Begriffsverwirrungen
Unter dem Eindruck gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Wandlungsprozesse scheint das Interesse an den Eliten der Bundesrepublik neu entfacht. Das belegt nicht nur eine Vielzahl fachwissenschaftlicher Publikationen.
Die allgemeinste Vorstellung von Eliten zielt auf Minderheiten von Personen, die sich in einem Prozess der Auslese und Konkurrenz herausgebildet haben, der ihre herausgehobene Stellung in der Gesellschaft zugleich rechtfertigt und begründet.
Das Kriterium der Macht ist in erster Linie für politikwissenschaftliche Fragestellungen zentral, die sich mit dem Elitenproblem im Kontext von Herrschaft, Konflikt und Konsens beschäftigen und an der Rolle von Eliten in politischen Willensbildungsprozessen interessiert sind.
Die vor diesem Hintergrund auch als Funktionseliten etikettierten Mitglieder einer Führungsschicht sind in Demokratien in der Regel diejenigen Personen, die in allen relevanten Gesellschaftssektoren Führungspositionen innehaben, von wo aus sie regelmäßig und maßgeblich an zentralen Entscheidungsprozessen mitwirken.
Der friedliche und freie Wettbewerb unterschiedlicher Führungsgruppen - etwa aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Interessenorganisationen und Massenmedien - um Macht und Einfluss bildet somit die zentrale Annahme des pluralistischen Paradigmas der modernen, empirisch orientierten Elitenforschung.
Forschungsfragen
Die Perspektive des Elitenpluralismus lag sowohl den Mannheimer Elitestudien von 1968, 1972 und 1981 als auch der Potsdamer Elitestudie von 1995 als forschungsleitendes Programm zu Grunde.
1. Welche Rekrutierungsmerkmale und Karrierewege kennzeichnen die Mitglieder der deutschen Führungsschicht?
2. Wie lassen sich die Kontakt- und Kommunikationsmuster zwischen den Eliten charakterisieren?
3. In welchem Ausmaß teilen die deutschen Eliten demokratische Einstellungen und Wertorientierungen?
Während sich hinter der ersten Frage insbesondere das demokratietheoretische Postulat eines allgemein offenen Zugangs zu Elitepositionen verbirgt, versprechen Erkenntnisse über das Kommunikationsverhalten und die Kontaktnetzwerke der Führungskräfte zum einen Aufschluss über die Macht- und Einflussstruktur einer Gesellschaft. Zum anderen geben sie Hinweise auf das Kooperationspotenzial der Funktionseliten, das als eine Voraussetzung für erfolgreiche Koordinations- und Aushandlungsprozesse auf Eliteebene betrachtet wird.
Darüber hinaus dürfte in repräsentativen Demokratien, die sich über die freiwillige Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger legitimieren, das Verhältnis von Führungsschicht und Bevölkerung von zusätzlichem Interesse sein. Dem wurde mit den Elitestudien von 1981 und 1995 Rechnung getragen, indem parallel zur jeweiligen Elitenbefragung eine repräsentative Bevölkerungsumfrage durchgeführt wurde, die einen Einstellungsvergleich zwischen den interviewten Eliten und dem deutschen Bevölkerungsquerschnitt erlaubt.
Im Folgenden sollen auf der Basis der Mannheimer und Potsdamer Elitestudien ausgewählte zentrale Befunde zu den Rekrutierungs- und Karrierewegen sowie dem Kommunikationsverhalten der deutschen Positionseliten präsentiert werden. Aufgrund eines je unterschiedlichen Studiendesigns ist allerdings kein systematischer Zeitvergleich möglich. Dennoch können einige Aussagen über Kontinuitäten und Veränderungen in der Zusammensetzung der deutschen Führungsschicht und ihrer Kommunikationsnetzwerke getroffen werden.
Zur Herkunft bundesdeutscher Eliten: Geschlossene Gesellschaft der sozial Privilegierten?
Erkenntnisse über die sozialen Merkmale von Führungskräften erlauben in erster Linie Antworten auf die Frage, wer sich hinter den Mitgliedern der deutschen Positionselite verbirgt. Demokratische Eliten sind vor allem dadurch gekennzeichnet, dass der Rekrutierungsprozess zu den Machtpositionen der Gesellschaft offen ist und Chancengleichheit beim Zugang zu Elitepositionen besteht, was von normativer Bedeutung für die Legitimität von Elitenhandeln ist. Insofern reichen Befunde über die soziale Struktur der deutschen Führungsschicht über rein deskriptive Feststellungen hinaus. Dies gilt umso mehr, wennangenommen wird, dass sich die soziodemographische Homogenität der Eliten auch positiv auf die Effektivität der Elitenkommunikation auswirkt und damit ebenso die Voraussetzungen für die Kooperation der Elitemitglieder verbessert.
Obwohl die Zugangschancen zu Elitepositionen in der Bundesrepublik formal gesichert sind, stellt die Forschung relativ übereinstimmend nach wie vor vorhandene faktische Ungleichheiten aufgrund unterschiedlicher sozialer Herkunft fest. Danach haben Kinder aus den oberen Sozialschichten der Bundesrepublik - aus dem gehobenen Bürger- und Großbürgertum oder der unteren und oberen Dienstklasse - vergleichsweise bessere Chancen, eine Eliteposition zu erreichen als der Nachwuchs aus den breiten Mittelschichten.
Allerdings gelten diese Startvorteile nicht in allen Elitesektoren gleichermaßen. Während eine statushöhere soziale Herkunft vor allem die Aufstiegschancen in die Führungsetagen der deutschen Wirtschaft beeinflusst und sich auch positiv auf eine Karriere in Verwaltung und Bundeswehr auswirkt, weisen andere Elitesektoren wie Wissenschaft, Justiz, vor allem aber Gewerkschaften und Politik eine größere Rekrutierungsoffenheit auf.
Während dieser Befund relativ unstrittig ist, besteht jedoch erheblicher Dissens in der Frage, ob herkunftsbedingte Vorteile von Kindern der oberen Sozialschichten im Zeitverlauf abgenommen und stattdessen so genannte meritokratische, das heißt leistungsbezogene Auswahlkriterien an Bedeutung gewonnen haben. So stellt Michael Hartmann in seinen Untersuchungen in direkter Auseinandersetzung mit den Befunden der Potsdamer Elitestudie von 1995 fest, dass die soziale Herkunft nach wie vor die beruflichen Karriereaussichten der heutigen Eliten direkt beeinflusst und vor allem bei Führungspositionen in der Wirtschaft statt Öffnungs- sogar weitere Schließungstendenzen zu beobachten sind.
Dem widersprechen die Ergebnisse der Potsdamer Elitestudie. Zwar wird auch hier konstatiert, dass höhere soziale Statusgruppen in der deutschen Positionselite von 1995 mit Ausnahme der Gewerkschaften überproportional vertreten sind.
Diese widersprüchlichen Befunde, die wenigstens teilweise auch auf unterschiedliche Methoden der Datenerhebung zurückzuführen sind, dürften weitere Forschungsbemühungen anregen. Dies gilt umso mehr, als zwar nach Befunden der Potsdamer Elitestudie neben der sozialen Herkunft ein Hochschulabschluss den Elitenaufstieg begünstigt.
Sieht man einmal von der statusorientierten sozialen Herkunft der Elitemitglieder ab, lassen sich anhand der Zahlen in Tabelle 1 (s. PDF-Version) weitere interessante soziodemographische Details berichten. Dazu gehört zum Ersten, dass sich das Durchschnittsalter der Elitemitglieder seit Ende der sechziger Jahre kaum verändert hat und im Schnitt bei 53 Jahren liegt.
Darüber hinaus ist die Führungsschicht der Republik trotz Frauenbewegung und Chancengleichheitsgebot im Grundgesetz noch immer eine Männerdomäne. Zwar sind in der Gruppe der westdeutschen Eliten Mitte der neunziger Jahre immerhin fünf Mal so viele Frauen in Elitepositionen gelangt wie 27 Jahre zuvor. Doch noch immer sind Frauen extrem unterrepräsentiert und jene Zuwächse auf die jeweiligen Sektoren stark ungleich verteilt. Während weibliche Führungskräfte inzwischen überproportional häufig in der Politik zu finden sind (36 Prozent), weniger oft aber in der Verwaltung (12 Prozent), den Gewerkschaften (9 Prozent) und Massenmedien (8 Prozent) sowie im Kulturbereich (10 Prozent), bilden sie in Wirtschaft (1 Prozent) und Wirtschaftsverbänden (2 Prozent), in Wissenschaft (3 Prozent) und Militär (1 Prozent) noch immer absolute Ausnahmen. Insgesamt hat sich in Deutschland, abgesehen von der Politik, bezüglich der geringenAufstiegschancen für Frauen in die deutsche Positionselite seit nahezu 30 Jahren wenig bewegt.
Überwiegend Kontinuität zeigt sich auch bei der formalen Bildungsqualifikation der Positionseliten, wonach jeweils eine deutliche Mehrheit von ihnen über einen Hochschulabschluss verfügt, wobei es zwischen 1981 und 1995 noch einmal einen deutlichen Zuwachs gegeben hat. Dabei lässt sich jedoch zu keinem Zeitpunkt die Existenz milieubildender, fachspezifischer Eliteuniversitäten oder ein spezifischer Fächerkanon in den Werdegängen der deutschen Eliten nachweisen.
Letzteres ist der stärkste Kontrast zu den Eliten ostdeutscher Herkunft, von denen 1995 knapp 59 Prozent im Sektor Politik und 12 Prozent in den Massenmedien vertreten waren (vgl. Tabelle2: PDF-Version).
Karrierepfade: lang, mühsam und abgeschottet
Ähnlich einschneidend wirkte sich die deutsche Einheit auf den Karriereverlauf ostdeutscher Führungskräfte aus. Im Vergleich zu den Elitemitgliedern westdeutscher Herkunft erreichten Ostdeutsche ihre Eliteposition nicht nur schneller, sondern waren zu diesem Zeitpunkt auch deutlich jünger, wenngleich sie 1995 in einigen Sektoren gar nicht (Justiz, Militär), in anderen kaum vertreten waren (Wirtschaft und Wirtschaftsverbände, Verwaltung und Wissenschaft) (vgl. Tabelle 2: PDF-Version).
Westdeutsche Führungskräfte waren in der Befragung von 1995 im Schnitt 49 Jahre alt, als sie in eine Eliteposition aufrückten, zwei Jahre älter als noch 1981.
Davon abgesehen eint westdeutsche Führungskräfte jedoch die gemeinsame Erfahrung eines langsamen Aufstiegs, der aufgrund einer langwierigen sektor- und betriebsspezifischen Sozialisation und fortwährender Bewährungspflichten nicht nur eine ausgeprägte Spezialisierung innerhalb der Führungsschicht fördert;
Elitenkommunikation: Interessenorganisationen verlieren an Einfluss
Eine Annahme der Elitenforschung geht davon aus, dass eine möglichst große soziodemographische Homogenität der Mitglieder einer Führungsschicht sowie eine ähnliche Berufssozialisation die Voraussetzungen für die horizontale Integration der Eliten unter den Bedingungen einer wachsenden, auf Arbeitsteilung basierenden Komplexität moderner Gesellschaften verbessern.
Die institutionellen Strukturen der Bundesrepublik sind aber vergleichsweise umfassend auf konsens- und kooperationsorientiertes Verhalten der beteiligten Akteure angelegt, die sich in einem breiten Netz von Verhandlungssystemen gegenüberstehen. Dabei übernehmen Eliten sowohl interne, das heißt auf den jeweiligen Sektor und die eigene Organisation gerichtete Leitungs-, Entscheidungs- und Integrationsaufgaben als auch die Außenvertretung von Eigeninteressen gegenüber den Eliten anderer gesellschaftlicher Bereiche.
Ungeachtet ihrer geringen sozialen Kohäsion konnte für die bundesdeutsche Führungsschicht sowohl 1981 als auch 1995 ein dichtes Kommunikationsnetzwerk nachgewiesen werden, in dem Politikeliten die zentrale Position einnehmen.
Darüber hinaus zeigen die Daten der Potsdamer Elitestudie, dass Wirtschaft und Medien neben der Politik zusätzliche Säulen im Kommunikationszentrum bilden. Außerdem konnte festgestellt werden, dass politische Eliten auf Bundes- und Landesebene 1995 intensiver vernetzt waren als noch 14 Jahre zuvor. Allerdings haben in der zunehmenden Verflechtung von Bundes- und Landesebene die politischen Parteien zugunsten von Parlamentsfraktionen und Exekutive(n) an Bedeutung verloren.
Die abnehmende Einbindung intermediärer Organisationen in Kommunikationsprozesse auf Eliteebene entspricht anscheinend einem generellen gesellschaftlichen Trend. Danach wird gesellschaftliche Interessenvertretung durch Lobbyismus außerhalb traditioneller Verbandsstrukturen, die Professionalisierung des Lobbying und die Gründung von Nichtregierungsorganisationen (NGO) zunehmend spezialisiert, individualisiert und pluralisiert.
Diese Skepsis beruht zum einen auf den nach wie vor aktuellen Befunden der politischen Partizipationsforschung, wonach politische Partizipationsbereitschaft eng an die sozioökonomische Ressourcenausstattung von Individuen geknüpft ist.
Vor dem Hintergrund dieser Befunde lässt sich fragen, wie sich der Wandel im Bereich der Interessenvermittlung auf das Verhältnis von Führungsschicht und Bevölkerung auswirkt. Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung, die 1995 im Rahmen der Potsdamer Elitestudie durchgeführt wurde, deuten jedenfalls auf spezifische Benachteiligungsgefühle in der Struktur der Interessenvertretung im vereinten Deutschland hin.