frankreich verstoßen und somit ein bewährtes Instrument der Regime-Entwicklung (nicht nur in der Nichtverbreitung) ohne Not in Frage gestellt. Die Empörung der blockfreien Länder ist insofern durchaus verständlich, und es ist ein Armutszeugnis für die westliche Medienwelt, dass über Wochen hinweg der missliche Zustand der Verhandlungen den Exponenten der blockfreien Bewegung, namentlich Ägypten, angelastet wurde, während die eigentlichen Urheber kaum kritisiert wurden.

Die Konferenz befasste sich insgesamt drei Wochen nur mit Verfahrensfragen. Zunächst kämpfte man um die Tagesordnung; dabei ging es im Kern darum, ob die Überprüfung Bezug auf die Schlusserklärung von 2000 nehmen dürfe. Sodann stritt man um dieselbe Frage hinsichtlich des Arbeitsprogramms, wobei die Einrichtung von Unterausschüssen von besonderer Bedeutung war. In den letzten Tagen wurde dann um einen rein formalen Bericht gerungen, weil man sich in keiner einzigen inhaltlichen Frage hatte einigen können. Die Verfahrensdebatten waren auch deshalb so zäh, weil der Präsident Plenarsitzungen vermied und die Streitfragen in kleinen Konsultationen mit den Ausschussvorsitzenden und den Vorsitzenden der Regionalgruppen zu lösen versuchte. Diese Personen hatten jedoch kein Verhandlungsmandat und mussten sich in jeder Einzelfrage des Konsenses ihrer Gruppen versichern. Das war nicht nur zeitraubend, sondern erlaubte es auch den extremen Kräften auf beiden Seiten (Ägypten, Iran, Kuba einerseits, USA andererseits), die Gruppen jeweils auf nicht konsensfähige Positionen zu platzieren. Dass der Präsident seine eigenen Vorschläge zunächst jeweils vorab mit den USA abstimmte, machte sie für die blockfreien Länder von vornherein unannehmbar, und erst als er diese Praxis änderte, kam es zu Gesprächen. Insgesamt stellte diese Konferenz ein seltenes Desaster multilateraler Konferenzdiplomatie dar - und das ausgerechnet in einem Augenblick, in dem das Nichtverbreitungsregime durch die nuklearen Krisen in Ostasien und im Iran einer besonderen Herausforderung gegenübersteht. Wie konnte es dazu kommen?

Die Akteure und ihre Interessen

Die USA

Die amerikanische Delegation setzte John Boltons Linie der Abwertung des Multilateralismus in ihren Konferenzaktivitäten um. Der relative Bedeutungsverlust des NVV aus der Sicht Washingtons heißt nicht, dass die USA den Vertrag völlig ignorierten. Solange er die rüstungspolitische Handlungsfreiheit der Staatenmehrheit beschränkt und eventuellen amerikanischen Sanktionen gegen kernwaffenproduzierende Staaten als Legitimationshilfe dient, wird er von den USA akzeptiert. Aber er ist nicht so unumstritten, dass er umgekehrt Beschränkungen der amerikanischen Handlungsfreiheit begründen könnte, etwa durch die Ratifizierung des Teststoppvertrages. Die USA sehen das Instrumentarium der Nichtverbreitung heute weitgehend außerhalb des Vertrages: bei der Gruppe der nuklearen Lieferländer, der Proliferation Security Initiative, der Sicherheitsratsresolution 1540, der globalen Gefahrenminderungs-Initiative und der eigenen militärischen Counterproliferation.

In seiner Kernwaffenplanung plant und entscheidet das Verteidigungsministerium ausschließlich unter technischen und strategischen Gesichtspunkten. Laufen diese mit Abrüstungsverpflichtungen parallel - etwa im Bestreben, die Bestände durch Reduzierung an die veränderten Bedrohungslagen anzupassen -, bietet dies die Chance, solche Maßnahmen als vertragskonformen Abrüstungsschritt zu deklarieren. Erfordert die Lageanalyse aus der Sicht des Pentagons hingegen Rüstungsmaßnahmen, werden diese ohne Rücksicht auf den NVV verwirklicht, etwa indem man neue Waffen mit relativ geringer Sprengwirkung entwickelt, um Führungsbunker oder Massenvernichtungswaffenlager und -produktionsstätten zerstören zu können. Unter diesen Umständen war es nachvollziehbar, dass die USA in die Konferenz von vornherein mit der Erwartung eingetreten sind, dass für sie kein befriedigendes Ergebnis zu erzielen sei: In jedem Fall hätte es Washington Konzessionen in der Abrüstungsfrage abgefordert, zu denen die US-Regierung nicht bereit war.

Nun wird die Mission der Supermacht, Stabilität in der Welt zu gewährleisten, durch die Schwächung des NVV - wie multilateraler völkerrechtlicher Regime insgesamt - keineswegs einfacher, eine Einsicht, die von einigen amerikanischen Analytikern durchaus geteilt wird. Der weltanschaulich verankerte Unilateralismus führender Mitglieder der Bush-Regierung wird von solchen Überlegungen jedoch nicht tangiert. Wann immer sich in der Gruppe der westlichen Länder Widerstand zeigte, änderte die US-Regierung ihre Position. Washington wollte keinen zu tiefen Graben zwischen sich und den westlichen Partnern entstehen lassen; auch sollte nicht offenkundig werden, wie groß die Verantwortung war, die Washington für die Blockade der Konferenz trug.

Russland und China

Im Vergleich zu den USA spielte Russland eine eher unauffällige Rolle. Es lavierte zwischen amerikanischen Positionen (Ablehnung der Rüstungskontrolle bei substrategischen Waffen) und chinesischen Positionen (Entmilitarisierung des Weltraums), gelegentlich auch zwischen den Präferenzen der blockfreien Staaten hin und her. Die russische Delegation vermied es sorgfältig, in die Rolle des "Showstoppers" manövriert zu werden, obwohl man auch in Moskau die "Dreizehn Schritte" für obsolet hält, weil die eigene Zustimmung unter der Voraussetzung zustande gekommen war, dass das Verbot der Raketenabwehr im ABM-Vertrag erhalten bliebe - diesen Vertrag hat Präsident Bush jedoch 2002 gekündigt. Augenscheinlicher als bei den USA wurde seitens der russischen Delegation deutlich, dass man im NVV ein auch für das nationale Interesse eminent nützliches sicherheitspolitisches Instrument sieht.

China war ein Konferenzgewinner, obwohl es den Ausgang gewiss so nicht gewünscht hatte. China war ungewöhnlich aktiv, was sich in zahlreichen Arbeitspapieren niederschlug. Die in jüngster Zeit vollzogene Anerkennung des Multilateralismus als wichtige Voraussetzung der Sicherheit und des weltweiten Einflusses Chinas manifestierte sich hier eindrucksvoll. Chinas Positionen lehnten sich überwiegend eng an die der blockfreien Staaten an. Damit präsentierte es sich, anders als die westlichen Kernwaffenstaaten, als Verbündeter. Fraglos hat es durch die Konferenz "gut gepunktet"; das ist insoweit eine Ironie, als China als einziger Kernwaffenstaat augenblicklich langsam, aber beharrlich seine Kernwaffenbestände erweitert.

Besondere Beachtung verdient mit Blick auf die Zukunft die Beziehung zu den islamischen Ländern. Chinas wirtschaftliche Beziehungen zum Iran sind eng und werden weiter ausgebaut. Bei dem massiven Interesse des "Reiches der Mitte" an einer gesicherten Energieversorgung kann angenommen werden, dass China wünscht, auch in der arabischen Welt mehr als bisher Fuß zu fassen. Ägypten mag sich dazu in absehbarer Zeit als neuer Partner anbieten, denn die Frustration Kairos über die amerikanische Schutzmacht wurde überdeutlich. Sollte China sich entschließen, den Ägyptern ein alternatives Subventionsangebot für ihren defizitären Haushalt zu machen - gegenwärtig das herausragende Einflussmittel Washingtons -, könnten die USA ihren wichtigsten arabischen Verbündeten verlieren. Die Konferenz könnte eine wichtige Etappe in einem derartigen "Realignment" dargestellt haben.

Frankreich und Großbritannien

Abgesehen von den USA gab sich die französische Delegation unter den Kernwaffenstaaten am unzugänglichsten. Auch sie wollte von den "Dreizehn Schritten" von 2000 Abstand nehmen, obwohl Frankreich wie alle anderen EU-Partner diese in der Gemeinsamen Position als Verhandlungsgrundlage akzeptiert hatte.

In den Verfahrensfragen erwies sich Frankreich als flexibler. Dies lag jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit am Gruppendruck innerhalb der EU-Konsultationen. Wie die USA in der westlichen Gruppe, so wollte sich Frankreich bereits unter den europäischen Partnern nicht allzu sehr exponieren. Wenn es nicht gelang, sie auf die französische Linie zu bringen - was selten der Fall war -, dann war die französische Delegation zu Kompromissen bereit.

Frankreichs Perspektive scheint durch restriktiv definierte nationale Interessen verengt und nicht in der Lage, die langfristigen negativen Folgen der amerikanisch-französischen Politik realistisch einzuschätzen. Bei näherer Betrachtung ist es nahezu rätselhaft, welche essentiellen französischen Sicherheitsbelange dadurch beeinträchtigt sein sollen, dass man Abrüstungsschritte und -prinzipien bekräftigt, denen man 2000 hat zustimmen können. Als positiver Eindruck bleibt, dass Frankreich nach wie vor darauf Wert legt, sich von seinen europäischen Partnern nicht allzu sehr zu isolieren. Für Europa ist das gut, der Zukunft der Nichtverbreitung nutzt es jedoch nur wenig.

Der britische Delegationschef spielte als Vorsitzender der westlichen Gruppe über weite Strecken die Rolle des "getreuen Eckart" für die USA. Seine Taktik zielte darauf ab, die prozedurale Unbeweglichkeit der USA dadurch zu verschleiern, dass er die gesamte Gruppe auf diese Position verpflichtete und damit die blockfreien Staaten scheinbar für die Verzögerungen verantwortlich machte. Großbritannien trug damit zur Konfrontation während der Konferenz bei. Dies war insofern kurios, als Londons substantielle Positionen in Abrüstungsfragen klar kompromissbereiter waren als die Frankreichs und der USA. Vorrang hatte jedoch offenkundig das Bestreben, den amerikanischen Bündnispartner nicht zu isolieren. Die Vereinzelung fürchtete freilich auch Großbritannien: Zeichnete sich in der EU Einigkeit für Kompromisse mit den blockfreien Staaten ab, stellte sich die britische Delegation letztlich nicht dagegen.

Deutschland und die EU

Die Europäische Union kam durch die Isolierungsfurcht der drei westlichen Kernwaffenstaaten unversehens in die Rolle eines "dynamischen Treibers" des Konferenzgeschehens, wenn man in diesem Zusammenhang das Wort Dynamik überhaupt verwenden will. Zwar gibt es in der Union inhaltliche Gegensätze zwischen Kernwaffenstaaten und Nichtkernwaffenstaaten, Befürwortern und Gegnern der Kernenergie. Solange sich die Konferenz indes ausschließlich um Prozedurales drehte, spielten diese Kontroversen keine Rolle. Und an inhaltlichen Verhandlungen war die große Mehrheit der Partnerländer brennend interessiert. Die EU wurde so zu der Kraft, die das Verfahrenspatt auflöste: Erst schuf man Einigkeit darüber, die Kompromissvorschläge des Präsidenten zu unterstützen. Dann zog man mit dieser Position die übrigen westlichen Staaten mit, bis nur noch die USA übrig blieben. War dieser Punkt einmal erreicht, war auch ein Wechsel der amerikanischen Position nur noch eine Frage der Zeit. Dreimal wurde dieses Spiel im Konferenzverlauf gespielt, dreimal hatte es Erfolg. Damit war die EU entscheidend dafür verantwortlich, dass wenigstens ein formaler Konferenzbericht verabschiedet werden konnte.

Diese konstruktive Rolle der Europäischen Union war weitgehend das Verdienst der höchst energischen deutschen Delegationsführung. Sie hatte keinen Bewegungsspielraum, solange der Konferenzpräsident seine prozeduralen Vorschläge eng mit den USA koordinierte und damit die blockfreien Staaten in die Position des "Störenfrieds" manövrierte. Sobald der Präsident Sérgio de Queiroz Duarte jedoch Kompromissvorschläge vorlegte, die von den amerikanischen Präferenzen abwichen, gewann die Standardformel "den Präsidenten unterstützen" eine neue Bedeutung. Dies machte sich die deutsche Delegation zu Nutze, um die Europäische Union auf die präsidentiellen Vorschläge zu verpflichten. Damit war die angesprochene Dynamik in Gang gesetzt, die den konstruktiven Fortgang der Verhandlungen ermöglichte. Bezeichnend ist, dass sich keine andere westliche Delegationsführung zu dieser Art von Initiative durchringen konnte; abweichende Positionen von der Führungsmacht sind mittlerweile tabuisiert.

Die "Gemeinsame Position", welche die EU für die Konferenz vorbereitet hatte und die sie auch als Arbeitspapier dort einbrachte, reflektierte durchaus auch die von Deutschland gewünschten Schwerpunkte, wie zum Beispiel die Abrüstung taktischer Kernwaffen, die Bekämpfung des nuklearen Terrorismus und den Umgang mit Vertragsbrüchen und -rücktritten. Selbst eine freundliche Bemerkung über die Ergebnisse von 2000 war darin enthalten. Einzelne Teile dieses Dokuments wurden später in die Hauptausschüsse eingebracht. Schließlich gab es auf Grund des deutschen Einsatzes auch noch ein separates Arbeitspapier zum Problem des Vertragsrücktritts. Während der kurzen inhaltlichen Verhandlungsphase gegen Ende der Konferenz erwies sich jedoch, dass die meisten EU-Partner überwiegend ihre eigenen Interessen verfolgen. Frankreich entpuppte sich, wie erwähnt, als Partner der USA in ihrer Zurückweisung der Abrüstungsbeschlüsse von 2000. Schweden und Irland stellten sich als Mitglieder der New Agenda Coalition dar, einer Nord und Süd überspannenden Gruppe, der auch Neuseeland, Ägypten, Brasilien, Südafrika und Mexiko angehören und deren Abrüstungsforderungen de facto in einer Wiederholung der "Dreizehn Schritte" von 2000 bestanden. Dänemark, Irland, Schweden, Österreich, Ungarn und die Niederlande kooperierten wie in den Jahrzehnten zuvor in der G-10 (mit Australien, Kanada, Neuseeland, Norwegen), die Vorschläge für die Art. III und IV des NPT-Vertrages vorlegten. Die Niederlande, Belgien, Italien, Spanien und Litauen verfassten mit Norwegen und Rumänien das Papier der "NATO-7" zu zahlreichen Vertragsfragen. Wieder war es die deutsche Delegation, die mit der größten Konsequenz die Forderungen aus der "Gemeinsamen Position" vortrug.

New Agenda Coalition und die blockfreien Staaten

Die New Agenda Coalition hatte 2000 die entscheidenden Verhandlungen zu Abrüstungsfragen mit den Kernwaffenstaaten geführt. 2005 war diese Gruppe von marginaler Bedeutung. Zwischen Ägypten und Südafrika tobt eine bittere Rivalität um die Kandidatur für einen permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat, und dieser Wettbewerb war deutlich zu spüren. Brasilien war durch die Konferenzpräsidentschaft, Schweden durch die Leitung des "Hauptausschusses III" ausgelastet. Der neuseeländische Delegationsleiter war überwiegend damit beschäftigt, sich gegen den niederländischen Kandidaten bei der Bewerbung für die Leitung des "Unterausschusses Abrüstung" durchzusetzen. Mexiko und Irland engagierten sich ebenfalls kaum. Das Arbeitspapier, das die Errungenschaften von 2000 verteidigte, war der einzige greifbare Hinweis auf die fortgesetzte Existenz der Gruppe.

Der Zusammenhalt der Gruppe der blockfreien Staaten konnte bei spürbaren inhaltlichen Divergenzen nur gewahrt bleiben, weil die eher gemäßigte Mehrheit sich wiederholt den radikaleren Vorschlägen der ägyptischen, kubanischen und iranischen Delegationen anschloss. Zu dieser zögerlichen Solidarisierung trug maßgeblich die ablehnende Haltung derwestlichen Kernwaffenstaaten bei, die derKompromissbereitschaft des gemäßigten blockfreien Lagers nicht zuträglich war. Einig war man sich jedoch darüber, dass die Vereinbarungen von 2000 Bestand haben müssten.

Die Delegation des Iran verließ die Konferenz hingegen sichtlich zufrieden. Die gespaltene Vertragsgemeinschaft bietet für den Iran angenehmere Rahmenbedingungen im Streit um die Anreicherung von atomwaffenfähigem Material als eine geschlossene Front aller vertragstreuen Staaten. Der Zorn vieler blockfreier Staaten über die amerikanische Position ist - aus iranischer Sicht - eine Ressource für eine höchst erwünschte Solidarität, etwa im Gouverneursrat der Internationalen Atomenergieorganisation in Wien.

Was mag die ägyptische Delegation dazu motiviert haben, die unbestrittene Führerschaft der blockfreien Staaten in der "harten Linie" zu übernehmen, zumindest was die prozeduralen Fragen betrifft? Deutlich wurde, dass die Bekräftigung der Beschlüsse von 2000 die absolute Minimallinie für Ägypten war und das Scheitern der Konferenz bewusst einkalkuliert wurde, falls diese Minimallinie nicht zu halten war, wobei dem Umgang mit der Nuklearfrage im Nahen Osten besondere Bedeutung zukam. Diese Haltung könnte aber auch von dem Grundsatz geprägt sein, dass es ein Gebot der Fairness ist, Verpflichtungen auf allen Seiten nach gleichem Standard einzuhalten. Ägypten könnte jedoch auch über den Nutzen, den es über fünfundzwanzig Jahre aus dem Vertrag gezogen hat, maßlos enttäuscht sein und gefolgert haben, dass er seinem nationalen Interesse nicht länger dient: Weder hat er zu einem Gegengewicht zu Israels Kernwaffenprogramm geführt noch zur Abrüstung noch zu belastbaren Sicherheitsgarantien für Nichtkernwaffenstaaten; dies sind die drei zentralen Interessen, die Kairo im Zusammenhang mit dem NVV seit Jahrzehnten verfolgt. Unter diesem Gesichtspunkt wird der Vertrag - ähnlich wie für die Bush-Administration - zu einer Spielmasse nationaler Interessen, etwa als Forum für die Werbung um den Sicherheitsratssitz.

NRO und Medien

Dem Nichtregierungssektor wird zusehends ein wohltätiger Effekt auf die Gestaltung der globalen Sicherheitspolitik zugeschrieben, da die Nichtregierungsorganisationen (NROs) in ihrer gemeinnützigen Orientierung die nationalen Egoismen der Staatenwelt hinter sich lassen und die Medien für ein gewisses Maß an notwendiger Transparenz sorgen. Nicht weniger als 159 NROs und Forschungseinrichtungen nahmen als Beobachter teil. In ihrer Macht hätte es stehen können, die Zivilgesellschaft zu mobilisieren, als sich der offenkundige Streit zwischen den in Verfahrensfragen verbissenen Delegationen entfaltete. Stattdessen übten sich die NRO-Vertreter im Routinebetrieb ihrer täglichen Veranstaltungen, Informationsbroschüren, gelegentlichen Informations- und Lobbygesprächen mit Delegierten.

Die Medien hatten Probleme, die Ereignisse im Feld der nuklearen Nichtverbreitung angemessen zu interpretieren. Sofern es überhaupt Berichterstattung gab, ging diese häufig an der Sache vorbei, was aber angesichts des destruktiven Fortgangs der Konferenz nicht verwunderlich war.

Die Folgen

Eines geht aus der Konferenz klar hervor: Wenn die Kernwaffenstaaten nicht glaubwürdig darlegen können, dass sie ihre Abrüstungsverpflichtung ernst nehmen, kontern die blockfreien Staaten damit, dass sie sich jeder Verbesserung der Maßnahmen zur Nichtverbreitung verweigern. Die blockfreien Staaten haben genug vom langen Warten auf Abrüstungsschritte. Sie sind enttäuscht über die Weigerung der USA, den Teststopp in Kraft zu setzen. Und warum sollten die blockfreien Staaten weniger stupide agieren als die extrem kurzsichtigen Nuklearmächte? Die Blockfreien wiesen den Vorschlag zurück, das neue Zusatzprotokoll zum NVV, das weitgehende Informations- und Zugangsrechte für die Inspekteure vorsieht und das Verifikationssystem entscheidend stärkt, zum verbindlichen Standard zu machen. Sie lehnte die Fortsetzung der Arbeiten an Optionen für die Multilateralisierung des Brennstoffkreislaufs ab, ebenso effektivere Exportkontrollen, die stärkere Institutionalisierung des Überprüfungsprozesses und die Festlegung von Regeln für den Vertragsrücktritt. Nicht einmal die Sicherheitsratsresolution 1540 sollte unterstützt werden, obgleich sie für alle Mitgliedsstaaten verpflichtend ist! So wenig trauen die Entwicklungsländer mittlerweile offenbar dem Westen.

Die Kernwaffenstaaten ihrerseits beharren auf ihrer vertragswidrigen Ablehnung, energische Abrüstungsschritte bis zur völligen Eliminierung des Vertrages zu gehen. Die fehlenden Verbesserungen des Vertragsregimes dienen vor allem seitens der USA der Bestätigung ihres Generalvorbehalts gegenüber der Nützlichkeit multilateraler Verträge in der Sicherheitspolitik. So provozieren sich die Kontrahenten wechselseitig. Leidtragende sind der NVV selbst sowie jene Länder, die ihn ernsthaft erhalten und stärken wollen, so wie Kanada, Schweden, Irland, Ungarn, Argentinien und auch Deutschland.

Dieser Prozess hat den Wert des NVV als Barriere gegen Entscheidungen, sich Kernwaffen zuzulegen, geschwächt. Darüber sollten keine Illusionen bestehen. Gerade in den achtziger und neunziger Jahren hat die Stärke dieser Norm maßgeblich dazu beigetragen, eine Reihe von Kernwaffenprogrammen zu beenden, so in Argentinien, Brasilien, Südafrika, Algerien sowie in den nuklear bestückten Nachfolgestaaten der Sowjetunion mit der Ukraine an der Spitze. Der Vertrag wird schwächer, während die iranische und die nordkoreanische Krise dringend nach einer starken Norm und einer dahinterstehenden einigen Vertragsgemeinschaft verlangen. Sollten die Krisen nicht gelöst werden können, droht die völlige Erosion des NVV.

Japan wird auf ein nordkoreanisches Kernwaffenarsenal möglicherweise selbständig reagieren. Südkorea würde dann wohl kaum der einzige Nichtkernwaffenstaat im Umkreis der Halbinsel bleiben, und auch Taiwan könnte folgen. Was den Nahen Osten angeht, ist schon darauf hingewiesen worden, dass Ägypten eine nukleare Bewaffnung des Iran wohl nicht tolerieren würde. Auch die Türkei und Saudi-Arabien wären gefährdet. Dies wiederum würde schon aus Statusgründen auch Syrien, Algerien, womöglich sogar wieder Libyen, auf den Plan rufen.

An diesem Punkt würden Status- und Prestigeerwägungen eine wachsende Rolle spielen. Der Nichtkernwaffenstatus könnte auch in statusbewussten Ländern wie Südafrika, Nigeria, Argentinien, Brasilien und Indonesien überdacht werden. Weiter muss man die Proliferationsketten gar nicht durchdenken: Schon unter diesen Voraussetzungen könnten wir uns 2020 in einer Welt mit zwei Dutzend Kernwaffenstaaten befinden. Nukleare Abschreckung würde in einem derartigen nuklearen Pluralismus wohl nicht mehr funktionieren, und Terroristen hätten sehr viel bessere Chancen, sich Zugang zu Waffen und Waffenmaterial zu verschaffen. In einer solchen Welt gibt es keine Sicherheit mehr. Dennoch haben wir uns auf sie zubewegt. Die Überprüfungskonferenz von 2005 war ein Schritt im "Marsch der Torheit", dem "march of folly", den die Historikerin Barbara Tuchman als ein sich fatal wiederholendes Phänomen in der Menschheitsgeschichte nachgewiesen hat. Heute freilich ist es ein Marsch mit Atombomben. Wir sollten alles unternehmen, um ihn zu stoppen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Um den NVV zu ändern, muss eine Sonderkonferenz der Vertragsparteien einberufen werden, die mehrheitlich die Änderung beschließt. Damit die Änderung rechtlich verbindlich wird, muss die Mehrheit der Vertragsparteien sie ratifizieren, darunter alle fünf Kernwaffenstaaten und alle Staaten, die zum Zeitpunkt des Änderungsbeschlusses Mitglied im Gouverneursrat der Internationalen Atomenergieorganisation sind - eine nahezu unüberwindbare Hürde.

  2. Die folgenden Abschnitte sind eine gekürzte und überarbeitete Version von Harald Müller, Vertrag im Zerfall? Die gescheiterte Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages und ihre Folgen, Frankfurt/M., HSFK-Report (2005) 4, Kap. 6 und 7.

  3. Vgl. Harald Müller/Annette Schaper, US-Nuklearpolitik nach dem Kalten Krieg, Frankfurt/M., HSFK-Report (2003) 3.

  4. Statement by Stephen G. Rademaker to the 2005 Review Conference of the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons, New York, May 2, 2005, S. 4.

  5. Vgl. z.B. Joseph S. Nye, The American Interest and Global Public Goods, in: International Affairs, 78 (2002) 2, S. 233 - 244.

  6. Vgl. Treaty on the Non-proliferation of Nuclear Weapons (NPT), NPT/CONF.2005/WP.2 - 7.

  7. Statement by H.E. Mr. François Rivasseau, Ambassador, Permanent Representative of France to the Conference on Disarmament, New York, May 2005.

  8. Vgl. NPT/CONF.2005/WP. 43, 44, 45.

  9. Vgl. NPT/CONF.2005/WP.32.

  10. Vgl. NPT/CONF.2005/WP.27.

  11. Vgl. NPT/CONF.2005/WP.9 - 14.

  12. Vgl. NPT/CONF.2005/WP.35.

  13. Vgl. NPT/CONF.2005/WP.27.

  14. Vgl. NPT/CONF.2005/WP.17.

  15. Darauf lässt jedenfalls das eingebrachte Arbeitspapier schließen: NPT/CONF.2005/WP.36.

  16. Vgl. NPT/CONF.2005/INF.2.

  17. Barbara Tuchman, Die Torheit der Regierenden: Von Troja bis Vietnam, Frankfurt/M. 1984.

Dr. phil., geb 1949; o. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt und geschäftsführendes Vorstandsmitglied der HSFK, Leimenrode 29, 60322 Frankfurt/M.
E-Mail: E-Mail Link: mueller@hsfk.de