Mit der Resolution 61/106 verabschiedete die UN-Generalversammlung 2006 das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, dessen Artikel 24 inklusive Bildung als globale Menschenrechtsnorm verankert.
Bis heute haben 177 Staaten die UN-BRK ratifiziert und sich gemäß Artikel 24 dazu verpflichtet, inklusive Bildungssysteme sicherzustellen. Das sind nach Definition des Allgemeinen Kommentars zu Artikel 24 des UN-Fachausschusses über die Rechte von Menschen mit Behinderungen Systeme, die Kinder und Jugendliche nicht auf Basis einer Behinderung diskriminieren, sondern gleiche Chancen für alle verwirklichen.
Artikel 24 UN-BRK enthält also einen Reformauftrag – die Vorgabe der Entwicklung inklusiver Bildungssysteme – und eine Reformagenda – das angestrebte Ergebnis der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit aller Schulen für alle Kinder und Jugendliche. Zusammen bilden Reformauftrag und Reformagenda eine "Programmatik des Wandels", die Zweck und Ziel der Menschenrechtsnorm festhält und Bildungswandel in den Vertragsstaaten anleiten soll. Diese "Programmatik des Wandels" stellt die Vertragsstaaten zwar vor die gleiche Reformaufgabe, aber vor unterschiedliche Probleme, je nachdem, welche Schulen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen verfügbar und zugänglich sind. Über Letzteres entscheiden jene Regeln, Normen und Überzeugungen, die Schulsysteme als Institutionen stabilisieren und somit die Bildungsrealitäten hervorbringen, die gleichberechtigte Teilhabe behindern oder ermöglichen. Ebendiese sind folglich die "Objekte des Wandels".
Die globale Varianz der mit der Umsetzung von Artikel 24 UN-BRK verbundenen Herausforderung lässt sich exemplarisch am Beispiel von Nigeria und Deutschland zeigen. Als UN-BRK-Vertragsstaaten sind beide Länder gleichermaßen herausgefordert, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise: Nigeria ist das Land mit der weltweit höchsten Zahl von Kindern und Jugendlichen, die nicht zur Schule gehen. Die absoluten Zahlen schwanken zwischen neun und 10,5 Millionen, das entspricht fast 30 Prozent aller schulpflichtigen Kinder,
Welchen Einfluss haben nun die in Artikel 24 UN-BRK verankerten Menschenrechtsideen auf die institutionellen Kräfte, die bisher in beiden Schulsystemen für Ausgrenzungen von Kindern und Jugendlichen auf der Basis von Behinderungen sorgen?
Bildungswandel und Diskurse
Für diese Frage ist es zentral zu verstehen, wie die in Artikel 24 UN-BRK enthaltenen Menschenrechtsideen in den institutionellen Wandel von Schulsystemen übersetzt werden. Dafür ist es notwendig, die kontextspezifischen Diskurse um inklusive Bildung zu analysieren. Diese Annahme basiert auf einem wissenssoziologischen Zugang zur sozialen Konstruktion von Wirklichkeit.
Wenn das von den Vertragsstaaten der UN-BRK gegebene Versprechen, inklusive Bildungssysteme sicherzustellen, eingelöst werden soll, muss sich demnach Wissen ändern, das bisher behinderungsbasierte Exklusion oder Segregation im jeweiligen Schulsystem legitimiert hat. Einer der Orte, an dem Wissen über die Bildung behinderter Kinder und Jugendlicher (re)produziert wird, sind die Debatten bildungspolitischer Akteure, also die Gruppe staatlicher und zivilgesellschaftlicher Organisationen, die über die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems sprechen und mit Bezug darauf handeln.
Inwiefern die in Artikel 24 UN-BRK eingelassene "Programmatik des Wandels" dazu beiträgt, dass sich das Sprechen und Wissen bildungspolitischer Akteure über die Beschulung von Schüler_innen mit Behinderungen verändert oder aber beständig bleibt, ist eine empirische Frage. Meine Untersuchung setzt daher an den bildungspolitischen Debatten über inklusive Bildung an, die in Nigeria und Deutschland auf Bundesebene stattfinden – der Ebene, auf der die UN-BRK in Deutschland 2009 und in Nigeria 2010 ratifiziert wurde. Trotz weitreichender Zuständigkeit der Bundesstaaten in Nigeria und der Bundesländer in Deutschland für Bildungsgesetzgebung sind Verhandlungen über die damit verbundene Herausforderung gerade unter bundespolitischen Akteuren zu beobachten. Diese sind in Übereinstimmung mit Artikel 33 UN-BRK damit beauftragt, den internationalen Menschenrechtsvertrag in innerstaatliches Recht zu überführen, einen nationalen Aktionsplan zu entwickeln und den Vereinten Nationen den ersten Staatenbericht vorzulegen.
Um zu zeigen, wie die aus Artikel 24 UN-BRK resultierende Reformaufgabe in beiden Ländern kurz nach der Ratifizierung diskutiert wird und was das für den Wandel des jeweiligen Schulsystems bedeutet, vergleiche ich die Fallstudien also im Hinblick auf die diskursive Verhandlung des Verhältnisses zwischen "Programmatik" und "Objekt des Wandels" bis 2015. Ziel ist es, die Wissenskonfigurationen zu rekonstruieren, die die Diskurse um inklusive Bildung in beiden Ländern tragen. Damit gebe ich einen Einblick in aktuelle Verhandlungen, nicht jedoch in die materiellen Aspekte dieses Wandels. Denn in diesen Verhandlungen wird ein Wandlungsprozess für das gesamte Schulsystem entworfen, der zu weitreichenden Umsetzungsprozessen führen kann, aber nicht muss, deren Auswirkungen erst viel später beobachtet werden können.
Das Textkorpus besteht in beiden Fällen aus Dokumenten relevanter bildungspolitischer Akteure, mit denen ich auch Experteninterviews geführt habe, also staatliche und zivilgesellschaftliche Organisationen, die auf Bundesebene im Bereich Bildungs- und Behindertenpolitik arbeiten und damit an der Übersetzung menschenrechtlicher Ideen über Inklusion beteiligt sind: Bundesregierungen, Bildungsministerien, Professionsverbände, Behindertenrechtsorganisationen, Menschenrechtskommissionen. In Nigeria habe ich zudem die Gruppe der internationalen Organisationen wie UNESCO und UNICEF einbezogen, da diese aktiv an der Gestaltung des Bildungswesens beteiligt sind. Für Nigeria habe ich ein Korpus von 39 Dokumenten und zwölf Interviews im Detail ausgewertet, für Deutschland ein Korpus von 53 Dokumenten und sieben Interviews. Die Auswertungen erfolgten auf Basis einer Kombination von wissenssoziologischer Diskursanalyse und Grounded Theory.
Im Folgenden stelle ich zentrale Ergebnisse des Vergleichs der Diskurse um inklusive Bildung vor. Der Fokus liegt dabei erstens auf den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Diskursen und zweitens auf ihrem Verhältnis zu der in Artikel 24 UN-BRK enthaltenen "Programmatik des Wandels".
Artikel 24 UN-BRK als Bezugspunkt
Der deutlichste Unterschied zwischen beiden Diskursen zeigt sich in Bezug auf die Rolle von Artikel 24 UN-BRK als Dokument. Während in Deutschland die Ratifizierung des Abkommens Anlass und Rahmen des Diskurses um inklusive Bildung ist, liegt in Nigeria ein anderer Kontext der Diskursproduktion vor: Hier setzt die bildungspolitische Debatte über Inklusion auf Bundesebene bereits bei der Implementierung des 2004 erlassenen Grundbildungsgesetzes (Free Compulsory Universal Basic Education Act) an, das jedem Kind das Recht auf neun Jahre Grundbildung garantiert. Daher habe ich den Zeitrahmen der Fallstudie zu Nigeria erweitert – sie beginnt nicht wie für Deutschland mit dem Jahr der Ratifizierung der UN-BRK, sondern 2004 mit der Verabschiedung dieses Gesetzes.
Die Implementierung des Grundbildungsgesetzes in Nigeria zielt auf Bildungsexpansion, um so dem übergeordneten Ziel sozioökonomischer Entwicklung zu dienen. Um das zu erreichen, wird die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems vorgeschlagen, das Sonderbildungsprogramme für besonders marginalisierte Gruppen umfasst. Dazu zählen sowohl Alphabetisierungsprogramme als auch nomadische Bildung, integrierter Koranunterricht und, mit Blick auf Kinder mit Behinderungen besonders relevant, sonderpädagogische Förderung. Wenn es um diesen letzten Aspekt geht, stehen behinderte Kinder und ihr Recht auf Bildung zwar im Zentrum der Debatten. Allerdings unterscheiden sich die Akteure hinsichtlich ihres argumentativen Zugangs: Internationale Organisationen und staatliche Akteure nähern sich dem Thema inklusive Bildung aus einer entwicklungsbasierten Perspektive, da sie das Bestreben nach Bildungsexpansion in den Fokus stellen; zivilgesellschaftliche Akteure, allen voran Behindertenrechtsorganisationen, nähern sich hingegen aus einer behinderungsbasierten Perspektive und stellen den Bedarf an (sonderpädagogischen) Unterstützungssystemen ins Zentrum ihrer Argumente.
In Deutschland ist die von der Ratifizierung der UN-BRK 2009 ausgehende Debatte um inklusive Bildung auf Bundesebene gekennzeichnet von Kontroversen über das Ausmaß des mit dem Ausbau des gemeinsamen Lernens von Kindern mit und ohne Behinderungen verbundenen Wandels. Während sich zivilgesellschaftliche Akteure und Behindertenrechtsorganisationen dem Thema aus einer strukturtransformativen Perspektive nähern und die Überwindung segregierender Schulstrukturen fordern, argumentieren staatliche Akteure und Professionsverbände strukturkonservativ.
In Nigeria, wo Inklusion durch das internationale Entwicklungsziel "Bildung für alle" gerahmt wird, handelt es sich also um eine indirekte Form der diskursiven Aneignung der in Artikel 24 UN-BRK enthaltenen Wandlungsprogrammatik. Denn diese setzt an historischen Vorläuferdokumenten zur UN-BRK an, allen voran der Salamanca-Erklärung von 1994 und den Millenniumsentwicklungszielen von 2000, in denen die "Programmatik des Wandels" zwar bereits angelegt ist, aber noch nicht als Menschenrecht formuliert wurde. In Deutschland, wo die bildungspolitischen Verhandlungen hingegen an die Implementierung der UN-BRK gebunden sind, handelt es sich um eine direkte Form diskursiver Aneignung der globalen Wandlungsprogrammatik der UN-BRK.
Anvisierte Wandlungsprozesse
In beiden Diskursen wird die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems als globaler Reformauftrag anerkannt, jedoch werden damit unterschiedliche Ergebnisse angestrebt: In Nigeria geht es darum, Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen überhaupt Zugang zum öffentlichen Schulsystem zu verschaffen, in Deutschland geht es um einen Ausbau des gemeinsamen Lernens behinderter und nichtbehinderter Schüler_innen. Vor diesem Hintergrund kommt es in beiden Ländern zu einer Modifizierung der Reformagenda: In Nigeria reflektieren die Akteure das globale mit Inklusion angestrebte Ergebnis – alle Schulen für alle verfügbar und zugänglich zu machen – und kommen zu dem Schluss, dass dies aufgrund der von Exklusion geprägten Bildungsrealitäten und des Fehlens eines Unterstützungssystems für behinderte Kinder aktuell nicht erreichbar sei. Aus diesem Grund treten sie für die Institutionalisierung eines sonderpädagogischen Fördersystems mit Sonderschulen und Sonderklassen für Kinder mit Behinderungen ein. Die Schaffung eines solchen Systems, das für die besonderen Bedürfnisse behinderter Schüler_innen Vorkehrungen trifft, gilt als wichtiger Schritt, um sowohl das Recht auf Bildung von Menschen mit Behinderungen als auch das Entwicklungsziel "Bildung für alle" zu realisieren.