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Alle an einem Tisch | Identitätspolitik | bpb.de

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Alle an einem Tisch Identitätspolitik und die paradoxen Verhältnisse zwischen Teilhabe und Diskriminierung - Essay

Aladin El-Mafaalani

/ 13 Minuten zu lesen

Immer mehr und immer unterschiedlichere Menschen sitzen mit am Tisch und wollen vom Kuchen essen. Wie kommt man eigentlich auf die Idee, dass es ausgerechnet jetzt harmonisch werden soll? Diese Vorstellung ist entweder naiv oder hegemonial. Die Realität ist eine andere.

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich in Deutschland die Lebensverhältnisse von Menschen mit internationaler Geschichte deutlich verbessert – und mit ihnen das, was allgemein für gelungene Integration steht: Wohnverhältnisse, Arbeitsmarktchancen, Sprachkenntnisse sowie Beteiligungschancen am politischen Alltag und im Bildungssystem. Die Probleme, die es zweifellos gibt, lassen sich als Nachwehen politischer Fehler aus den 1960er bis 1990er Jahren verstehen. Gleichzeitig zeigen die Befunde, dass die Teilhabechancen in der Bundesrepublik noch nicht gleich sind, sie deuten lediglich auf eine positive Entwicklung hin. Dass sich diese nachweisbaren Verbesserungen im öffentlichen Diskurs nicht widerspiegeln, hängt auch damit zusammen, dass er dominiert wird von einer romantisch-naiven Vorstellung von Integration.

Nachdem sich erst mit der Jahrtausendwende in der deutschen Öffentlichkeit die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist und eine aktive Integrationspolitik benötigt, wurden zunehmend Veränderungen in der Bevölkerung und Gesellschaft wahrgenommen. In den meisten westdeutschen Großstädten bilden die Kinder mit internationaler Geschichte heute die Mehrheit in den Klassenzimmern. In einigen Städten wird in den nächsten zehn bis 15 Jahren die Gesamtbevölkerung etwa je zur Hälfte "biodeutsch" und "international" sein. Dazu zählen unter anderem die Städte Frankfurt am Main, Stuttgart und München. Zugleich gibt es großflächige Regionen, die mit Migration bisher kaum Erfahrungen haben und in denen, vielleicht deshalb, Sorgen und Ängste besonders groß sind.

Durch Migration beschleunigt sich sozialer Wandel, wodurch die Gesellschaft vielseitiger, unübersichtlicher und insgesamt komplexer wird. Diese Veränderungen überfordern einen großen Teil der Bevölkerung. Der Wandel bezieht sich auf weite Teile der Alltagskulturen: So war es etwa in der Bundesrepublik der 1960er Jahre keineswegs üblich, sich zur Begrüßung zu umarmen oder gar einen Kuss zu geben – oder auf öffentlichen Grünflächen in größeren Gruppen zu sitzen, zu essen und zu trinken. Heute ist es zumindest nicht "untypisch deutsch". Der Wandel findet aber auch auf struktureller Ebene statt und hat weitreichendere Folgen.

Integration führt zu Konflikten

Anders als die gängige Vorstellung von Integration suggeriert, führt der Wandel nicht zwangsläufig zu einer harmonischen Gesellschaft, sondern geht mit Kontroversen und Konflikten einher. Eine Verbesserung der Teilhabechancen im Bildungswesen, auf dem Arbeitsmarkt und im politischen Alltag führt eben nicht zur Homogenisierung von Lebensweisen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Differenz- und Fremdheitserfahrungen häufiger bei gelungener Integration gemacht werden. Unter anderem dadurch, dass sich Minderheiten insgesamt selbstbewusster zu Wort melden, ihre Interessen vertreten, eigene Ansprüche erheben – kurz: dadurch, dass sie am Tisch sitzen und ein Stück vom Kuchen beanspruchen. Entsprechend können auch Verteilungs- und Interessenkonflikte zunehmen. Ein markantes Beispiel: Anlass für den sogenannten Kopftuchstreit war kein Fall von Desintegration. Im Gegenteil: Ausgelöst wurde er von einer deutschen Lehrerin mit Kopftuch, Fereshta Ludin, die 1998 in Baden-Württemberg ihre Tätigkeit als Deutschlehrerin ausüben wollte. Von Behörden und Gerichten wurde es ihr untersagt, weil sie nicht auf das Tragen des Kopftuchs verzichten wollte. Muslimische Reinigungskräfte mit Kopftuch, die kaum Deutschkenntnisse haben und lediglich an Schulen putzen, stellten und stellen die Gesellschaft hingegen vor keine Probleme. Wenn wir also die eingangs erwähnten Parameter als Maßstab für gelungene Integration nehmen – Wohnverhältnisse, Bildungsbeteiligung, Arbeitsmarktchancen, Sprachkenntnisse und politische Partizipation –, war der Auslöser des Kopftuchstreits gelungene Integration.

Immer mehr und immer unterschiedlichere Menschen sitzen mit am Tisch und wollen ein Stück vom Kuchen. Wie kommt man eigentlich auf die Idee, dass es ausgerechnet jetzt harmonisch werden soll? Diese Vorstellung ist entweder naiv oder hegemonial – Multikulti-Romantik oder Monokulti-Nostalgie. Die Realität ist ganz offensichtlich eine andere.

Für die Beschreibung intergenerationaler Integrationsprozesse bietet sich die Tisch-Metapher ebenfalls an: Die erste Einwanderergeneration ist noch vergleichsweise bescheiden und fleißig, beansprucht nicht volle Zugehörigkeit und Teilhabe. Sie sitzt überwiegend auf dem Boden beziehungsweise an Katzentischen. Die ersten Nachkommen beginnen sich an den Tisch zu setzen und bemühen sich um einen guten Platz und ein Stück des Kuchens. Nach einer länger andauernden Phase der Integration geht es dann nicht mehr nur um ein Stück des bestehenden Kuchens, sondern auch darum, welcher Kuchen auf den Tisch kommt.

Was ist über die Generationenfolge passiert? Integration im eigentlichen Wortsinn: Integration bedeutet, dass der Anteil der Menschen wächst, die teilhaben können und wollen. Das bedeutet dann aber auch, dass der Anteil der Menschen wächst, die ihre Bedürfnisse und Interessen selbstbewusst artikulieren – dies gilt unter anderem auch für Frauen, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle und zunehmend auch für Muslime und Menschen mit internationaler Geschichte. Gelungene Integration steigert also das Konfliktpotenzial in einer Gesellschaft. Zunächst sind es Konflikte um soziale Positionen und Ressourcen (soziale und ökonomische Fragen), im Zeitverlauf werden zudem soziale Privilegien, kulturelle Dominanzverhältnisse und Deutungshoheiten infrage gestellt und neu ausgehandelt.

Gleichzeitig nimmt die Komplexität zu. Die sozialen und ökonomischen Fragen werden durch die kulturellen und identitätsbezogenen Fragen nicht ersetzt, sondern ergänzt. Daher wird der Integrationsdiskurs zunehmend diffus: Einerseits geht es um die noch ausstehende Integration eines Bevölkerungsteils, andererseits entstehen neue Streitpunkte und Herausforderungen durch einen anderen Teil der Bevölkerung, der bereits integriert ist. Solche neuen Streitpunkte zeigen sich in öffentlich diskutierten Fragen wie "Brauchen wir eine Leitkultur?" oder "Gehört der Islam zu Deutschland?" Integration wirkt sich im Zeitverlauf auf die gesamte Gesellschaft aus, nicht nur auf Migranten und ihre Nachkommen. Es handelt sich also um grundlegende, die Gesellschaft verändernde Konflikte. Oder wie es der Historiker Klaus Bade formuliert: "Integration ist keine Einbahnstraße", weder im Hinblick auf die Rahmenbedingungen noch bezüglich der Wirkungen und Effekte.

Das Diskriminierungsparadox

Das gesteigerte Konfliktpotenzial zeigt sich auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen und wirkt sich auf den öffentlichen Diskurs über Diskriminierung und Integration aus. Es offenbart sich ein paradoxer Effekt: Die Teilhabechancen verbessern sich und gleichzeitig wird viel mehr über Diskriminierung aufbegehrt und diskutiert als vorher – und zwar nicht obwohl, sondern weil sich die Situation verbessert hat. Menschen, die gut integriert sind und mit am Tisch sitzen, haben den Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe. Sie haben also gesteigerte Teilhabe- und Zugehörigkeitserwartungen. Die Realität ist aber fast immer träger als die Erwartungen. Das heißt, dass die Erwartungen schneller steigen als die realen Teilhabechancen.

Dieser Zusammenhang lässt sich auf unterschiedliche Gruppen und Bereiche übertragen. So fühlen sich etwa schwarze US-Amerikaner aufgrund ihrer Hautfarbe umso häufiger diskriminiert, je erfolgreicher sie sind. Je höher das Bildungsniveau und das Einkommen, desto häufiger berichten sie über Diskriminierung. Schwarze, die stark benachteiligt sind, fühlen sich hingegen seltener diskriminiert.

Ein weiteres Beispiel: Frauen haben bessere Teilhabechancen als etwa Menschen mit Behinderung, Frauen fühlen sich aber häufiger diskriminiert als Menschen mit Behinderung. Und Frauen fühlten sich vor vierzig oder fünfzig Jahren seltener diskriminiert als heute, dabei sind gegenwärtig ihre Teilhabechancen um ein Vielfaches höher.

Eine andere Perspektive, diesmal international vergleichend: Je besser die Teilhabechancen in einem Land, desto häufiger wird über Diskriminierung geklagt. Umgekehrt fühlen sich dort, wo die Teilhabechancen schlechter sind, Minderheitenangehörige seltener diskriminiert. So klagen in den skandinavischen Staaten, wo die Teilhabechancen im europäischen Vergleich besonders gut sind, Minderheiten häufiger über Diskriminierung als etwa in Osteuropa, wo sie nachweislich häufiger benachteiligt werden.

Anspruch und Wirklichkeit

All diese Vergleiche verdeutlichen einen kontraintuitiven Zusammenhang. Es geht nicht um eine objektive Größe, sondern um das Verhältnis zwischen Erwartungen beziehungsweise Ansprüchen auf der einen und der erlebten Wirklichkeit auf der anderen Seite. Wahrgenommene Diskriminierung entsteht erst durch die Bewertung: Nur dann, wenn eine Ungleichbehandlung als illegitim bewertet wird, fühlen sich Menschen diskriminiert. Als illegitim bewerten sie Handlungen und Situationen, wenn die Realität zu weit von den Erwartungen abweicht. Die Paradoxie hat also nicht mit einem empirischen Befund, sondern mit einer dynamischen Relation zu tun, nämlich mit einer ungleichen Entwicklung von Realität und Erwartung. Daneben gibt es einen weiteren Grund für die häufigere Thematisierung von Diskriminierung: Erst wenn Benachteiligte am Tisch sitzen, sind sie in der Position, das Thema Diskriminierung in den Diskurs zu bringen. Es geht also neben der Wahrnehmung auch um die Artikulationsfähigkeit, die Möglichkeit der Herstellung von Öffentlichkeit sowie das Reflektieren von latenten Formen der Diskriminierung.

Verschiedene Menschen können also dieselbe Situation erleben, aber ganz unterschiedlich deuten. Dieselbe Ungleichbehandlung kann als legitim oder als illegitim interpretiert werden. Für die eine Person kann eine Ungleichbehandlung nachvollziehbar sein, für die andere Person ist sie hinnehmbar und für die dritte Person kann sie eine Demütigung sein.

Insbesondere der Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe und der auf Zugehörigkeit sind für Diskriminierungserfahrungen zentral. Ersterer bezieht sich auf den Zugang zu gesellschaftlich relevanten Ressourcen und Positionen, und er wächst mit Erfolgen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt; letzterer bezieht sich auf die Zugehörigkeit zu einer jeweiligen Gesellschaft, zum Beispiel zur Nation oder zu einem bestimmten sozialen Milieu. Diese Zugehörigkeit entsteht durch gemachte Erfahrungen im Laufe der Sozialisation und betrifft insbesondere die eigene Identität, die immer auch ein Produkt von Fremdbeschreibungen und -zuschreibungen ist.

Versteht man die Wahrnehmung von (rassistischer) Diskriminierung als erlebte Diskrepanz zwischen Teilhabe- und Zugehörigkeitsanspruch einerseits und erlebter Wirklichkeit andererseits, dann lassen sich die empirischen Befunde wie folgt deuten: Selbst bei gleichen Erlebnissen ist die Wahrnehmung der Betroffenen danach differenzierbar, wie groß der eigene Anspruch auf Teilhabe und Zugehörigkeit ist. Die Entstehung eines solchen Anspruchs ist von biografischen Erfahrungen abhängig. Das bedeutet, dass die am stärksten Benachteiligten sich deshalb seltener illegitim behandelt fühlen, weil sie (im gesamten Sozialisationsprozess) benachteiligt wurden – also weil sie durch biografische Prozesse geringere Erwartungen entwickeln konnten. In dieser relationalen Perspektive lassen sich Ursache und Wirkung nicht mehr trennen, beziehungsweise sie vermengen sich.

Überspitzt formuliert heißt dies im Übrigen für Pädagogen, dass es "gut" ist, wenn ein Jugendlicher über Diskriminierung berichtet. Das heißt nämlich, dass er mehr erreichen will, als bisher möglich erscheint. Das Gegenteil wäre schlecht: Eine Benachteiligung hinzunehmen und sie als legitim zu bewerten, ist ein Zeichen für Resignation und Ohnmacht. Sagt man einem Jugendlichen, der sich diskriminiert fühlt: "Stell dich nicht so an", sagt man genau genommen: "Senke deine Erwartungen. Akzeptiere, was du hast. Erwarte nicht mehr." Auf diese Weise kann pädagogisches Handeln zur Resignation beitragen.

Von Relevanz sind diese Befunde darüber hinaus für die Beurteilung der Diskrepanz zwischen gesellschaftlichen Diskursen über Diskriminierung zum einen und wirklichen Teilhabechancen zum anderen. Wenn erhöhte Teilhabechancen mit einer höheren Wahrnehmung von Diskriminierung einhergehen, kann dies sogar dazu führen, dass sich durch die Verringerung von Diskriminierung der Diskurs verschärft. Je stärker eine Ungleichbehandlung aus dem Rahmen des Gewöhnlichen oder Erwarteten fällt, desto eher kann sie als diskriminierend wahrgenommen werden. Dies hängt sowohl mit den individuellen Erfahrungen als auch mit der gesellschaftlichen Sensibilisierung, insbesondere der allgemeinen Ablehnung von Ungleichbehandlung, zusammen.

Ähnliche paradoxe Effekte wurden im Zusammenhang mit Geschlechterungleichheit, sozialer Ungleichheit und sozialer Sicherheit in wohlfahrtsstaatlichen Kontexten gezeigt: Je erfolgreicher ein Problem bekämpft wird, desto stärker wird das verbliebene und zugleich kleiner gewordene Restproblem wahrgenommen und diskutiert. Entsprechend lässt sich mit einem, zumindest zeitweise, erhöhten Konfliktpotenzial rechnen, wenn aktiv und erfolgreich Diskriminierung bekämpft wird.

Daraus soll aber selbstverständlich nicht geschlussfolgert werden, dass der Kampf gegen Diskriminierung oder für Chancengleichheit zu vernachlässigen ist. Vielmehr möchte ich darauf aufmerksam machen, dass erfolgreiche Integration nicht mit Konfliktfreiheit einhergeht und dass der gesellschaftliche Fortschritt dazu führen kann, dass dort, wo Diskriminierung bekämpft wird und sich die Chancen von benachteiligten Gruppen verbessern, am intensivsten über Diskriminierung diskutiert wird. Diese Diskussionen können wiederum Identitätspolitiken begünstigen.

Interessenvertretung und Identitätspolitik

Mit zunehmender Integration wachsen der Gleichheitsanspruch und die Erwartung von Minderheiten und benachteiligten Gruppen, zur Gemeinschaft dazuzugehören. Dies führt zur Neuaushandlung von Privilegien mit der möglichen Folge, dass die dominanten Gruppen der Gesellschaft um ihre Privilegien bangen. An dieser Stelle werden Identitätspolitiken von verschiedenen Seiten wahrscheinlich: Minderheitenangehörige können sich – bildlich gesprochen – am Tisch zusammenschließen, um ihren jeweiligen Interessen Nachdruck zu verleihen. Dominante Gruppen können hingegen versuchen, über Ausschlusskriterien ihre Privilegien zu sichern. Es kann auf beiden Seiten zu komplexen Gruppenbildungsprozessen kommen – und nicht selten bestimmen am Ende die Merkmale Herkunft und Religion, wer zur Identität oder Gruppe gehört und wer nicht.

Auch wenn Identität heute immer weniger ursächlich für die Stellung einer Person in der Gesellschaft ist, nimmt sie im öffentlichen Diskurs einen immer größeren Raum ein. Offene Gesellschaften ermöglichen nämlich Verdichtung und Spaltung zur gleichen Zeit: Erst wenn viele am Tisch sitzen (Verdichtung), kann es dort zu Differenzen kommen (Spaltung). Eine solche Spaltung in der Verdichtung muss nicht grundsätzlich problematisch sein. Sie wird es erst dann, wenn die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie zur Disposition gestellt werden.

Identitätspolitik hat auf die Gesellschaft unterschiedliche Auswirkungen, je nachdem ob sie von benachteiligten Gruppen beziehungsweise Minderheiten ausgeht oder von dominanten Gruppen beziehungsweise Angehörigen der Mehrheit. Was in Deutschland und Europa als "Rechtsruck" beziehungsweise Rechtspopulismus, in Nordamerika als backlash bezeichnet wird, ist Ausdruck einer solchen identitären Mobilisierung für den sozialen Ausschluss und gegen die offene Gesellschaft, getragen von Teilen dominanter Bevölkerungsgruppen. Hierbei wird in der Regel das Ziel der gesellschaftlichen Restauration verfolgt und kulturelle Hegemonie angestrebt, während es bei identitätspolitischen Bewegungen von benachteiligten Gruppen eher um mehr Anerkennung geht.

Schluss

Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit sowie die identitätspolitisch geprägten Diskurse können zu einer gesellschaftlichen Überhitzung führen. So besteht die Gefahr einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Weichen die Erwartungen für eine längere Zeit zu stark von der erlebten Wirklichkeit ab, kann es zur Folge haben, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse beziehungsweise Zustände "falsch" interpretiert werden, was wiederum dazu führt, dass die Akteure ihr Verhalten nach der "falschen" Interpretation ausrichten. Das angepasste Verhalten kann dann zu neuen Verhältnissen führen, die die "falsche" Interpretation bestätigen. Die realen Verhältnisse würden sich schließlich zunehmend verschlechtern.

Ein Beispiel für eine solche sich selbst erfüllende Prophezeiung ist etwa folgende Stadtteilentwicklung: Ein Stadtteil ist objektiv gesehen nicht außergewöhnlich gefährlich. Allerdings wird er von Vielen öffentlich immer wieder als No-go-Area bezeichnet. Diese Zuschreibung wird im Laufe der Zeit von immer mehr Menschen angenommen. Lokale Journalisten fangen an, die Geschehnisse vor Ort besonders aufmerksam zu beobachten, und berichten über jedes kriminelle Vergehen – womit gleichzeitig die Berichterstattung über Kriminalität in anderen Stadtteilen vernachlässigt wird. Dadurch taucht der Stadtteil in der Presse regelmäßig in negativen Meldungen auf. Mittlerweile fürchten sogar die Bewohner des Stadtteils Gefahren und vermeiden es, sich abends im Viertel zu bewegen. Bereits jetzt wird es gespenstisch auf den Straßen, ohne dass es dafür einen nachweisbaren Grund gibt. Die Folge kann anschließend sein, dass sich kriminelles Verhalten in diesem Gebiet etabliert, weil zum Beispiel leere Straßen immer auch bedeuten, dass es weniger Augenzeugen bei Straftaten gibt. Schlussendlich ist das Viertel tatsächlich eine No-go-Area geworden. Die realen Verhältnisse haben sich den nicht korrekten Erwartungen und Deutungen angeglichen. Diese Mechanismen ließen sich auf unzählige andere Sachverhalte übertragen.

Solange wir Komplexität und Konflikte negativ konnotieren, spielen alternative Fakten und gefühlte Realitäten eine immer größere Rolle. Vielmehr erfordern die gesteigerte Komplexität der Gesellschaft und das zunehmende Konfliktpotenzial einen Perspektivwechsel. Der Kitt, der die offene Gesellschaft zusammenhält, bildet sich aus Konflikten und dem konstruktiven Umgang mit ihnen. Hierfür lohnt es, sich daran zu erinnern, dass die größten sozialen Innovationen gesellschaftliche Konflikte als Ausgangspunkt hatten. Hierzu gehören nicht zuletzt die Demokratie, die Bürger- und Menschenrechte und der Sozialstaat. Hingegen ist konfliktfreier sozialer Fortschritt den Historikern nicht bekannt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Bezeichnung "internationale Geschichte" verwende ich als Synonym für "Migrationshintergrund". Nach der Definition des Statistischen Bundesamts haben alle ausländischen Staatsangehörigen sowie eingebürgerte Menschen einen Migrationshintergrund. Zudem haben in Deutschland geborene Kinder einen Migrationshintergrund, wenn es sich bei mindestens einem Elternteil um eine zugewanderte Person, eine eingebürgerte Person oder um eine Person ohne deutsche Staatsbürgerschaft handelt. Hingegen wird das Merkmal Migrationshintergrund nicht an die Kinder "vererbt", wenn es sich bei den Eltern um Personen handelt, die beide von Geburt an deutsche Staatsbürger sind.

  2. Ausführlich hierzu Aladin El-Mafaalani, Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt, Köln 2018, S. 36f.; ders./Ahmet Toprak, Muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland. Lebenswelten, Denkmuster, Herausforderungen, Berlin 20173.

  3. Klaus J. Bade, Einleitung: Integration und Illegalität, in: ders. (Hrsg.), Integration und Illegalität in Deutschland, Osnabrück 2011, S. 7–10, hier S. 7.

  4. Vgl. hier und im Folgenden Aladin El-Mafaalani/Julian Waleciak/Gerrit Weitzel, Methodische Grundlagen und Positionen der qualitativen Migrationsforschung, in: Débora B. Maehler/Heinz Ulrich Brinkmann (Hrsg.), Methoden der Migrations- und Integrationsforschung – Lehrbuch und Forschungsleitfaden, Wiesbaden 2016, S. 61–96.

  5. Siehe hierzu auch Kim Björn Becker, Wirklichkeit und Wahrnehmung: Wenig Fremde, viel Rassismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 7.8.2018.

  6. Eine Häufung solcher Enttäuschungen und Diskriminierungserfahrungen kann zur Radikalisierung führen. Laut Pierre Bourdieu sympathisieren viele weiße Aufsteiger, die von elitären Kreisen aufgrund ihrer sozialen Herkunft abgelehnt werden, mit der politisch rechten Szene. In Bezug auf die Radikalisierung von Muslimen wurde eine ähnliche These formuliert: Aladin El-Mafaalani, Salafismus als jugendkulturelle Provokation. Zwischen dem Bedürfnis nach Abgrenzung und der Suche nach habitueller Übereinstimmung, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.), Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung, Bielefeld 2014, S. 355–363.

  7. Siehe hierzu Karin Gottschall, Soziale Ungleichheit und Geschlecht: Kontinuitäten und Brüche, Sackgassen und Erkenntnispotentiale im deutschen soziologischen Diskurs, Wiesbaden 2000; Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika. Beide Teile in einem Band, München 1976 (1835/1840); Silke van Dyk/Stephan Lessenich, Unsichere Zeiten. Die paradoxale "Wiederkehr" der Unsicherheit, in: Mittelweg 36 5/2008, S. 13–45.

  8. Solche Ausschlussmechanismen können rassistisch, nationalistisch oder auch religiös-fundamentalistisch motiviert sein. Andreas Reckwitz bezeichnet sie als vergangenheitsorientierte kulturessenzialistische Bewegungen gegen die offene Gesellschaft: Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Frankfurt/M. 2017. S. 371ff.

  9. Vgl. Helmut Dubiel, Unversöhnlichkeit und Demokratie, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Was hält die Gesellschaft zusammen?, Frankfurt/M. 1997, S. 425–444.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Aladin El-Mafaalani für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professor für Politikwissenschaft und politische Soziologie an der Fachhochschule Münster und Abteilungsleiter im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration in Düsseldorf. Externer Link: http://www.mafaalani.de