Einleitung
Vierzehn Jahre nach der deutschen Vereinigung wird über Ziele und Perspektiven der deutschen Außenpolitik erneut heftig diskutiert. Der Bruch mit der US-amerikanischen Außenpolitik während der Irakkrise hat diese Debatte zwar nicht ausgelöst, aber doch erheblich verschärft. Gregor Schöllgen ruft "Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne" aus, und Egon Bahr begrüßt den "deutsche(n) Weg" als "selbstverständlich und normal"
Dieser Beitrag geht der Frage nach, ob wir Veränderungen in der außenpolitischen Orientierung der Bundesrepublik beobachten können und ob dieser Wandel als Abkehr vom Zivilmacht-Konzept hin zu einem "Nationalstaat wie andere auch, mit dem Potential einer europäischen Großmacht"
Das Ergebnis dieser Analyse lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Während es bei der Mittelwahl zum Teil beträchtliche Veränderungen in der deutschen Außenpolitik gegeben hat (z.B. die zunehmenden Auslandseinsätze der Bundeswehr), dominiert bei den außenpolitischen Zielen die Kontinuität. Die Bundesrepublik betreibt nach wie vor eine an internationaler Kooperation, Multilateralismus und friedlicher Konfliktbeilegung orientierte Außenpolitik einer "Zivilmacht". Was die Gestaltungskraft der deutschen Außenpolitik angeht, so variiert diese nach Sachbereichen. Einer im Wesentlichen pro-aktiven Europapolitik steht ein oft re-aktiver Politikstil gegenüber, was Einsätze der Streitkräfte im Ausland oder die transatlantischen Beziehungen angeht.
Positionen zur deutschen Außenpolitik
Eine ähnliche Diskussion zur deutschen Außenpolitik hat bereits vor zehn Jahren stattgefunden. Schon damals standen sich zwei Positionen gegenüber. Protagonisten der so genannten "Normalisierung" forderten, das vereinigte und souveräne Deutschland solle eine an den eigenen nationalen Interessen orientierte, selbstbewusste Machtpolitik betreiben und sich in der Mitte Europas neu positionieren. Dieser Position widersprachen diejenigen, die auf die Kontinuität einer kooperativen und am Ausbau multilateraler Institutionen orientierten "Zivilmacht Deutschland" setzten.
Heute stehen wir vor einer ähnlichen Debatte, in der sich die folgenden Positionen herauskristallisieren. Gregor Schöllgens oben zitierter Essay ist wahrscheinlich das deutlichste Beispiel für eine traditionelle Analyse, die Außenpolitik im 21. Jahrhundert mit ähnlichen Kategorien analysiert wie die internationale Politik des 19. Jahrhunderts. Damals wie heute geht es um Gleichgewichtspolitik (der europäischen Mächte unter- und gegeneinander, während des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion, heute gegen eine amerikanische Weltpolitik mit imperialen Tendenzen). Die Außenpolitik von Bundeskanzler Gerhard Schröder in der Irakkrise bedeute den "wohl radikalste(n) Bruch bundesrepublikanischer Außenpolitik mit ihrer eigenen Tradition"
Mit ähnlichen Kategorien operiert auch Egon Bahr: "Normal ist, dass jeder Staat seine Interessen vertritt und versucht, seine Ziele durchzusetzen, ohne sich von der Vergangenheit lähmen zu lassen." Normal in Europa sei auch ein Nationalbewusstsein, und ein "ähnlich normales Verhältnis zur Nation zu entwickeln", bezeichnet er als "Bringschuld der Deutschen". Infolge der unipolaren Weltsituation sei die transatlantische Wertegemeinschaft "schon gebrochen", es gehe jetzt um den Unterschied zwischen "US-Willigen und UN-Willigen". Allerdings kann sich Bahr nicht entscheiden, ob der "deutsche Weg" derjenige einer europäischen Großmacht sei (à la Schöllgen), oder ob das deutsche nationale Interesse eine post-nationale und zivilmächtige Außenpolitik in Europa gebiete: "Dieser Weg verlangt und gestattet nun ein Deutschland im Dienste Europas, das seine Interessen als normaler Staat verfolgt und seine Zukunft nicht von der Vergangenheit behindern lässt."
Für Gunther Hellmann oszilliert die deutsche Außenpolitik der rot-grünen Koalition zwischen dem Leitbild der "normalen Nation" einer "großen Macht" einerseits, die ihre Interessen artikuliert und durchzusetzen versucht wie alle anderen auch, und demjenigen einer "selbstbewussten Zivilmacht" andererseits, die sich internationalen Spielregeln unterwirft und weitestgehend über multilaterale internationale Institutionen agiert.
An dieser Stelle ist es wichtig, nach den Kriterien zu fragen, die diesen höchst unterschiedlichen Bewertungen zugrunde liegen. Die hier vorgestellten Analysen der deutschen Außenpolitik um die Jahrtausendwende operieren mit zwei Beurteilungskritierien. Zum einen geht es bei der Debatte um die Gestaltungsfähigkeit darum, ob die Bundesregierung eine pro-aktive Außenpolitik betreibe oder eher auf weltpolitische Entwicklungen passiv reagiere. Zum anderen spielen bei der Kontroverse um die "normale Großmacht" versus "selbstbewusste Zivilmacht" außenpolitische Ziele und Mittel bzw. deren Veränderung eine wichtige Rolle.
In Schöllgens Diagnose einer deutschen "Rückkehr auf die Weltbühne" bleibt unklar, ob der beschriebene Wandel der deutschen Außenpolitik in erster Linie einen neu erwachten Willen zur aktiven Mitgestaltung der internationalen Politik betrifft oder aber die Abkehr von der an Prinzipien der transatlantischen Partnerschaft, internationale Kooperation und multilateralen Zusammenarbeit orientierten Außenpolitik der Nachkriegszeit. Dabei wird der Eindruck erweckt, die Außenpolitik der Bonner Bundesrepublik habe vor allem passiv auf weltpolitische Entwicklungen reagiert und sei geprägt gewesen von "bedingungslose(r) Gefolgschaft gegenüber der Vormacht des westlichen Bündnisses"
Hinzu kommt der außenpolitische Handlungsspielraum. Die meisten Kommentatorinnen und Kommentatoren waren sich darin einig, dass die mit der Vereinigung wiedergewonnene vollständige Souveränität der Bundesrepublik auch eine Erweiterung des außenpolitischen Handlungsspielraums bedeute. Zwar lässt sich nicht leugnen, dass mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes viele Restriktionen der deutschen Außenpolitik weggefallen sind. Aber zu glauben, dass völkerrechtliche Souveränität im 21. Jahrhundert gleichzusetzen sei mit vollständiger außenpolitischer Autonomie und Handlungsfreiheit, heißt, einer Fiktion zu erliegen. Die deutsche Außenpolitik ist demgegenüber schon immer eingebunden gewesen in vielfältige wirtschaftliche und kulturelle (Stichwort Globalisierung), aber auch politisch-institutionelle Verflechtungen (Stichwort Europäische Union), die eine autonome Definition der eigenen nationalen Interessen ohne Rücksicht auf Nachbarn und Partner gar nicht mehr möglich machen (unabhängig davon, ob eine solche autonome Interessendefinition überhaupt wünschenswert wäre). Aktive Außenpolitik im 21. Jahrhundert kann nicht heißen, diese vielfältigen Verflechtungen und Interdependenzen zu ignorieren und der Fiktion zu erliegen, eine im nationalstaatlichen Rahmen betriebene Außenpolitik sei heute noch möglich. Es bedeutet im Gegenteil, diese Interdependenzen als Grundlage außenpolitischen Handelns zu akzeptieren und aktiv mit zu gestalten.
Die deutsche Außenpolitik auf dem Prüfstand
Wie sind nun diese Analysen zur deutschen Außenpolitik einzuschätzen? Dokumentieren die Ereignisse der letzten Jahre die Rückkehr der Berliner Republik auf die Weltbühne (Schöllgen), oder verabschiedet sich die Bundesregierung auf leisen Sohlen aus der Außenpolitik (Maull)? Wie oben angedeutet, können für die Beurteilung zwei Dimensionen der Außenpolitik-Analyse zugrunde gelegt werden. Zum einen geht es um den Politikstil. Zum anderen geht es um die außenpolitischen Ziele und Mittel. Verändert sich die außenpolitische Identität der "alten" Bundesrepublik von einer "Zivilmacht" zu einer an kurzfristigen und egoistischen Machtinteressen orientierten, "realistischen" Außenpolitik? Dabei lässt sich die Außenpolitik einer Zivilmacht u.a. an folgenden Indikatoren messen:
- Förderung gewaltfreier Mittel der Konfliktlösung und Bemühung, den Einsatz von Gewalt zur Lösung politischer Konflikte innerhalb von und zwischen den Staaten zu minimieren;
- Stärkung des Völkerrechts und multilateraler internationaler Institutionen sowie die Bereitschaft zur Übertragung von Souveränitätsrechten auf internationale Organisationen;
- Förderung der Demokratisierung der internationalen Beziehungen.
Abkehr vom Konzept einer Zivilmacht und Rückkehr zu einer traditionellen Machtpolitik würde demgegenüber bedeuten, dass die deutsche Außenpolitik entweder die multilaterale Orientierung ganz aufgibt oder zumindest versucht, ihre kurzfristigen Machtinteressen in internationalen Institutionen und Organisationen stärker durchzusetzen und ihren Einfluss zu vergrößern ("realistische Außenpolitik")
Im Folgenden versuche ich, beide Dimensionen der Außenpolitik-Analyse zu berücksichtigen. Ich konzentriere mich auf drei Politikfelder, an denen sich Kontinuität oder Wandel der deutschen Außenpolitik besonders deutlich ablesen lässt: die Europapolitik, die Teilnahme deutscher Soldaten an Kampfeinsätzen außerhalb des NATO-Bündnisgebietes und die deutsch-amerikanischen Beziehungen.
Die Kontinuität einer aktiven deutschen Europapolitik
Die geringsten Veränderungen in der Außenpolitik der rot-grünen Bundesregierung sind auf dem Gebiet der Europapolitik sichtbar. Das gilt sowohl für die europapolitischen Ziele und Mittel, insbesondere das Festhalten am integrationsfreundlichen Kurs aller Vorgängerregierungen, als auch für den pro-aktiven Politikstil. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass Europapolitik kaum noch ein Feld der klassischen Außenpolitik darstellt, sondern schon längst Teil der Innenpolitik geworden ist und dass sich auf diesem Gebiet die Trennung zwischen "innen" und "außen" kaum noch aufrechterhalten lässt. Die Politikverflechtung in einem Mehrebenen-Verhandlungssystem lässt sich hier besonders deutlich beobachten.
Auf allen drei Gebieten kann von einer europapolitischen Passivität der Bundesregierung keine Rede sein. In der Frage der Osterweiterung folgte die Regierung Schröder/Fischer dem von Helmut Kohl vorgezeichneten Pfad, der die EU-Erweiterung von Anfang an unterstützte und dafür sorgte, dass seitens der EU keine unnötigen Hürden für die Beitrittskandidaten aufgestellt wurden. Von Beginn an ging es in der Erweiterungspolitik um einen Zielkonflikt, nämlich darum das Bestreben nach einer zügigen Osterweiterung mit dem Interesse zu vereinbaren, die Nettozahlungen an den EU-Haushalt zu senken, indem man zum einen die EU-Agrarpolitik reformierte und zum anderen die Kosten der Osterweiterung möglichst niedrig hielt. Hatte die rot-grüne Bundesregierung noch 1998 bei den ersten Verhandlungen zur Agenda 2000 den Eindruck erweckt, die Senkung des deutschen Finanzbeitrages sei ihr wichtiger als die EU-Osterweiterung, so war diese Prioritätensetzung von kurzer Dauer. Nach kurzem Zögern kehrte die Bundesregierung zur Politik aller ihrer Vorgängerregierungen zurück, nach der das postnationale Interesse an der europäischen Einigung höher zu bewerten sei als die Durchsetzung kurzfristiger egoistischer Nationalinteressen.
Ähnliches gilt für die Verfassungsdiskussion der EU. Hier ging das Engagement der Bundesregierung sogar noch über ihr Verhalten in der Erweiterungspolitik hinaus und prägte zentral die Agenda der EU. Es war Außenminister Fischer, der mit seiner Rede vor der Berliner Humboldt-Universität im Mai 2000 eine europaweite Debatte über die Zukunft Europas in Gang setzte. Im Nachhinein wird man sagen können, dass ohne diese Rede (und ohne den Misserfolg der Regierungskonferenz von Nizza bei der Reform der Verträge) weder der Europäische Verfassungskonvent noch der Entwurf eines Verfassungsvertrages für Europa auf den Weg gekommen wären. Dies gilt unabhängig davon, wie letztlich das Schicksal des Verfassungsvertrages nach dem gescheiterten Gipfel von Brüssel im Dezember 2003 aussehen wird. Es war die deutsche Bundesregierung, die den Konstitutionalisierungsprozess Europas immer wieder auf den Weg gebracht hat, beispielsweise durch die deutsch-italienische Initiative in Nizza 2000, die den Reformprozess in Gang setzte, und später durch die deutsch-französischen Initiativen im Konvent selbst, etwa in der Frage des europäischen Außenministers mit "Doppelhut" (als Mitglied des Rates und der Europäischen Kommission). Auch einer der Kernpunkte der institutionellen Reformen der EU-Verträge, die so genannte "doppelte Mehrheit" im Ministerrat (Mehrheit der Mitgliedstaaten und Vertretung von 60 Prozent der Bevölkerung der Union), geht auf eine Initiative der Bundesregierung und ihres Vertreters im Verfassungskonvent, Außenminister Fischer, zurück.
Ein ähnliches Bild einer aktiv-gestalterischen Europapolitik der Bundesregierung ergibt sich im Bereich der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, allerdings erst in letzter Zeit. Zunächst führte die rot-grüne Bundesregierung die Politik ihrer Vorgänger eines kräftigen "sowohl als auch" in Bezug auf die Unterstützung der NATO einerseits und den Ausbau einer europäischen Sicherheitspolitik andererseits fort. Integrationsfortschritte bei der GASP/ESVP gingen aber zunächst nicht von Berlin aus, sondern über den St. Malo-Prozess von Frankreich und Großbritannien. Erst im Herbst 2002 wurde die Bundesregierung auch auf diesem Gebiet aktiver, beispielsweise über den deutsch-französischen Vorschlag einer europäischen "Verteidigungsunion" im Verfassungskonvent und für die Reform der EU-Außenpolitik. Was die Verstärkung der ESVP angeht, so ist neuerdings auch die britische Regierung wieder an Bord.
Weisen die deutschen Initiativen in Sachen GASP/ESVP auf eine Abkehr von einer zivilmächtigen Außenpolitik und eine Remilitarisierung der Sicherheitspolitik hin? Einige Formulierungen in der gerade beschlossenen und auch von Deutschland unterstützten Europäischen Sicherheitsstrategie der EU scheinen darauf hinzudeuten, obwohl auch hier am Primat des Ausbaus effektiver multilateraler Organisationen und des Völkerrechts festgehalten wird (vgl. die entsprechenden Artikel des EU-Verfassungsvertragsentwurfs, die sich wie das Manifest einer Zivilmacht lesen, gerade auch im Unterschied zur Sicherheitsstrategie des US-Präsidenten).
Der einzige Schatten, der auf die Europapolitik der Bundesrepublik fällt und als rücksichtslose Durchsetzung egoistischer Interessen verstanden werden kann, betrifft das deutsche Verhalten in Sachen Stabilitäts- und Wachstumspakt, den eine deutsche Bundesregierung ja selbst in der EU durchgesetzt hat. Hier ist die Berliner zusammen mit der Pariser Regierung in der Tat vom Prinzip abgerückt, dass völkerrechtliche Verträge einzuhalten sind, auch wenn es weh tun sollte, und hat damit dem Prinzip der Vertragstreue in einem supranationalen System schweren Schaden zugefügt - unabhängig davon, wie man die Bestimmungen des Stabilitätspaktes im Einzelnen einschätzt.
Zusammenfassend lässt sich aber für den Bereich der Europapolitik festhalten, dass die rot-grüne Bundesregierung hier ebenso wie alle ihre Vorgängerregierungen an einer aktiv-gestalterischen und integrationsfreundlichen Politik festhält. An der außenpolitischen Identität der Bundesrepublik als "europäisches Deutschland" hat sich in den letzten Jahren kaum etwas geändert.
Auslandseinsätze der Bundeswehr
Große Veränderungen dagegen gab es beim Thema Auslandseinsätze der Bundeswehr. Noch während des Golfkrieges Anfang 1991 betrieb die Bundesregierung unter Helmut Kohl eine "Scheckbuch-Diplomatie". An den Einsatz deutscher Soldaten war damals nicht zu denken. Als die Regierung Kohl 1998 abgewählt wurde, waren etwa 2 800 Soldaten in Bosnien-Herzegowina und Georgien stationiert, und zwar im Rahmen von friedenssichernden Missionen mit UN-Mandat.
Es steht außer Frage, dass wir es hier mit einem tief greifenden Wandel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik über die vergangenen zehn Jahre hinweg zu tun haben. Was während des Ost-West-Konfliktes undenkbar war, ist heute schon fast Routine: die Beteiligung deutscher Soldaten an Auslandseinsätzen außerhalb des NATO-Bündnisgebietes. Schwieriger ist es, diese Veränderung der deutschen Sicherheitspolitik zu erklären und zu bewerten. Haben sich nur die Mittel der deutschen Sicherheitspolitik einer veränderten weltpolitischen Lage angepasst, oder deuten die zunehmenden Auslandseinsätze der Bundeswehr auf schleichende Zielveränderungen und die Abkehr vom Zivilmacht-Konzept hin? Lässt sich aus der zunehmenden Beteiligung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen auf eine schleichende Militarisierung der deutschen Außenpolitik schließen? Hier wird man differenzieren müssen. Zunächst ist zu betonen, dass das Zivilmacht-Konzept nicht mit Pazifismus gleichzusetzen ist. Auch wenn man am Primat der politischen vor der militärischen Friedenssicherung festhält, lässt sich der Gewalteinsatz als letztes Mittel unter strengen Kriterien rechtfertigen, wenn anders Völkermord oder humanitäre Katastrophen nicht zu verhindern sind. Der nach den Kriterien des Zivilmacht-Konzeptes problematischste Fall war sicherlich der Kosovo-Krieg, bei dem es zum Gewalteinsatz des Westens ohne entsprechende Legitimation durch den UN-Sicherheitsrat kam.
Zugleich ist darauf hinzuweisen, dass die Bundesregierung sowohl im Kosovo als auch in Afghanistan aktiv an politischen Maßnahmen der Friedenssicherung und politischen Stabilisierung beteiligt war bzw. diese sogar initiierte. Das gilt für den Balkan-Stabilitätspakt ebenso wie für die Organisation der Petersberg-Konferenz zur politischen Stabilisierung und Demokratisierung des Nachkriegs-Afghanistan nach mehr als dreißig Jahren fast ununterbrochener kriegerischer Gewalt. Defizite der deutschen Außenpolitik bestehen hingegen nach wie vor im Bereich der politischen Konfliktprävention. Noch immer wird auch die deutsche Außenpolitik im Wesentlichen erst dann aktiv, wenn kriegerische Auseinandersetzungen in den Krisenregionen der Welt bereits begonnen haben, nach wie vor existieren keine konsistenten Strategien der Bundesregierung und ihrer westlichen Verbündeten gegenüber diesen Krisenregionen, ihren Gewaltökonomien und zerfallen(d)en Staaten.
Schließlich wird man kaum behaupten können, dass die rot-grüne Bundesregierung sich nach Auslandseinsätzen der Bundeswehr gedrängt habe. Was die Balkankriege der neunziger Jahre angeht, so wurde seitens des Westens und der Bundesrepublik erst eingegriffen, als die Völkermorde und ethnischen Säuberungen bereits geschehen waren. Von einer aktiv-gestalterischen Politik der präventiven Friedenssicherung kann hier keine Rede sein, auch nicht im Kosovo. Zudem ging es in den meisten Fällen um konkrete Anfragen der NATO oder der Vereinigten Staaten. Schließlich wollte man in einigen Fällen (z.B. Afghanistan) die Solidarität mit den Verbündeten nach dem 11. September dokumentieren.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass wir es bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr mit einer gravierenden Veränderung bei der Wahl der außen- und sicherheitspolitischen Mittel zu tun haben. Daraus aber auf eine grundlegende Zielveränderung der deutschen Außenpolitik im Sinne einer schleichenden Militarisierung zu schließen, hieße erstens zu übersehen, dass mit dem Primat der politischen vor den militärischen Mitteln der Kriegsverhütung, Friedenssicherung und Friedensförderung im Sinne des "Zivilmacht"-Konzeptes kein Pazifismus gemeint ist. Zweitens sind die veränderten internationalen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, u.a. die humanitären Katastrophen in den Krisenregionen der Welt, die Probleme von Staatszerfall und Privatisierung von Gewalt usw. Wenn man der deutschen Außenpolitik in dieser Hinsicht etwas vorwerfen kann, dann Versäumnisse im Bereich einer aktiv-gestalterischen Politik, insbesondere was die politische Krisenvorbeugung und Konfliktprävention angeht.
Die Krise der transatlantischen Beziehungen
Neben den Auslandseinsätzen der Bundeswehr sind es vor allem die transatlantischen Beziehungen, bei denen viele Beobachter einen grundlegenden Wandel der deutschen Außenpolitik feststellen. In der Irakkrise sei Bundeskanzler Schröder auf Konfrontationskurs zu den USA gegangen, die "Zerrüttung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses durch die rot-grüne Regierung" sei beispiellos, wird behauptet.
Aber lässt sich daraus auf eine grundsätzliche Abkehr von der transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft seitens der rot-grünen Bundesregierung schließen? Auch hier ist eine differenzierte Antwort erforderlich. Einerseits muss noch einmal wiederholt werden, dass bedingungslose Gefolgschaft zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte der Bundesrepublik die (west-) deutsche Außenpolitik gegenüber Washington prägte. Wenn der Bundeskanzler heute die selbstbewusste Partnerschaft mit den USA betont, dann reiht er sich ein in die Politik seiner Vorgänger von Konrad Adenauer über Willy Brandt, Helmut Schmidt bis zu Helmut Kohl. Die Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen war immer auch eine Geschichte der Konflikte und Krisen.
Andererseits geht es bei den gegenwärtigen transatlantischen Auseinandersetzungen um mehr als um einen Streit in einer einzelnen Sachfrage.
Allenfalls wird man Defizite bei der pro-aktiven Ausgestaltung der deutschen Außenpolitik feststellen können. Zu lange hat man in Berlin offenbar geglaubt, sich um eine Grundsatzauseinandersetzung mit Washington drücken zu können. Man war der Meinung, im bewährten Rahmen der transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft weiter arbeiten und auf eine neue Austarierung der Grundlagen des Bündnisses angesichts veränderter weltpolitischer Rahmenbedingungen verzichten zu können (Ende des Ost-West-Konfliktes, neue Bedrohungen, EU als internationaler Akteur im Werden usw.). In diesem Zusammenhang wurde die zentrale Aufgabe der NATO als Institution zum Management der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen auch von der deutschen Außenpolitik vernachlässigt. Das langsame Siechtum der NATO, das sich bereits vor dem 11. September angedeutet hatte und seitdem fortgesetzt hat, wurde nicht aufgehalten. Infolgedessen fehlen heute die institutionalisierten Arenen, in denen die Weltordnungskonflikte mit den USA überhaupt im Rahmen der transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft ausgetragen werden können. Hinzu kommt, dass die Regierung Schröder nur wenige Versuche unternommen hat, die US-amerikanische Gesellschaft, ihre Öffentlichkeit und den Kongress gezielt zu beeinflussen bzw. dort europäische Standpunkte einzubringen. Gerade das Ausnutzen dieser transnationalen Kanäle in die amerikanische Gesellschaft hinein sorgte in der Vergangenheit immer wieder dafür, dass europäische Interessen in den US-amerikanischen Entscheidungsprozess eingebracht wurde und unilateralen Tendenzen entgegengewirkt werden konnte. Hier wurden erst nach der Irakkrise wieder größere Anstrengungen unternommen.
Resümierend ergibt sich auch hier, dass von einer Abkehr der rot-grünen Bundesregierung von der außenpolitischen Orientierung einer Zivilmacht im transatlantischen Verhältnis keine Rede sein kann. Es gibt auch nur wenig Anzeichen dafür, dass wir auf eine dauerhafte Entfremdung zwischen Deutschland und Europa einerseits und den USA andererseits oder gar auf einen Bruch der Beziehung hinsteuern.
Schlussfolgerungen
Ich habe in diesem Beitrag versucht, in Bezug auf drei Politikbereiche der deutschen Außenpolitik die unterschiedlichen Einschätzungen in der Literatur nachzuprüfen, die deutsche Außenpolitik habe sich entweder grundlegend gewandelt ("Rückkehr auf die Weltbühne") oder bewege sich im Gegenteil "ins Abseits". Dabei sind zwei Dimensionen der Außenpolitik-Analyse zu unterscheiden, nämlich die Frage der außenpolitischen Ziele und Mittel einerseits und des Politik-Stils andererseits.
Wenn man die bisherige außenpolitische Identität der Bundesrepublik als von einer an Multilateralismus, friedlicher Konfliktlösung und Kooperation mit den Partnern orientierten Politik einer "Zivilmacht" gekennzeichnet beschreiben kann, so lassen sich hier - allen Unkenrufen zum Trotz - kaum Veränderungen in den drei untersuchten Politikbereichen feststellen. Das gilt zunächst für die außenpolitischen Ziele, bei denen die rot-grüne Bundesregierung im Wesentlichen in der Kontinuität ihrer Vorgängerregierungen steht. Die Auseinandersetzungen mit den USA erklären sich gerade durch dieses Festhalten am Zivilmacht-Konzept, nicht durch die Abkehr davon. Ob man in Berlin dabei handwerklich besonders geschickt vorgegangen ist, steht auf einem anderen Blatt. Die zunehmende Beteiligung deutscher Soldaten an Auslandseinsätzen einschließlich von Kampfeinsätzen reagiert auf veränderte weltpolitische Rahmenbedingungen und kann bei einem Verteidigungsetat in Höhe von 1,5 Prozent des Bruttoinlandproduktes kaum als "Militarisierung" der deutschen Sicherheitspolitik interpretiert werden. Die deutlichsten Veränderungen zeigen sich auf der Ebene außen- und sicherheitspolitischer Mittel.
Defizite, aber ebenfalls kaum grundlegende Veränderungen gegenüber den Vorgängerrregierungen, lassen sich allenfalls bei der zweiten hier untersuchten Dimension von Außenpolitik feststellen, nämlich dem Versuch zur pro-aktiven Gestaltung der internationalen Umwelt. In der Europapolitik und bei der politischen Bearbeitung von Post-Konflikt-Situationen im Zusammenhang mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr wird man der rot-grünen Regierung dagegen eine aktive Gestaltung unter Ausnutzung des vorhandenen außenpolitischen Handlungsspielraums bescheinigen können. Was Auslandseinsätze der Bundeswehr selbst angeht, so reagierte die rot-grüne Bundesregierung ebenso wie die Regierung Kohl im Wesentlichen auf Ereignisse in der internationalen Politik, statt aktiv auf sie Einfluss zu nehmen - in beiden Fällen aus Rücksicht auf innenpolitische Widerstände. Nach wie vor bestehen Defizite im Bereich der aktiven und politischen Konfliktprävention und Krisenvorsorge. Im Bereich der transatlantischen Beziehungen ergibt sich schließlich, dass die Bundesregierung einerseits dem Weltordnungskonflikt mit der US-Regierung nicht ausgewichen ist, als dieser nicht mehr zu vermeiden war. Andererseits hat sie sich kaum darum bemüht, diesen Konflikt in den institutionalisierten Arenen auszutragen (etwa der NATO), die dafür vorgesehen sind. Auch von einer frühzeitigen Einflussnahme auf die kleineren europäischen Verbündeten kann hier keine Rede sein. Wie will man aber das transatlantische Verhältnis wieder austarieren, wenn man die dafür vorgesehenen Institutionen nicht nutzt?
Der Diagnose der meisten politikwissenschaftlichen Studien, die deutsche Außenpolitik sei nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes eher durch Kontinuität als durch Wandel geprägt gewesen, auch nach den turbulenten Ereignissen und Krisen der letzten Jahre, kann zugestimmt werden. Man könnte allenfalls argumentieren, die deutsche Außenpolitik sei in den letzten Jahren stärker von innenpolitischen Entwicklungen geprägt gewesen als zuvor. Aber warum sollte man das in einer Demokratie für absonderlich halten?