Transatlantischer Streit: Grund zur Sorge
Die deutsch-amerikanischen Beziehungen bereiten große Sorge. Das Zerwürfnis infolge der Irakkrise war kein einmaliger Fauxpas, sondern bildete den schrillen Höhepunkt einer Serie von Auseinandersetzungen, die grob mit dem Gegensatzpaar Unilateralismus (amerikanische Position) und Multilateralismus (deutsche Position) beschrieben werden können. Diesen scharfen Gegensatz durch beschönigende Uminterpretationen ("Multilateralismus amerikanischer Art"
Der deutsch-amerikanische Streit hat verschiedene Deutungen erfahren; die meisten davon sind relativ optimistisch, was die Zukunft der transatlantischen Beziehungen angeht. Diese Deutungen bilden den Gegenstand der folgenden Untersuchung. Es sollen die Weltbilder und Politikvorstellungen offen gelegt werden, welche die Interpretationen und Argumentationen ihrer Protagonisten leiten. In kritischer Auseinandersetzung mit ihnen soll eine eigene Deutung entwickelt werden, die eher dazu führt, die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Deutschland und Amerika unter der Perspektive von Labilität und Risiko zu betrachten.
Für hilfreiche Kommentare danke ich Jonas Wolff.
Strukturbasierte Deutungen
Eine große Zahl von Autoren argumentiert von einer strukturalistischen Basis aus. Demnach sind die handelnden Personen und Institutionen ausführende Agenten beharrlicher Strukturen, die ihnen wenig oder keinen Spielraum lassen, abweichende Präferenzen zu entwickeln und diese in ihrer Politik umzusetzen. Je nach Ausgangspunkt und Weltbild fallen Diagnose und Prognose dieses strukturalistischen Ansatzes eher pessimistisch oder eher optimistisch aus.
Mars und Venus
Der bekannteste pessimistische Strukturalist ist Robert Kagan, dessen Aufsatz und späteres Buch "Macht und Schwäche"
Die Rollen der USA und Europas werden nach Kagan von den Kräfteverhältnissen determiniert. Gleiches gilt für die Weltsichten, die daraus folgen. Die Vereinigten Staaten sehen die vielfältigen Gefahren und leiten daraus Notwendigkeiten zum - gegebenenfalls gewaltsamen - Handeln ab. Weil sie handeln müssen und können, verwahren sie sich gegen Versuche, ihrer Handlungsfreiheit Fesseln anzulegen. Ihr rollenbedingter Realismus zieht den Möglichkeiten, sich auf Multilateralismus einzulassen, enge Grenzen. Denn Gulliver darf sich nicht fesseln lassen, wenn denn der Gedanke an Ordnung nicht von vorneherein aufgegeben werden soll.
Anders die Europäer; ihr Friedensreich ist nach Kagan durch vielfältige rechtliche und institutionelle Bindungen geprägt, die in der EU kulminieren. Mangels militärischer Kapazitäten unfähig, das Machtspiel zu spielen, möchten sie vielmehr diese "weiche" Form von Außenpolitik - Diplomatie, Kooperation, Verträge, internationale Institutionen - lückenlos auf die Welt übertragen, leider auch dort, wo es aufgrund der Böswilligkeit der "Partner" nicht passen kann. Die Vereinigten Staaten bewahren die Europäer also nicht nur vor dem Übel, das da draußen lauert, sie schützen sie zugleich vor den möglicherweise fatalen Folgen einer auf Weichheit gegründeten weltpolitischen Konzeption. Angesichts der fundamental unterschiedlichen Denkweisen über die Welt stellt Kagan fest, dass von einer transatlantischen Wertegemeinschaft nicht mehr die Rede sein könne; die Ideologie-Lücke, bedingt durch dramatisch unterschiedliche Machtpositionen, lässt sich nicht schließen, fortgesetzte Reibungen und Kontroversen sind unausweichlich: Insofern ist Kagan Pessimist. Allenfalls ein tragbarer Modus vivendi könne sich herstellen lassen, wenn die USA etwas geduldiger, verständnisvoller und gesprächsbereiter und die Europäer ein wenig unterwerfungswilliger seien.
Imperiale Logik und Überdehnung
Die materiellen Voraussetzungen internationaler Politik bleiben auch die Ausgangsbasis verwandter Deutungen, die sich mit der "imperialen Logik" befassen. Herfried Münkler schließt sich in seiner Deutung der Irak-Kontroverse eng an das Interpretationsschema Kagans an, bricht aber dessen Ton optimistischer Rechtfertigung mit dem Hinweis auf die dringenden und drängenden Notwendigkeiten, welche die USA in die seit alters her geltende Problematik der imperialen Überdehnung durch universale militärische Präsenz trieben. Der Irakkrieg ist demnach der fast schon verzweifelte Versuch, den wachsenden Bedarf an amerikanischen Truppen in der Umgebung des Persischen Golfes, der mit der Steigerung der Entwicklungs-Selbstblockade der arabischen Verbündeten einherging, durch einen einmaligen Waffengang zu beenden. Der gewaltsam erzwungene Regimewechsel im Irak sollte die regionale Hauptgefahr beheben und die Möglichkeit zu einer demokratischen und friedlichen Entwicklung eröffnen. Damit wären die USA frei, ihre Truppen aus der Region abzuziehen, und gewännen zusätzliche Handlungsfreiheit, um ihr globales Imperium zu erhalten. Nach dem gleichen Muster werden, so prognostiziert Münkler, weitere Kriege folgen, welche die Europäer - denen die militärischen Mittel zur Machtprojektion fehlten - nicht billigen können. Umso mehr werden die USA nach der Regel "Teile und herrsche" den Versuch unternehmen, die europäische Position aufzusprengen und - über die NATO - einen Teil für "Koalitionen der Willigen" zu gewinnen. Die ideologische Entfremdung zwischen Europa und Amerika werde dadurch nur noch steigen.
Die Tragik des Imperiums ist gleichfalls der Grundtenor der kritischen Analysen von John Mearsheimer
Der Pessimismus dieses "strukturellen Realismus" geht in eine doppelte Richtung: Die Beziehungen zwischen Europa und den USA sind unweigerlich konfliktbehaftet, und zwar in zunehmendem Maße; die Konflikte könnten noch schärfer werden, als Kagan das voraussieht. Die strukturellen Realisten glauben nämlich nicht an die Unveränderlichkeit des gegenwärtigen europäischen Pazifismus und halten es für wahrscheinlich, dass auch Europa seine militärischen Machtmittel erhöhen wird. Weil jedoch mit dem Ende des Ost-West-Konflikts der gemeinsame Feind entfallen ist, wird die Stärkung Europas keineswegs dazu führen, dass die Europäer Seite an Seite mit den USA streiten. Vielmehr werden sie ein Gegengewicht zur amerikanischen Übermacht bilden, wobei Deutschland als ressourcenstärkstem Land in Europa die führende Rolle zufallen wird. Zugleich sind die Realisten - anders als der Neokonservative Kagan - pessimistisch in Bezug auf die Möglichkeiten der USA, das eigene imperiale Programm erfolgreich zu bestreiten. Die USA sind nach Mearsheimer zum Scheitern verurteilt oder haben nach Layne allenfalls die Möglichkeit zum Rückzug auf den amerikanischen Kontinent, der die regionalen Ordnungsaufgaben den Mächten der jeweiligen Region überantwortet.
Strukturelle Machttransformation
Charles Kupchan gehört wie Kagan zu den meistzitierten Analytikern der Weltpolitik, im Unterschied zu jenem ist er aber Bush-kritisch. Kupchan sieht das amerikanisch-europäische Verhältnis von dem traditionellen Vorgang der Machttransformation geprägt: Das sich erweiternde und integrierende Europa mit seiner gemeinsamen Währung und seinem gemeinsamen Verteidigungsprojekt ist die aufsteigende, das von Terrorismusfurcht geplagte, von seinem westlich/mittelwestlich geprägten Innern zur Introversion veranlasste und von seinem Ressourceneinsatz her überforderte Amerika die absteigende Macht. Konflikte sind unvermeidlich.
Sie werden verschärft durch die ideologische Divergenz, die Kupchan weitgehend auf die Zusammensetzung der Bush-Regierung zurückführt (womit ein ideelles Element in die zunächst materialistische Analyse einfließt). Diese Zusammensetzung reflektiert aber nach Kupchan durchaus die demographische und wirtschaftliche Entwicklung der USA, wo das "Herzland", der mittlere Westen und Westen, im Aufstieg ist. Dort sei die antimultilaterale Ideologie mehr zu Hause als irgendwo anders. Und im Übrigen attestiert Kupchan den Amerikanern eine überwiegend unilateralistische politische Kultur.
Verschlimmert wird die Lage auch durch die gegenwärtige Position Europas auf der Aufstiegsleiter: Es ist zu stark, um sich von den USA gängeln zu lassen, aber noch zu schwach, um gleichberechtigter Partner zu sein; das veranlasst die USA zu einer Einstellung, in der sich Misstrauen und Verachtung mischen, was dem Verhältnis natürlich nicht zuträglich ist. Den Ausweg sieht Kupchan in der wechselseitigen Anerkennung der Verschiedenheit und der neuen Rollenverteilung.
Optimistische Strukturalisten: Die proeuropäische Variante
Der Blick auf die Strukturen internationaler Politik kann auch zu ganz anderen, zu viel optimistischeren Prognosen für die transatlantischen Beziehungen führen; dann nämlich, wenn man das intellektuelle Korsett des "Realismus" verlässt und den Blick auf die Bindekräfte zwischen Europa und die USA richtet. Die Vertreter dieser Position knüpfen an dem Konzept der "Sicherheitsgemeinschaft" an. Es bezeichnet ein dichtes, auf Dauer gestelltes institutionelles Beziehungsgeflecht, das den Gedanken an ernsthafte Konflikte unter den Gemeinschaftspartnern gar nicht erst aufkommen lässt, sie im Gegenteil für ihre Sicherheit auf die gegenseitige Kooperation und wechselseitige Solidarität verweist.
Auch die Gemeinsamkeit, die durch die liberalen Werte begründet wird, ist eng. Es war ja keineswegs so, dass irgendjemand im "Alten Europa" Sympathien mit dem Regime Saddam Husseins gehegt hätte - die Abscheu über dessen Herrschaft war in Deutschland, Frankreich oder Belgien nichtweniger groß als in den USA, nur der Umgang damit war heftig umstritten. Das gemeinsameIdeal, dass die Demokratie dereinst weltweit die akzeptierte Herrschaftsform werden möge, istgemeinsamer Traum der transatlantischen Gemeinschaft. Diese Gemeinsamkeiten zeigen sich auch in der öffentlichen Meinung zu Fragen internationaler Politik. Tatsächlich sind die Unterschiede hier weitaus geringer, als dies der Streit der Regierungen vermuten ließe. Die Bürgerinnen und Bürger der Vereinigten Staaten sind überwiegend den Vereinten Nationen, der multilateralen Rüstungskontrolle, der Entwicklungshilfe oder derinternationalen Umweltpolitik gegenüber so positiv eingestellt wie die Menschen in Europa.
Schließlich enthalten auch die gemeinsamen Institutionen eine nicht zu unterschätzende Bindekraft. Die NATO steht an erster Stelle, die entgegen pessimistischen Prognosen das erste Jahrzehnt seit dem Ende der Konfliktkonstellation, die ihre Gründung motiviert hatte, nicht nur gerade so überlebt hat, sondern mit einer erstaunlichen Vitalität, neuen Aufgaben und einer erweiterten Mitgliedschaft zu neuen Ufern aufgebrochen ist. Andere Institutionen wie die OECD, der Dialog zwischen EU und den USA, und Weltwirtschaftsorganisationen wie IWF oder WTO, die von den transatlantischen Partnern dominiert werden, treten hinzu. Institutionelle Bindungen haben ein intrinsisches Beharrungsvermögen.
Diese vierfachen Bindungswirkungen geben eine solide Grundlage ab, um die durch einen gravierenden, durchaus ernst zu nehmenden Elitendissens zu Weltordnungsfragen irritierten transatlantischen Beziehungen zurück zu größerer Übereinstimmung zu führen; Thomas Risse ignoriert also keineswegs die vor allem von der gegenwärtigen, die amerikanische Regierung tragenden Koalition ausgehenden Risiken.
Thomas Risse hat eine ganz wesentliche Schwäche der "Pessimisten" aufgezeigt: ihre Fixierung auf die materielle Basis, die reinen Machtverhältnisse, zwischen den atlantischen Partnern. Die Einbeziehung der ideellen/ideologischen Dimension - etwa die gerade auch von amerikanischen Autoren immer wieder notierte größere politische Religiosität im amerikanischen Konservatismus
Optimistische Strukturalisten: Die proamerikanische Variante
Joachim Krause
Die USA wünschten dringend die (multilaterale) Zusammenarbeit mit anderen, vor allem den Verbündeten, sähen sich aber durch die Risiken der Weltpolitik gegebenenfalls auch zum Alleingang berechtigt und genötigt. Sieht Risse die Lösung in der größeren Geschlossenheit der Europäer, mit der diese den Alleingängen des amerikanischen Bundesgenossen entgegentreten müssten, so wünscht Krause vielmehr, dass die Europäer sich der "sinnvollen Synthese zwischen liberalen und realistischen Vorstellungen" amerikanischer Neokonservativer anschließen und von ihrem "trotzigen Beharren auf meist formalen völkerrechtlichen Bestimmungen" ablassen mögen. Ähnlich wie Kagan wünscht er sich von Amerika lediglich "weniger Ungeduld" (mit den Trotzköpfen) und mehr Konsultationen.
Krause sieht bei seiner Ehrenrettung des Neokonservatismus davon ab, dass die europäische Kritik von maßgeblichen Stimmen in den USA geteilt und gelegentlich mit noch größerer Schärfe vorgetragen wird. Sein Dementi hegemonialer Ambitionen Washingtons ist auch schlecht mit jenen Kernpassagen der "National Security Strategy" in Übereinstimmung zu bringen, in der ausdrücklich davon die Rede ist, dass die militärische Überlegenheit der USA auf unbegrenzte Dauer festgeschrieben werden müsse.
Akteursbasierte Deutungen
Den strukturalistischen Deutungsmustern stehen akteurszentrierte gegenüber. Hier sind es spezifische Akteure, die das Geschehen vorantreiben. Befreit von Sachzwängen struktureller Bedingungen nutzen sie ihre Handlungsfreiheit, um dem Lauf der Dinge eine (richtige oder falsche) Richtung zu geben.
Deutschlandkritische Autoren
Einige deutsche Autoren legen den Schwerpunkt ihrer Kritik auf das Verhalten der Bundesregierung.
Ganz abgesehen davon, dass Hacke die Einflussmöglichkeiten des Bundeskanzlers wohl doch ein wenig überschätzt, wenn er ihm zutraut, die negative öffentliche Meinung über den Irakkrieg von Spanien bis Polen, von Großbritannien bis Rumänien nachhaltig zu beeinflussen, vernachlässigt seine Interpretation - trotz anfänglich kritischer Worte über den Politikstil Washingtons - den amerikanischen Part in der Interaktion zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland/Europa. Anders argumentiert dagegen Kamp:
Hacke zeichnet ein düsteres Bild der deutsch-amerikanischen (und der intraeuropäischen) Zukunft, solange Deutschland sich nicht auf die Rolle des Brückenbauers besinne. Karl-Heinz Kamp ist wesentlich optimistischer und notiert befriedigt die Annäherung, die seit Kriegsende zustande gekommen sei und die deutlich mache, dass "sowohl die transatlantische wie auch die deutsch-amerikanische Scheidung ausgeblieben" sei, wenngleich die Beziehungen zwischen den beiden Regierungen auf Grund des Vertrauensverlustes der Bush-Administration in Schröder nicht vollständig zu reparieren und ein Gewichtsverlust Deutschlands in der internationalen Politik zu beklagen sei.
Das Aus-dem-Geleise-Bringen und das Wieder-Einrenken scheint in diesem Analyseraster leichter zu fallen, weil Beziehungen auf Regierungsebene beschrieben und von "rhetorischen Fehltritten" oder "ungeschickte[m] politische[m] Agieren"
US-kritische Positionen
Diese Vorstellung
Unverkennbar ist, dass diese Gruppe von Kritikern die europäischen Bedenken hinsichtlich der alle Politikgebiete umfassenden amerikanischen Alleingänge
Ebenso wie der führende amerikanische Europa-Spezialist Ron Asmus
Struktur, Akteur und Außenpolitik
Die grundlegende Schwäche der strukturalistischen Analyse
Wo ideelle Faktoren in die Strukturbeschreibung einbezogen werden, wird die Analyse flexibler, da damit die Existenz sehr unterschiedlicher politischer Diskurse und deren Wirkungen auf die nationalen und internationalen Machtverhältnisse ins Blickfeld treten. Das kommt etwa darin zum Ausdruck, dass Thomas Risse die Risiken, die in dem amerikanischen Politikwechsel nach 2001 liegen, deutlich herausfiltert. Dennoch läuft er m.E. Gefahr, die heilsame Wirkung der transatlantischen Strukturen zu überschätzen und die potenzielle Sprengkraft beharrlichen, radikalen Akteursverhaltens unterzubewerten.
Strukturen legen den Akteuren Handlungsbeschränkungen auf: Manche Optionen scheiden ganz aus (Liechtenstein kann keinen bewaffneten Konflikt mit den USA beginnen), andere können nur um den Preis des Scheiterns verfolgt werden; sie sind gleichwohl nicht unmöglich. Strukturen eröffnen andererseits auch Handlungschancen: Die Mitgliedschaft in der EU und deren Gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik gibt den europäischen Regierungen die Möglichkeit einer gelegentlichen wirksamen Gegenpositionierung gegenüber der von Washington verfolgten Politik - wie beim Internationalen Strafgerichtshof -, die auf nationaler Basis alleine aussichtslos wäre. Strukturelle Beschränkung und Ermöglichung nimmt Einfluss auf das Handeln der Akteure, determiniert es aber keineswegs. Freiheitsgrade bleiben erhalten, umso mehr, je mächtiger der betroffene Akteur ist.
Politische Akteure sind damit aber ebensowenig vollständig flexible Einzelkämpfer, die ihre Orientierungen willkürlich wechseln können, wie es die akteursorientierte Analyse gelegentlich zu unterstellen scheint. Es ist diese Einschränkung, die vor der Illusion warnt, leichte Anpassungen der Politik, marginale Umorientierungen der agierenden Personen und dergleichen könnten ohne weiteres die entstandenen Risse kitten. Die Frage ist nämlich, ob die Akteure selbst zu diesem Verhaltenswechsel in der Lage sind. Sie sind Exponenten von politischen Gruppierungen und Koalitionen, in deren Diskursen sie verankert sind. Die innenpolitische Dimension außenpolitischen Handelns zu übersehen oder zu leugnen ist realitätsblind. Neue Akteure und Koalitionswechsel bringen die Möglichkeit mit sich, dass neue Einflüsse auf althergebrachte, für selbstverständlich gehaltene Strukturen wirken. Die Träger neuer außenpolitischer Diskurse entwickeln sich aus dem Innern ihrer Gesellschaften heraus. Begünstigt werden sie durch Veränderungen in den internationalen Beziehungen, die eine Nachfrage nach neuen Konzepten schaffen. Das Ende des Ost-West-Konflikts und der Schock des 11. September 2001 haben solche "Gelegenheitsfenster" für "neue Diskursunternehmer" geschaffen. Je größer und binnenorientierter ein Land ist, desto besser dürften die Entwicklungschancen für die Propheten des Neuen sein. Ob die Strukturen internationaler Politik robust genug sind, diesen neuen Einflüssen standzuhalten, ist eine offene Frage; die Antwort hängt nicht zuletzt von den Kräfteverhältnissen zwischen den Protagonisten des Wandels und denen der Beharrung ab.
Der Riss durch den Atlantik
Nach diesen Überlegungen richtet sich der Blick zurück auf die Ursachen der transatlantischen Querelen. Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen muss die Tatsache sein, dass die amerikanische politische Kultur im Vergleich zur deutschen (wie allgemein zur europäischen) eine Rechtsverschiebung aufweist. Das heißt, dass das "politisch Korrekte" auf der linken Seite des politischen Spektrums in den USA früher aufhört als in Europa. Das hat mit der gänzlich anderen Entwicklung der amerikanischen Arbeiterbewegung zu tun; dort hatte der Sozialismus nie eine starke Position, war der Antikommunismus auf der Linken so stark ausgeprägt wie auf der Rechten. Die Grenze des "politisch Korrekten" verläuft auf der Rechten stärker im Extremen als in Europa. Zur Illustration: Jemand wie Martin Hohmann würde sicher nicht aus der Republikanischen Partei ausgeschlossen. Diese Konstellation ist für die transatlantischen Beziehungen unter normalen Umständen nicht dramatisch, da die "Mitte" auf beiden Seiten des Atlantischen Ozeans noch so nah beieinander ist und daher die Teilmenge gemeinsamer Werte, Überzeugungen und strategischer Prinzipien groß genug ist, um eine solide Grundlage für eine Sicherheitsgemeinschaft abzugeben - wie Risse und Krell dies beschrieben haben.
Die Stärke der westlichen Sicherheitsgemeinschaft während des Ost-West-Konflikts bestand darin, dass die Distanzen zwischen den verschiedenen die Regierungen auf beiden Seiten des Atlantik tragenden politischen Kräften links und rechts von der Mitte zwar vorhanden, aber nicht groß genug waren, um grundlegende Positionsdifferenzen über die Gestaltung der für beide Partner wichtigen Politikfelder aufkommen zu lassen. Natürlich gab es Konflikte, aber die hielten sich inrelativ engen Grenzen und konnten auf weitgehend gemeinsamen politisch-philosophischen Grundlagen geklärt werden.
Eine grundlegende Änderung ist seit den siebziger Jahren in den Vereinigten Staaten vor sich gegangen. Die New-Deal-Koalition, die von der rechten Mitte bis zum linken Rand reichte, ist einer konservativen Koalition gewichen, welche die Mitte bis weit zum rechten Rand des politischen Spektrums umfasst. Damit hat sich ein alternativer weltpolitischer Diskurs entwickelt, der von Kräften weit rechts von der Mitte getragen wird und sich von dem nur unwesentlich adjustierten europäischen Durchschnittsdiskurs erheblich unterscheidet.
Amerikanisch-europäische Beziehungen
Unter der Administration von George W. Bush hat sich die Lage jedoch zum zweiten Male in einem Vierteljahrhundert verschärft: Wie in der ersten Reagan-Administration liegt die Koalition der diese Regierung tragenden Kräfte auf dem äußersten rechten Rand des politischen Spektrums der USA.
- aus der christlichen Rechten, deren Interessen überwiegend gesellschaftspolitischer Natur sind.
- aus dem "Herzland-Konservatismus" (Kupchan) des Westens und mittleren Westens. Er ist der Autonomie, dem Unilateralismus, der Konzentration auf die eigene Stärke, der Rechtsetzung auf eigene Faust zugeneigt.
- aus den "Jacksonianern", konservativen Imperialisten, denen es um die Durchsetzung der nationalen Interessen der USA und die bedingungslose Gewährleistung der nationalen Sicherheit geht.
- aus dem Neokonservatismus, der die Verteidigung der Suprematie der USA mit einer missionarischen Berufung Amerikas zur Ausdehnung der Demokratie gegen die Diktatoren der "Schurkenstaaten" verbindet.
Im Kräftespiel dieser Koalition spielt die klassische republikanische Mitte mit ihrer gemäßigt realistischen Weltsicht nur die zweite Geige. Sie wird von Colin Powell vertreten. Den liberalen Republikanismus, der in den siebziger und noch in den achtziger Jahren gerade im Senat stark war, gibt es fast gar nicht mehr. Der Isolationismus, stets bei den Republikanern zu Hause, ist gegenwärtig gleichfalls nicht richtungweisend.
War unter Ronald Reagan der Kalte Krieg eine Klammer, der trotz dieser Rechtsabweichung die Atlantische Allianz zusammenhielt, so schlug der Wertedissens mangels eines klar identifizierbaren Feindes diesmal voll auf die politischen Beziehungen durch.
Der Wertedissens ist umso gefährlicher, als er ja von einer gemeinsamen liberalen Grundlage ausgeht. Nur ziehen amerikanische Neokonservative aus der Wertschätzung von Menschenrechten und Demokratie die Legitimation, beides gegebenenfalls mit Gewalt durchzusetzen. Die Heterogenität der Staatsformen ist für sie eine letztlich nicht tolerable Herausforderung.
Die Nähe des Ausgangspunkts macht den Dissens um so brisanter: Schismen sind von besonderer Sprengkraft. Gerade die moralische Dimension
Die Daten zeigen einen außergewöhnlichen Zerfall des europäischen Vertrauens in den amerikanischen Partner. Vielleicht am bemerkenswertesten ist, dass dieser Prozess Großbritannien, trotz der Tradition der "special relationship" und der Verkörperung dieser Beziehung durch die Nähe Tony Blairs zu George W. Bush, voll miteinbezieht: Zwei Drittel der britischen Bevölkerung missbilligen Bushs Außenpolitik, und 50 Prozent glauben, dass Blairs Schulterschluss mit Bush schlecht für Großbritannien ist.
Folgerungen
Rhetorik und Ungeschick haben sicher zum Zerwürfnis einiges beigetragen: ein wahlkämpfender Bundeskanzler, ein polternder amerikanischer Verteidigungsminister. Diese Stilbrüche lassen sich an der Oberfläche korrigieren. Darunter liegt jedoch die Wertorientierungs- und Strategiedifferenz zwischen der die USA führenden Elitenkoalition sowie europäischen Eliten und Massenorientierungen. Hier handelt es sich nicht um Oberflächenphänomene, sondern strukturelle Gegebenheiten, die durch Stiländerungen nicht zum Verschwinden gebracht werden. Tröstlich ist, dass unter diesem Dissens wieder verbindende Strukturen ruhen, wie sie die Vertreter des Sicherheitsgemeinschaftskonzepts in den Vordergrund stellen, so etwa die gemeinsame Präferenz für Multilateralismus in der amerikanischen wie in der europäischen Öffentlichkeit.
Einfache Auswege gibt es nicht. Ein völliges europäisches Einschwenken auf den jetzigen amerikanischen Kurs ist nur unter Preisgabe der eigenen Identität zu haben. Europa ist nun einmal ein rechtsförmiges, kooperatives und multilaterales Projekt, das die eigenen Prinzipien nach außen projizieren möchte. Wie das Solana-Papier zur Sicherheitsstrategie der EU
Ob umfangreiche Programme gemeinsamer transatlantischer Projekte, wie sie von wohlmeinenden Atlantikern vorgeschlagen werden,