Einleitung
Estland erfuhr aufgrund seines schnellen Wandels zur Demokratie breite internationale Aufmerksamkeit. Einer der Indikatoren der erfolgreichen Transformation war ein rascher europäischer Integrationsprozess. Estland überreichte seine Bewerbung um die EU-Mitgliedschaft im Jahr 1995; die Beitrittsverhandlungen begannen im Frühjahr 1998 und wurden Ende 2002 erfolgreich abgeschlossen. Der Beitrittsvertrag wurde im April 2003 beim EU-Gipfel in Athen unterzeichnet, und ein halbes Jahr später sprachen sich die estnischen Bürgerinnen und Bürger in einem Referendum für die Mitgliedschaft aus.
Eine Mehrheit betrachtet diese achtjährige Periode als Erfolgsstory. Doch nicht jeder teilt diese optimistische Sichtweise. Alar Streiman, der offizielle Leiter der estnischen Verhandlungsdelegation, betont, dass die estnische Regierung ursprünglich ehrgeizigere Integrationspläne hatte. Gemäß dem Aktionsplan der Regierung hätte Estland schon im Jahr 2003 EU-Mitglied werden sollen, doch erwies sich der Verhandlungsprozess als weit komplizierter als erwartet. Jedes Jahr wurde rund ein Drittel der nationalen Gesetzgebungen, die mit dem acquis communitaire harmonisiert werden sollten, verschoben. Streiman behauptet, dass einer der vielen Gründe dafür die Schwierigkeit gewesen sei, einen Kompromiss in den Fragen zu erreichen, bei denen die politischen Parteien unterschiedliche Positionen vertraten und die innenpolitische Debatte darüber immer noch andauerte, ob bestimmte Lösungen in den EU-Verhandlungen festgelegt werden müssen.
In der Folge verlief die EU-Integration nicht so glatt, wie es auf den ersten Blick scheint. Auf der einen Seite gibt es innerhalb der EU anhaltende Debatten bezüglich institutioneller Reformen und der Zukunft der erweiterten Union. Auf der anderen Seite wirkten sich nationale innenpolitische Zusammenhänge auf die Integration Estlands aus. Folglich wird die estnische EU-Politik vom Zusammenspiel innerer und äußerer Faktoren geprägt. Während sich äußere Elemente wie institutionelle Reformen und die Beitrittsverhandlungen schnell entwickelten, verlangten innenpolitische Faktoren - die öffentliche Debatte und die Bildung von Einstellungen zur EU - nach einer längeren Kristallisationsphase. Estnische Politiker mussten nicht nur die Entwicklungen in der EU-Politik berücksichtigen, sondern auch die Einstellungen und Bedürfnisse der Wähler. Dies galt umso mehr, als der Beitrittsbeschluss in eine Zeit fiel, in der in Estland reguläre Wahlen stattfanden.
Einstellungen gegenüber der EU
Meinungsumfragen vor dem Referendum zeigten, dass weit mehr estnische Wähler gegen den EU-Beitritt stimmen würden als in der Wählerschaft in anderen mittel- und osteuropäischen Staaten. Vor diesem eher euroskeptischen Hintergrund ließe sich annehmen, dass die Einstellungen gegenüber der EU sowie den möglichen Auswirkungen des Beitritts ebenfalls größtenteils negativ seien. Überraschenderweise zeigte eine Erhebung, dass dies nicht der Fall ist.
Was sind die Hauptfaktoren, welche die Bildung von positiven oder negativen Einstellungen zur EU bestimmen? Mit Bezug auf Umfragedaten werden wir drei miteinander verknüpfte Faktoren diskutieren: das Vertrauen in staatliche Institutionen, die Sozialstruktur und die Kenntnisse über die EU.
Laut der erhobenen Daten sind die Einstellungen zum EU-Beitritt stark mit dem Vertrauen in die staatlichen Institutionen verknüpft. Eine ähnliche Korrelation offenbarte sich in einer Reihe von EU-Staaten, in denen Personen, die mit ihrer Regierung zufrieden sind, der EU-Integration deutlich positiver gegenüberstehen.
Nur der Präsident Estlands (zu jener Zeit Lennart Meri) bildete eine Ausnahme hinsichtlich des ausgesprochen geringen Vertrauens, das den politischen Institutionen entgegengebracht wurde. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass dem Präsidenten auch von denjenigen vertraut wurde, die nicht mit einigen seiner Standpunkte übereinstimmten. Es ist allgemein bekannt, dass Präsident Meri den EU-Beitritt stark unterstützte.
Bei großen sozialpolitischen Projekten gibt es immer Gewinner und Verlierer. Die wirtschaftliche Entwicklung Estlands scheint im Verlauf der vergangenen zehn Jahre, generell betrachtet, erfolgreich gewesen zu sein. Die sozialen Kosten jedoch sind hoch. Estlands Gini-Index (ein mathematischer Maßstab zur Messung sozialer Ungleichheit) ist der höchste unter den EU-Kandidatenstaaten und rückt das Land näher an Russland als an die EU. Soziale Ausgrenzung und hohe Armutsraten haben lange Jahre ernsthafte Sorgen bereitet, und es ist keine Besserung in Sicht.
Bei früheren EU-Erweiterungen standen stets die wohlhabenden Schichten der Gesellschaft auf der Gewinnerseite.
Ein höherer sozioökonomischer Status ist in der Regel mit einer positiven Bewertung der EU-Mitgliedschaft verbunden.
Eine Analyse der Einstellungen der russischsprachigen Bevölkerung sorgte ebenfalls für ein unerwartetes Ergebnis - das Wissen von Nicht-Esten über die EU ist niedriger, und sie betrachten die möglichen Ergebnisse eines Beitritts eher als nachteilig. Unter estnischen Forschern war allgemein angenommen worden, dass die russische Minderheit die europäische Integration deshalb stark befürworten wird, weil sie hofft, dass im Rahmen der europäischen Institutionen ihre Staatsbürgerschaftsprobleme gelöst würden. Die russischsprachige Minderheit ist allgemein unzufrieden mit der Politik der estnischen Regierung, die Estnisch zur Amtssprache machte und das Prinzip der Rechtsnachfolge anwandte. Diese Politik hinderte sowjetische Immigranten daran, automatisch die Staatsbürgerschaft zu erhalten; sie müssen sich einem Einbürgerungsverfahren unterziehen.
Die verschiedenen Aspekte des EU-Beitritts sind ein relativ neues Thema in der estnischen Öffentlichkeit, und deshalb verfügen die Menschen nur über ein geringes Wissen darüber. Dies stimmt mit der Behauptung von Millard überein, nach der die Öffentlichkeit in osteuropäischen Ländern relativ uninformiert über die EU ist und sich die Einstellungen aus Mythen, Stereotypen, Ängsten und Hoffnungen zusammensetzen.
Das Referendum
Im Frühjahr 2002 fanden Kommunalwahlen statt, und im Frühjahr 2003 folgten Parlamentswahlen. Es war zu erwarten, dass die EU-Integration und ihre Folgen sehr hoch auf der Wahlagenda standen. Daher sollen im Folgenden die Positionen der wichtigsten politischen Parteien näher untersucht werden.
Es gibt in Estland keine politische Partei, die als antieuropäisch bezeichnet werden kann. Doch lassen sich Unterschiede hinsichtlich der Bedeutung feststellen, welche der EU-Integration zugeschrieben wird. Etwas überraschend hat eine auf Experteninterviews basierende Studie ergeben, dass die Oppositionsparteien stärkere Befürworter der europäischen Integration sind als die Regierungskoalition.
Die Parteien setzen unterschiedliche Prioritäten hinsichtlich der Politikbereiche, in denen die nationalen Interessen bei den EU-Verhandlungen unbedingt geschützt werden sollten. Diese Prioritäten werden von innenpolitischen Zielen und den entsprechenden Wählerinteressen bestimmt. Da das Referendum in zeitlicher Nähe zu regulären Wahlen abgehalten wurde, nahm diese Ausrichtung auf die Wahl entsprechenden Einfluss. Obwohl die wichtigsten Parteien eine proeuropäische Haltung teilten, überschatteten verschiedene Positionen zu innenpolitischen Problemen die Beitrittsdiskussion. Schon während der Parlamentswahl im März 2003 wurde die Dominanz innenpolitischer Themen über europäische Fragen deutlich. Niedrige Geburtenraten, eine unbefriedigende Familienpolitik, die Absenkung der Einkommensteuersätze, die Moral von Politikern und die Verringerung der Staatsausgaben waren die Hauptthemen im Wahlkampf. In dieser Hinsicht zeigte Estland ein deutlich anderes Muster als die skandinavischen Länder, in denen die nationalen Wahlen von der EU-Debatte dominiert wurden.
Angesichts dieser Tatsache ist es keine Überraschung, dass das EU-Referendum der Öffentlichkeit als Angelegenheit der Parteien präsentiert wurde und nicht als gemeinsame nationale Leistung zur Rückkehr in den Kreis der westlichen Demokratien. Die wichtigsten Koalitionspartner - die Reformpartei und die Res Publica Union - verdeutlichten im Wahlkampf, wie nah ihre Parteiprogramme den Zielen der EU stünden. In dieser Situation, als das Thema EU-Beitritt von der Regierung "besetzt" wurde, hatten die Oppositionsparteien Schwierigkeiten bei der Formulierung ihrer politischen Position.
Dieses Problem wurde bei der Zentrumspartei besonders deutlich, der stärksten oppositionellen Kraft, die über die größte öffentliche Unterstützung verfügte (20 bis 25 Prozent). Einerseits haben die Zentrumspartei und ihre Spitzenpolitiker entscheidend zur EU-Integration beigetragen, als sie an der Macht waren. Andererseits konnte ein heutiges klares Ja zum EU-Beitritt als Zugeständnis gegenüber der Regierungspolitik verstanden werden. Die Zentrumspartei fürchtete durch den Verlust des Oppositionsimages auch die Unterstützung ihrer Wähler zu verlieren. Innerparteiliche Unstimmigkeiten erreichten einen Monat vor dem EU-Referendum ihren Höhepunkt, als der Parteikongress nicht in der Lage war, eine einstimmige Erklärung zur Beitrittsfrage zu verabschieden. Die vom Parteivorsitzenden angeführte Anti-EU-Gruppe konnte sich nicht durchsetzen, während die konkurrierende Parteielite große Unterstützung für ihr europäisches Bekenntnis erhielt. Die Zentrumspartei befand sich am Rande ihres organisatorischen Zusammenbruchs. Als Ergebnis dieses Zauderns nahm die öffentliche Unterstützung für die Zentrumspartei massiv ab. Eine Meinungsumfrage zeigte, dass unter ihren Anhängern der Anteil derjenigen, die sich nicht entschließen konnten, ob sie an dem Referendum teilnehmen sollten, am größten war - er lag bei 15 Prozent.
Die Wahlbeteiligung
Da das EU-Referendum von den wichtigsten politischen Parteien dominiert wurde, ließe sich vermuten, dass die Beteiligungsmuster denen bei Parlamentswahlen entsprächen. Einige Meinungsforschungsinstitute hatten zwar eine hohe Beteiligung vorausgesagt, indem sie sich auf die strategische Bedeutung des Referendums für die nationale Entwicklung beriefen, diese Annahme erwies sich jedoch als falsch. Die Wahlbeteiligung lag bei 64 Prozent, nur sechs Prozent höher als bei den letzten Parlamentswahlen im Frühjahr 2003. Nur Malta und Lettland wiesen ähnlich niedrige Zahlen auf, während die Bürger anderer Beitrittskandidaten deutlich begeisterter waren, ihre Meinung zum Ausdruck bringen zu können.
Die übliche Wahlbeteiligung hat sich bei verschiedenen Wahlen in Estland auf einem sehr niedrigen Niveau von unter 60 Prozent eingependelt. Schätzungsweise ein Drittel der Bevölkerung hat keine eindeutigen Parteipräferenzen oder ideologische Orientierung. Hinsichtlich dieser grundsätzlichen Merkmale konnte auch das EU-Referendum das Eis nicht brechen und festgefahrene Muster der politischen Beteiligung verändern. Eine vergleichende Studie von Lawrence le Duc zeigte, dass ein ähnliches Bild in anderen europäischen Staaten (Frankreich, Norwegen, Schweden) zu finden ist, in denen die Wahlbeteiligung bei EU-Referenden ähnlich hoch liegt wie bei nationalen Wahlen. In allen drei Fällen fielen die Referenden mit allgemeinen Wahlen zusammen.
Eine Analyse der Referendumsergebnisse in verschiedenen Regionen Estlands zeigte ein ähnliches Bild wie bei der Parlamentswahl, wenngleich die Wahlbeteiligung beim Referendum konstanter ist. In Regionen, in denen mehr Bürger zur Wahl zum Parlament gingen, war auch die Wahlbeteiligung beim Referendum höher und umgekehrt. Die niedrigste Wahlbeteiligung fand sich in Bezirken mit hoher Arbeitslosigkeit und niedrigem Durchschnittseinkommen.
Welches waren die wesentlichen Bestimmungsfaktoren des Wahlverhaltens? Fast alle Meinungsumfragen betonen die Bedeutung sozioökonomischer Faktoren wie den sozialen Status oder die persönliche Situation.
Das Abstimmungsverhalten der russischen Minderheit hat großes wissenschaftliches und politisches Interesse geweckt. Einige Studien deuten darauf hin, dass es ein ernsthafter Vorhersageindikator für die Referendumsergebnisse ist, während andere behaupten, dass Ethnizität kein Faktor ist, welcher die Unterstützung für die EU beeinflusst.
Ein anderes, unerwartetes Ergebnis des Referendums war die niedrige Wahlbeteiligung unter Jungwählern. Da Meinungsumfragen unter den jungen Leuten eine hohe Zustimmung zur EU-Erweiterung zeigten, wurde allgemein angenommen, dass sie zahlreicher zur Wahl gehen würden als üblich. Dies geschah dennoch nicht - junge Menschen waren der am wenigsten aktive Teil der Wähler. Erwähnenswert ist, dass sich beim lettischen Referendum das gleiche Bild zeigte. Folglich kann dieses alterspezifische Wahlverhalten als eine zusätzliche Bestätigung der Ähnlichkeiten zwischen dem Europareferendum und nationalen Wahlen gesehen werden.
Gewinner und Verlierer
Die Ergebnisse von Meinungsumfragen zum EU-Referendum zeigten, dass die Wahlentscheidung stark von der Einschätzung der zukünftigen Veränderungen für das persönliche und soziale Leben abhängt. Bürger, die glauben, dass sich ihr Leben nach dem Eintritt in die EU verbessern wird, stimmten dafür, diejenigen mit einer pessimistischen Sicht stimmten dagegen oder weigerten sich, überhaupt an dem Referendum teilzunehmen. Aksel Kirch und Tarmo Tuisk meinen, dass viele der Menschen mit einer ablehnenden Haltung zur europäischen Integration damit ihre Enttäuschung über die Sozialpolitik der Regierung ausdrücken und eigentlich nicht gegen die EU eingestellt sind.
Es gibt in der Bevölkerung keine einheitliche Einschätzung der Veränderungen. Man kann von drei nahezu gleich großen Gruppen sprechen: Ein Drittel glaubt an eine Verbesserung, ein weiteres Drittel glaubt, dass sich das Leben verschlechtern wird, der gleiche Anteil glaubt nicht, dass es irgendwelche Veränderungen geben wird. Es ist bemerkenswert, wie wenig sich diese Orientierungen in den letzten Jahren verändert haben. Soziologische Umfragen, die 2001, 2002 und 2003 durchgeführt wurden, zeigen trotz der massiven Informationskampagne über die EU die gleiche Verteilung von Einstellungen. Dieses Ergebnis wird auch durch die Stabilität des Vertrauens der Öffentlichkeit in die EU bestätigt, das sich nach dem Referendum nicht verändert hat.
Nicht-Esten sind fast doppelt so pessimistisch hinsichtlich ihrer Zukunft als Esten. 43 Prozent von ihnen befürchten, dass sich ihr persönliches Wohl verschlechtern wird, nachdem das Land der EU beigetreten ist. Dieser Pessimismus kann mit der höheren strukturellen Arbeitslosigkeit unter Nicht-Esten erklärt werden sowie mit ihrer überwiegenden Beschäftigung im industriellen Sektor, der wahrscheinlich weiter schrumpfen wird. Junge Menschen, insbesondere Studenten, schauen mit der größten Hoffnung auf ihre Zukunftsaussichten. Besondere Aufmerksamkeit sollte dem hohen Anteil derer geschenkt werden, die an keinerlei Veränderung glauben. Bei fast allen sozialen Gruppen machen sie ein Viertel oder sogar mehr als ein Drittel aus. Höchstwahrscheinlich entsprechen diese Personen den 36 Prozent, die am Tag des Referendums zu Hause blieben.
Die größten Disparitäten zwischen Optimisten und Pessimisten liegen auf dem Gebiet des Wirtschaftswachstums und des Arbeitsmarktes. 88 Prozent der EU-Befürworter glauben, dass die Wirtschaft schneller wächst, während diese Einstellung unter den Gegnern nur halb so oft vorkommt.
Einige dieser Hoffnungen und Ängste der Öffentlichkeit werden auch von den Eliten geteilt. Die derzeitige Regierungskoalition hat sehr hohe Erwartungen hinsichtlich ausländischer Investitionen und Unterstützungen aus dem Strukturfonds der EU. Fast die gesamte Erhöhung des Staatshaushaltes für 2004 basiert auf diesen Prämissen, was zu starker Kritik sowohl von der parlamentarischen Opposition als auch von Experten des Internationalen Währungsfonds (IWF) geführt hat. Die politischen Eliten schätzen auch eine höhere Sicherheit in der Zukunft und die Erweiterung von Bildungschancen, während Nationalkultur und Identität für sie keine große Besorgnis darstellen.
Wenn ein Nachbar zum Mitglied wird
Nach dem 1. Mai 2004 wird sich die EU in einem radikal veränderten Umfeld weiterentwickeln. Zehn neue Mitglieder werden nicht nur die Innenpolitik der Union verändern, sondern ebenso neue Herausforderungen in der internationalen Geopolitik entstehen lassen. Einer der estnischen Spitzenpolitiker, der ehemalige Außenminister und Anwalt der europäischen Integration Toomas Hendrik Ilves warnt davor, den Nachbarn von morgen - Russland, Ukraine und die Balkanstaaten - nicht genug Beachtung zu schenken. Laut Ilves sollte die EU eine solche Entwicklung verhindern, bei der eine Mauer zwischen dem Europa der 25 und seinen neuen Nachbarn errichtet wird.
Die postkommunistischen Staaten, die eingeladen werden, der EU beizutreten, haben sowohl hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung als auch der staatsbürgerlichen Freiheiten rasche Fortschritte gemacht. Bei denjenigen, die noch draußen stehen, hat sich nach dem Zusammenbruch der totalitären kommunistischen Regime die Lage nur wenig verbessert. Die jüngsten Wahlen in Georgien und Russland zeigen, wie schwach die liberalen Demokratien in diesen Ländern noch sind.
Welchen Einfluss könnte Estland bei der Antwort auf diese geopolitischen Herausforderungen haben? Estland wird der Mitgliedstaat mit der östlichsten EU-Außengrenze sein, deshalb sollte es besonders an einer positiven Entwicklung Russlands und der anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion interessiert sein. Höchstwahrscheinlich haben die neuen mittel- und osteuropäischen EU-Mitglieder nicht die Macht, die EU in Richtung der nächsten Erweiterung zu bewegen, und wahrscheinlich sind sie nicht einmal daran interessiert, da dies bedeuten würde, dass die Mittel der Europäischen Strukturfonds zwischen einer größeren Anzahl von Nachfragenden verteilt werden müssten.
Was Estland und andere neue Mitglieder zu bieten haben, ist die spezielle Kenntnis über erfolgreiche Transformationsprozesse. Die baltischen Staaten haben eine gute Sachkenntnis bei der Schaffung eines effizienten Zoll- und Grenzkontrollsystems, bei der Vereinigung der Interessen des privaten und des öffentlichen Sektors und bei der friedlichen Konfliktregelung in multiethnischen Gesellschaften. Selbst wenn die östlichsten europäischen Staaten in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren nicht in die EU eingeladen werden, braucht die Union zivilisierte und zumindest bescheiden wohlhabende Nachbarn. Die neuen EU-Mitglieder können dazu mit ihrer einzigartigen Erfahrung bei der sozialen Transformation beitragen.