Einleitung
Nach der für den 1. Mai 2004 vorgesehenen Erweiterung wird die Europäische Union 25 Mitgliedstaaten mit zusammen über 450 Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen umfassen. Zugleich wird - sollte die bisher eingeschlagene Richtung der europäischen Integration beibehalten und statt des nationalen Vetorechts im Ministerrat die Mehrheitsentscheidung eingeführt werden - für alle Bürger und Bürgerinnen unmissverständlich deutlich werden, dass in Brüssel de facto ein transnationaler Staat entstanden ist, der über viele jener Kompetenzen verfügt, die bisher charakteristische Merkmale nationaler Souveränität waren.
Somit ist es nur verständlich, dass man allenthalben nach Mitteln und Wegen sucht, einen europäischen Gemeinsinn zu fördern, der die Idee der "Werte-Gemeinschaft Europa" mit Leben erfüllt. Dabei wird die Stärkung einer transnationalen europäischen Identität weithin auch als Aufgabe für die historische und politische Bildung in Europa verstanden, die zum Aufbau eines europäisch orientierten Geschichtsbewusstseins bei der jungen Generation beitragen soll. Denn politische und kulturelle Gemeinschaften können sich "offenbar nur selbst verstehen, wenn sie bei ihrer Ortsbestimmung Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft aufeinander beziehen"
Dabei stellt die kulturelle Vielfalt der europäischen Regionen und Staaten mit ihren spezifischen historischen Identitäten eine besondere Herausforderung dar. Die kulturelle Heterogenität gilt zwar zu Recht als unverzichtbarer Bestandteil der europäischen Identität, doch wurzeln das nationale Denken und die damit verbundenen historischen Identitäten häufig in "Geschichtsbildern",
"Bilder zur Geschichte"
In diesem Zusammenhang mag die Beobachtung interessant sein, dass sich - bislang weithin unbemerkt und unkommentiert - seit dem großen Umbruch zu Beginn der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts in den aktuellen Geschichtsschulbüchern Europas ein konvergierendes Inventar von etwa 15 "Bildern zur Geschichte" etabliert hat, dem man offenbar europaweit einen herausragenden historischen Erinnerungs- und Symbolwert zuschreibt, zumindest im Hinblick auf den Geschichtsunterricht und die entsprechenden Unterrichtswerke.
Dieselben Bilder haben keineswegs überall dieselbe Bedeutung und Relevanz. Am Beispiel von Jacques-Louis Davids Darstellung des Ballhausschwures am 20. Juni 1789 kann man sich unschwer vergegenwärtigen, dass dieses Historienbild
Dabei bietet die Tatsache, dass gerade Bilder bzw. Bildquellen einen ersten gemeinsamen Fokus für den Geschichtsunterricht in Europa konstituieren, besonders auch im Hinblick auf das "visuelle Zeitalter" einen viel versprechenden Anreiz für die Geschichtsvermittlung. Denn historische Bildquellen sind nicht nur Ausdruck historisch-gesellschaftlicher Erfahrungen, sondern formen auf besondere Weise individuelle und kollektive Vorstellungen von der Vergangenheit und beeinflussen den Blick auf Gegenwart und Zukunft. Darüber hinaus dienen die einschlägigen fachspezifischen Methoden, welche die Schüler und Schülerinnen bei der Analyse und Interpretation von historischen Bildquellen im Geschichtsunterricht kennen lernen, dem Aufbau ebenso allgemeiner wie grundlegender Kompetenzen im Bereich der medial vermittelten visuellen Kommunikation. Nicht zuletzt aber wird eindrucksvollen historischen Bilddokumenten eine hohe Lernwirksamkeit zugeschrieben: Man nimmt vielfach an, dass die Auseinandersetzung mit Bildern verstärkt affektive Assoziationen hervorruft, die später dafür sorgen, dass nicht nur die Bilddokumente selbst, sondern auch die damit verbundenen historischen Gedächtnisinhalte vergleichsweise gut erinnert werden.
Doch mit den Vorzügen, die historische Bildquellen für die Geschichtsvermittlung bieten, sind auch besonders anspruchsvolle geschichtsdidaktische Herausforderungen verbunden. Denn "Bilder sind stumme Zeugen, und es ist schwierig, ihre Aussage in Worte zu übersetzen"
Mit wenigstens drei elementaren Aspekten des Verhältnisses von Bildquellen zur Vergangenheit sollten Schüler und Schülerinnen vertraut gemacht werden. So können die Details von bildlichen Darstellungen einzigartige Informationen für die Rekonstruktion beispielsweise der materiellen Kultur der Vergangenheit liefern. Peter Burke hält etwa in Bezug auf die Geschichte der Kleidung fest: "Manche Kleidungsstücke haben Jahrtausende überlebt, will man aber einen Eindruck vom ganzen Ensemble gewinnen, will man feststellen, was wie zusammenpasste und getragen wurde, so muss man sich Bilder und Drucke anschauen (...)."
Was dagegen die Darstellung von historischen Ereignissen in mimetisch-illusionistischen Gemälden anbelangt, so öffnen diese entgegen allem Anschein für die Schüler und Schülerinnen gerade kein "Fenster" zum vergangenen Geschehen; vielmehr dokumentieren sie die Art und Weise, wie man in der Vergangenheit historische oder zeitgenössische Ereignisse für die Nachwelt dargestellt hat. Schließlich gilt es in einem weiteren Schritt zu verstehen, dass populäre Bilddarstellungen oder vielmehr -deutungen von historischen Ereignissen - ganz unabhängig von ihrem dokumentarischen Wert - höchst wirksame Faktoren von historischen Prozessen sein und ihrerseits "Geschichte machen" können, indem sie kollektive Erinnerungen prägen und die Einstellungen und Verhaltensweisen historischer Akteure beeinflussen. Ein bekanntes Beispiel bieten die National-Ikonographien des 19. Jahrhunderts, die vielerorts im Zuge des nation building entstanden sind. Einige dieser Bilder, die heute weithin vergessen sind, haben wesentlich dazu beigetragen, mit Hilfe historischer Imaginationen nationale Identitäten zu formen und erwünschte Orientierungen visuell und damit affektiv besonders wirksam in der nationalen Memoria zu verankern. Andere dieser Bilder haben bis heute ihre Popularität bewahrt oder vielleicht auch eine neue gewonnen - zum Beispiel im Kontext des Bilderkanons der Geschichtsschulbücher in der Europäischen Union.
Der Bilderkanon
Bei einer Untersuchung von aktuellen, nach 1997 publizierten Schulbüchern aus Albanien, Belgien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Mazedonien, Moldawien, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Schweden, der Schweiz, Serbien und Montenegro, der Slowakei, Slowenien, Spanien, der Tschechischen Republik, Ungarn und Weißrussland, wie sie Anfang 2003 in der Bibliothek des Georg-Eckert-Instituts für Internationale Schulbuchforschung in Braunschweig verfügbar waren,
Es handelt sich um folgende Werke:
- John Trumbull (1756 - 1843): Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung am 4. Juli 1776 (Capitol-Fassung: 1826, Öl/Leinwand, ca. 360 x 480cm, Washington, D.C.);
- Jacques-Louis David (1748 - 1825): Der Ballhausschwur [20. Juni 1789] (1791, lavierte Tuschezeichnung, ca. 30 x 40cm, Paris);
- Francisco Goya (1746 - 1828): Die Erschießung der aufständischen Madrilenen am 3. Mai 1808 (1810, Öl/Lw., ca. 266 x 406cm, Madrid);
- Eugène Isabey (1767 - 1855); Vorlage Jean Godefroy (1771 - 1839; Kupferstich): Sitzung des Wiener Kongresses [1815] (1819, Kupferstich, 60,9 x 82,5cm);
- Eugène Delacroix (1798 - 1863): Das Massaker von Chios [1822] (1823/24, Öl/Lw, 417 x 354cm, Paris) oder derselbe: Griechenland auf den Ruinen von Missolonghi [1826] (ca. 1826, Öl/Lw., 213 x 142cm, Bordeaux);
- Eugène Delacroix (1798 - 1863): Die Freiheit führt das Volk [28. Juli 1830] (1830, Öl/Lw., 260 x 325cm, Paris);
- Anton Alexander von Werner (1843 - 1915): Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches im Spiegelsaal von Versailles [18. Januar 1871] (die "Friedrichsruher Fassung": 1885, Öl/Lw., 167 x 202cm, Friedrichsruh);
- Anton Alexander von Werner (1843 - 1915): Der Kongress zu Berlin [Schlusssitzung des Berliner Kongresses am 13. Juli 1878] (1881, Öl/Lw., 360 x 615cm, Berlin);
- William Orpen (1878 - 1931): Unterzeichnung des Friedensvertrages im Spiegelsaal von Versailles [28. Juni 1919] (1920, Öl/Lw., 152 x 127cm, London) oder eine Fotografie vom Akt der Unterzeichnung;
- Fotografie: Lenin spricht zu Rekruten der Roten Armee [20. Mai 1920]
- Pablo Picasso (1881 - 1973): Guernica [Bombardierung der Stadt Guernica am 26. April 1937] (1937 [für den spanischen Pavillon der Pariser Weltausstellung], Öl/Lw, ca. 775 x 1050cm, Madrid);
- Fotografie: Konferenz von Jalta, 4. bis 11. Februar 1945 [mit Blick auf die Kamera nebeneinander sitzend von links nach rechts: Churchill, Roosevelt, Stalin];
- Fotografie: Hissen der sowjetischen Fahne auf dem Berliner Reichstagsgebäude am 2. Mai 1945 [retuschiert];
- Fotografie: Fall der Berliner Mauer, Öffnung in der Nacht des 9. November 1989 [verschiedene Varianten].
Da andere Bildwerke in der Häufigkeit erst mit einem deutlich größeren Abstand folgen, als er innerhalb des genannten Kanons vorliegt, kann die Gruppe der "Spitzenreiter" als einigermaßen abgeschlossen gelten. Zugleich muss betont werden, dass keines der untersuchten nationalen Schulbücher das komplette Repertoire enthält, sondern durchschnittlich vier bis maximal sieben der "kanonischen Bilder"
Bei dem einzigen Schulbuch in Europa, das neben vielen anderen Abbildungen den gesamten Kanon wiedergibt, handelt es sich übrigens um den Sonderfall des mitunter sehr heftig gescholtenen "Europäischen Geschichtsbuches". Vermutlich hat sein Bildrepertoire als Modell gewirkt und auf diese Weise zur Entstehung der europaweiten Konvergenzen bei der Schulbuch-Ikonographie beigetragen, besonders auch im Hinblick auf die Unterrichtswerke jener mittel-, ost- und südosteuropäischen Länder, die sich nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme grundlegend neu orientieren mussten.
Die untersuchten Schulbücher, seien sie nun üppig und aufwändig oder eher sparsam und technisch bescheiden
Wie man unschwer erkennen kann, beschränkt sich der Kanon der "Spitzenreiter" auf Darstellungen zur Geschichte des modernen Europas, und selbst hierbei spart er - mit seiner Präferenz für bedeutende Ereignisse der europarelevanten politischen Geschichte - zahlreiche Themen aus, die in den Schulbüchern durchaus präsent sind, wie z.B. die Industrialisierung, die agrarischen und demographischen "Revolutionen" und die "Soziale Frage",
Dies bedeutet freilich nicht, dass die europäischen Schulbücher nicht auch Bildquellen zur Geschichte von der Antike bis 1776/89 sowie, in unterschiedlichem Ausmaß, auch zu den genannten Themenkomplexen der neueren Geschichte enthielten. Doch divergieren in diesen Bereichen die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen teilweise so stark, dass dies auf die Häufigkeitsauszählung durchschlägt, oder das dargebotene Material ist so facettenreich, dass sich keine Konzentration auf "kanonische Bilder" einstellt. Letzteres gilt besonders für die Bildinventare zur "Entdeckung" Amerikas, zum Absolutismus (Louis XIV.) und zu Napoleon sowie zu den beiden Weltkriegen, dem Nationalsozialismus und dem Holocaust.
Dennoch bleibt zu konstatieren, dass im hier beschriebenen Bildinventar transnationale "Ikonen" fehlen, die sich explizit auf die Grundlagen des modernen Europas in der Antike, im christlichen Mittelalter und in der Frühen Neuzeit beziehen würden. Hier ist kritische geschichtsdidaktische Aufmerksamkeit gefordert, auch wenn die einzelnen Schulbücher als solche immer ein chronologisch und thematisch vielseitigeres Bildrepertoire darbieten als der statistisch ermittelte Bestand der "Spitzenreiter". Immerhin haben die "kanonischen Bilder" auf Grund ihrer europaweiten Verbreitung ungleich größere Chancen als andere Bildquellen, die allgemeinen Vorstellungen von der europäischen Geschichte zu beeinflussen, so dass die gegebene Einseitigkeit und Selektivität den Verlust an historischer Tiefenschärfe verstärken könnte, der mit der überproportionalen Präsenz der modernen Geschichte in den Curricula ohnehin zu verzeichnen ist.
Die Aussichten von Bildquellen, in die Gruppe der "Spitzenreiter" aufzurücken, beeinflussen die Chancen von historischen Themen, als besonders wirkungsmächtig oder symbolträchtig in Bezug auf die europäische Geschichte wahrgenommen zu werden. Beispielsweise können wir nur spekulieren, welchen Stellenwert die deutsche Bombardierung der baskischen Stadt Guernica im April 1937 im kollektiven Gedächtnis hätte, wenn nicht Picassos weltberühmtes Werk daran erinnern würde; auch wissen wir nicht, welche "Ikone" gegebenenfalls den Platz von "Guernica" in den Schulbüchern einnehmen würde. Mit Blick auf die Werke von David, Goya, Delacroix und Picasso erkennt man deutlich, dass die Auswahl der "Spitzenreiter" nicht allein historiographischen Kriterien folgt, sondern auch von kunst- bzw. rezeptionsgeschichtlichen Faktoren und den ästhetischen Präferenzen der heutigen Massenkultur bestimmt ist. Damit schlagen vergangene Darstellungskonventionen auf unsere ikonisch geprägten Geschichtsvorstellungen durch: Dies betrifft z.B. nicht nur die Idealisierungs- und Personalisierungstendenzen bei der Darstellung historischer Ereignisse, sondern auch "Nullstellen" bzw. das Nichtvorhandensein entsprechender "Ikonen" zu bestimmten historischen Themenbereichen, die man in der Vergangenheit vielleicht nicht für darstellungswürdig befand.
Das Wirken solch "sachfremder" kunst- und ästhetikgeschichtlicher Faktoren zeigt sich unter anderem auch darin, dass sich unter den meistreproduzierten "Bildern zur Geschichte", von den Fotografien einmal abgesehen, die ohnehin eine unmittelbare Präsenz des Fotografen am Ort des Geschehens dokumentieren, ausschließlich "Ereignis-"
Im Unterricht sollte man den Einfluss der heutigen Medienkultur und ihrer ästhetischen Präferenzen auf den Kanon der meistverbreiteten "Bilder zur Geschichte" gezielt ansprechen, um den Schülern und Schülerinnen die Einseitigkeiten der Auswahl, aber auch die Bedingtheit von Geschichtsvorstellungen im "visuellen Zeitalter" bewusst zu machen. Letzteres scheint umso dringender geboten, als man überall in Europa die Unterrichtswerke zunehmend opulenter mit Abbildungen und entsprechend sparsamer mit Texten ausstattet.
Inhaltliche Schwerpunkte des europäischen Bildinventars
Welche Aspekte der europäischen Geschichte betont das neue europäische Bildinventar, wenn man es als Gesamtheit in seinem inneren Zusammenhang betrachtet? Auch wenn die nationalen Schulbücher stets nur einzelne Elemente und nicht den Gesamtkanon wiedergeben, ist eine solche Frage berechtigt. Denn für die Anbahnung einer europäischen historischen Identität kann es nur als wünschenswert gelten, dass die Geschichtslehrer und -lehrerinnen europaweit gerade diesen gemeinsamen Bildbestand verstärkt in ihren Unterricht einbeziehen und mit Hilfe dieses "tertium comparationis" - eines Repertoires gemeinsam rezipierter, aber unterschiedlich gedeuteter Bilder - sowohl dem Transnational-Verbindenden der historischen Erfahrung in Europa als auch den Besonderheiten der eigenen wie auch anderer europäischer Geschichtskulturen nachspüren.
Zugleich belegen die National-Ikonographien, die das nation building unterstützten, dass Bilderkanons, welche die allgemeinen Geschichtsvorstellungen prägen wollen, aus geschichtsdidaktischer Sicht besonders kritisch zu überprüfen sind. So war etwa die "Erfindung"
Dabei kann es wohl kaum als Zufall gelten, dass das in den europäischen Schulbüchern neu sich etablierende gemeinsame Bildinventar die Genealogie jenes Wertesystems in den Mittelpunkt rückt, das mit den Leitbegriffen der Bürger- und Menschenrechte und der Demokratie, des Friedens und der Toleranz den normativen Grundbestand der "Werte-Gemeinschaft Europa" bilden soll. Somit präsentiert dieser Bilderkanon eine ikonisch formulierte historische Legitimation des angestrebten Wertefundaments eines Vereinigten Europas.
Einen herausragenden Rang erhält dabei naturgemäß die Geschichte der politischen Revolutionen, die zunächst - siehe die "Unabhängigkeitserklärung", den "Ballhausschwur" und die "Liberté" - im Zeichen liberaler und demokratischer Werte stehen. Ihnen "folgt" gewissermaßen mit den Lenin-"Ikonen" der Hinweis auf die sozialistischen Revolutionen und die "Diktatur des Proletariats" im 20. Jahrhundert. Den vorläufigen Abschluss bildet die Fotografie zur Öffnung der Berliner Mauer, wobei sich ein Kreis zu schließen scheint: Denn die politischen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts repräsentieren nicht allein zentrale politische Werte des modernen Europas, sondern auch eine Geschichte von Gewalt und Terror, machtpolitischen Hegemonialansprüchen und verheerenden Kriegen. Das Bild der Maueröffnung steht somit in diesem Kanon mit seinem Hinweis auf eine friedliche demokratische Revolution und eine (weitgehend) friedliche Neuordnung der Machtverhältnisse auf dem Kontinent für die zuletzt erfolgte Verbindung von Freiheit und Frieden.
Eine weitere Gruppe von Bildern thematisiert die Geschichte gesamteuropäischer Ordnungs- und Friedenskonzeptionen in Europa seit 1814/15. Hierzu zählen die Werke zum Wiener und Berliner Kongress sowie zur Versailler Friedenskonferenz. Aber auch "Jalta" und indirekt wohl auch die Fotografien der Sowjetflagge auf dem Reichstagsgebäude und der Öffnung der Berliner Mauer können hierzu gerechnet werden. Zugleich verdeutlicht diese Bilderserie den wachsenden Einfluss der USA auf die europäische Geschichte und den Verlust der europäischen Vormachtstellung in der Welt sowie den Ost-West-Konflikt und die Teilung Europas infolge des Zweiten Weltkrieges. Die "amerikanische" Linie reicht von der "Unabhängigkeitserklärung" von 1776 über "Versailles 1919" und "Jalta" indirekt bis zur "Öffnung der Berliner Mauer".
In der Gruppe der "Konferenzbilder" findet man auch Hinweise auf den Wandel im Umgang von Siegern mit Besiegten: Im bekannten Kupferstich zum Wiener Kongress blickt Talleyrand, der als französischer Delegationsführer den Auftrag für das Werk an Isabey erteilt hat, sehr selbstbewusst aus der Runde auf den Betrachter, während in Versailles die besiegten Mittelmächte nicht zu den Verhandlungen zugelassen waren; auch das "Jalta"-Foto mag in diesem Sinne symbolkräftig sein, wenngleich es sich freilich um eine Kriegskonferenz handelte. Darüber hinaus verweisen diese Bilder am Rande auch auf die Geschichte des Osmanischen Reiches in Bezug auf das christliche Europa. Das Fehlen von Vertretern der Hohen Pforte, die in Wien zwar anwesend, aber nicht an den Verhandlungen beteiligt waren, auf dem Bild zum Wiener Kongress kontrastiert mit deren Präsenz beim Berliner Kongress, wie sie im Bild sichtbar wird, und der Absenz des Verbündeten des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg auf dem "Versailles 1919"-Bild. In den beiden Delacroix-Werken "Chios" und "Missolonghi" ist das Osmanische Reich als grausame Unterdrückungsmacht dargestellt. Was die Härte des Vorgehens gegen patriotischen Widerstand bzw. Freiheitsbestrebungen anbelangt, mag sich innerhalb des Kanons eine assoziative Verbindung zwischen "Chios" und dem "3. Mai"-Bild von Goya herstellen.
Die drei letztgenannten Kunstwerke erinnern an die Enttäuschung jener Hoffnungen, welche die Französische Revolution in Europa geweckt hatte, und die opferreichen patriotischen Kämpfe gegen Fremdherrschaft im Zeichen nationaler Selbstbestimmung als Teil der neueren europäischen Geschichte. In den weiteren Kontext des Strebensnach nationaler Einheit und Unabhängigkeit lassen sich ferner auch das Bild von der "VersaillerFriedenskonferenz" (vgl. z.B. Wilsons "14 Punkte") und schließlich die "Öffnung der Berliner Mauer" einordnen, wobei letztere "Ikone" auch hier eine langfristige Entwicklung zu friedlichen Lösungen suggeriert - was freilich der neuen europäischen Realität nicht ganz entspricht.
Nationalismus und Militarismus, die in totalitäre Gewalt, Terror und Krieg münden, sind konstitutive Bestandteile der Geschichte des modernen Europas und deuten sich im Bild der "Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches im Spiegelsaal von Versailles" an, das den preußischen Militarismus und die deutsche "Waffenbrüderschaft" als nationale Gründungsmythen feiert.
Ebenso werden bei der Geschichte des modernen Krieges im Zeitalter der Industrialisierung Akzente gesetzt. Schon Goyas eindrucksvolle Darstellung des französischen Erschießungskommandos im "3. Mai"-Werk ruft entsprechende Assoziationen hervor; ein weiteres Zeugnis gibt "Guernica", das u.a. auf Goyas Werk Bezug nimmt. Diese beiden Bilder kann man im Hinblick auf eine Geschichte der Kriegführung sehr gut z.B. mit den Flandern-Bildern von Otto Dix sowie mit unterschiedlichen Fotografien aus den beiden Weltkriegen oder dem Vietnamkrieg verbinden, von denen die meisten Schulbücher zumindest eine kleine Auswahl bieten.
Schließlich aber vermittelt dieses "kanonische" Bild-Repertoire auch Einsichten in den Aufstieg der Fotografie als Bildmedium und das Ende der traditionellen Historienmalerei im 20. Jahrhundert - jenseits von staatlicher Propagandakunst. Dabei sind die Gemälde von Anton von Werner, William Orpen und Wladimir Serow zu einem Zeitpunkt entstanden, als die Alternative einer fotografischen Dokumentation bereits gegeben war. Sie wurde teilweise auch parallel genutzt, so dass man einen Vergleich der unterschiedlichen Funktion der beiden Medien anregen kann, speziell auch im Hinblick auf die Authentizität der Wiedergabe. Wenn auch die Fotodokumente "Lenin spricht zu Rekruten der Roten Armee" und "Hissen der Sowjetflagge auf dem Reichstagsgebäude" mit einer expliziten Geschichte der Retuschen bzw. der Propagandalügen behaftet sind, so gilt doch für nicht manipulierte Bilder, dass ein Foto niemals nur dokumentiert, sondern stets auch interpretiert. Was aber die Gemälde anbelangt, so kann man an dem vorzüglichen Beispiel der drei unterschiedlichen Darstellungen ("Fassungen") derselben Szene der Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches, bei welcher der Maler immerhin als Augenzeuge zugegen war, aufzeigen, dass sich die "Authentizität" illusionistischer Gemälde oft genug auf realistisch wiedergegebene Details wie z.B. Uniformen beschränkt.
Es bleibt noch hinzuzufügen, dass das Bildrepertoire keine herausragende "Ikone" für den Prozess der europäischen Integration selbst bereithält, auch wenn einige Ereignisbilder historische Vorgänge darstellen, bei denen europäische Staaten gemeinsam auf europäischer Ebene handeln. Allenfalls könnte man der Fotografie von der "Maueröffnung" eine entsprechende Symbolkraft zusprechen, zeigt sie doch, dass bestehende Grenzen in Europa auf friedliche Weise und im Zeichen liberaler Demokratie fallen können, nachdem die Ost-West-Teilung überwunden ist.
Zurückkehrend zur Frage, ob und inwieweit die neue europabezogene Historien-Ikonographie in den Schulbüchern eine teleologische Lesart der modernen europäischen Geschichte suggeriert, wie man sie von den National-Ikonographien kennt, könnte der gegebene Kanon - nimmt man den chronologischen Anfangs- und den Schlusspunkt zusammen - dazu verleiten, die Entwicklung zu Freiheit und Frieden als immanentes Gesetz der europäischen Geschichte aufzufassen und darauf einen falschen Geschichtsstolz zu gründen. Doch wenn man sich dieser Gefahr bewusst ist, kann man ihr auch begegnen: So sind Geschichtslehrer und -lehrerinnen gefordert, ihren Schülern und Schülerinnen zu verdeutlichen, dass die europäische Einigung ein Prozess ist, der von historischen Rahmenbedingungen geprägt ist und explizit auf historische Erfahrungen Bezug nimmt, nicht aber ein Geschehen, das sich in einem überhistorischen Sinn "erfüllt".
Einheit in der Vielfalt
Das transnationale Bildinventar setzt die historischen Hauptakzente einerseits auf die Orientierung an den Menschen- und Grundrechten, die mit den politischen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts verbunden sind, andererseits auf die Gefährdungen der europäischen Welt durch Machtstreben und Unterdrückung, Nationalismus und Krieg sowie schließlich auf die Geschichte der gesamteuropäischen Ordnungs- und Friedenskonzeptionen. Damit ist ein Rahmen für den Bereich der neueren Geschichte in Europa gegeben, der für alle nationalen Curricula hinreichend viele Anknüpfungspunkte bietet, um die nationalhistorischen Geschichtszusammenhänge mit europäischen Kontexten und Perspektiven zu verbinden und vice versa die europäische Geschichte in der Nationalhistorie sichtbar zu machen. Dabei kann man einzelne "kanonische Bilder" aufgreifen, die angedeuteten Möglichkeiten von Bilderreihen für thematische Längsschnitte nutzen oder auch das Gesamtrepertoire in einem Projekt beleuchten. Stets aber sollte man die "europäischen Ikonen" mit passenden Bildquellen in Beziehung setzen, die speziell nationalhistorische Zusammenhänge oder Sichtweisen verdeutlichen und keine transnationale Bedeutung erlangt haben.
Soll die Arbeit mit dem gegebenen Bildinventar wirksam zur Förderung eines europäisch orientierten Geschichtsbewusstseins beitragen, das sich mit den regionalen und nationalen historischen Identitäten zu verbinden weiß, dann ist zweierlei geboten. Zum einen gilt es, jene Bildquellen in den jeweiligen Schulbüchern, die tatsächlich europaweite Verbreitung gefunden haben, im Unterricht bewusst als solche zu kennzeichnen und zu fragen, warum das betreffende Bild und der dargestellte Ereigniszusammenhang eine übergreifende Bedeutung für das historische Selbstverständnis in Europa gewonnen haben und worin diese bestehen könnte. Zum anderen aber gilt es, die Vielfalt der historischen Erfahrungen in Europa zu unterstreichen und beispielsweise zu fragen, in welchem Verhältnis die historische Interpretation, die uns eine europäische "Ikone" bietet, zu den geschichtlichen Erfahrungen im eigenen Land steht. Hier können Bildquellen mit nationalhistorischen Bezügen zum Vergleich anregen.
Den größten Wert für eine europäische historische Bildung könnte der Bildquellenfundus aber im transnationalen Dialog gewinnen, wenn Jugendliche aus verschiedenen Ländern - im Rahmen etwa von europäischen Schul-Kooperationsprojekten - an gemeinsamen Schulbuch-"Ikonen" arbeiten. So können sie sich mit der unterschiedlichen Bedeutung eines Bildes sowie des dargestellten Ereignisses in den jeweiligen Geschichtskulturen befassen oder sich über nationale und regionale Bildquellen in ihren Schulbüchern austauschen, die hier wie dort mit dem betreffenden Geschichtszusammenhang verknüpft sind und die unterschiedlichen historischen Erfahrungen und Deutungen erschließen.
Der beschriebene Kanon erscheint attraktiv und symbolträchtig genug, um sich langfristig auf dem Weg über die Schulbücher in das europäische Bildgedächtnis einzuprägen. Es ist damit zu rechnen, dass diese "Bilder zur Geschichte" die kollektiven "Geschichtsbilder" beeinflussen. Dabei dürfen aber die populären geschichtskulturellen "Ikonen" das begriffliche Wissen und die historische Reflexion nicht dominieren. Denn Geschichtsvorstellungen, die sich unmittelbar von Bildern ableiten, sind der Tendenz nach nichtreflexiv, konkretistisch und affektiv angelegt und auf symbolkräftige personen- und ereignisgeschichtliche Inszenierungen und Idealisierungen ausgerichtet. Es kommt somit wesentlich auf eine geschichtsdidaktisch kompetente Umsetzung des wertvollen Potenzials an, dasmit dem gemeinsamen Bildrepertoire für den europäischen Geschichtsunterricht gegeben ist. Da viele Lehrkräfte mit dem "kanonischen" wie auch anderem in Schulbüchern dargebotenen Bildquellenmaterial nicht hinreichend vertraut sind und oft nur wenig oder keine Erfahrung mit der Bildquellenarbeit im Unterricht besitzen, sind verstärkte Anstrengungen von Seiten der Geschichtsdidaktik, besonders auch im Bereich der Geschichtslehreraus- und -fortbildung, gefordert.
Ebenso müssen die europäischen Schulbuchgestalter endlich ihren Beitrag leisten, indem sie wichtige Bildelemente als Bildquellen ausweisen und inhaltlich so weit erschließen, dass die Lernenden im Unterricht selbsttätig damit arbeiten können. Dabei kommt dem "Europäischen Geschichtsbuch" wie auch den deutschen, französischen und einigen anderen Unterrichtswerken besondere Verantwortung zu: Sie werden vielfach in Ländern, die ihre Geschichtscurricula von Grund auf neu zu gestalten haben, als mustergültig angesehen. Doch nur wenn das symbolkräftige Bild als historische Quelle fassbar wird, können die transnational bedeutsamen "Ikonen" jene fragenden und forschenden Dialoge anregen, in denen man die regionalen, nationalen, genuin europäischen und bisweilen auch globalen Perspektiven immer wieder neu verknüpft und gegeneinander setzt, so dass das Prinzip der Einheit in der Vielfalt in der europäischen historischen Bildung wirksam wird.