I.
Die deutsche Außenpolitik ist ins Gerede gekommen. Die einen sehen Deutschland nach einem starken "Auftritt"
Symptome dieser Veränderungen (und damit zugleich auch Auslöser der jetzt einsetzenden, aber noch sehr rudimentären Debatte um die Zukunft der deutschen Außenpolitik) waren eine Reihe von gewichtigen und (vermutlich) folgenschweren Entwicklungen in den Beziehungen der Bundesrepublik zu ihren Verbündeten und Partnern. Dazu zählen erstens die offene Verweigerung diplomatischer und militärischer Unterstützung für die USA in ihrem Krieg gegen das Regime von Saddam Hussein in Irak. In ihrem Konfrontationskurs gegenüber Washington versteifte sich die rot-grüne Bundesregierung nicht nur auf ein "Nein" im UN-Sicherheitsrat zu einer militärische Maßnahmen eindeutig legitimierenden Resolution, sondern sie verschärfte auch ihre ablehnende Haltung bis hin zu einem "Nein" zum Sicherheitsrat selbst, als der Bundeskanzler eine Beteiligung Deutschlands an militärischen Maßnahmen gegen den Irak selbst für den Fall eines UN-Mandates kategorisch ausschloss - ein unilateralistischer Sündenfall, der den traditionellen, prinzipiell multilateralistischen Orientierungen der deutschen Außenpolitik und übrigens auch den außenpolitischen Zielsetzungen der Koalitionsvereinbarungen zuwiderlief, die ausdrücklich eine Politik der Stärkung der Vereinten Nationen festlegten.
Umgekehrt erreichte zweitens das deutsch-französische Kooperationsverhältnis in den letzten Monaten eine neue, bislang einzigartige Qualität und Intensität. In der Auseinandersetzung mit Washington um angemessene Antworten auf die irakische Herausforderung fand Berlin Unterstützung in Paris, das sich schließlich um die Jahreswende 2002/2003 ebenfalls eindeutig gegen die von den USA gewünschte Ermächtigung durch den Sicherheitsrat stellte. Beflügelt wurde das deutsch-französische Tandem daneben auch durch den 40. Jahrestag des Elysée-Vertrags von 1963, der nicht nur nach Feierlichkeiten, sondern auch nach neuer politischer Substanz rief. So lancierten Paris und Berlin seit Herbst 2002 eine Reihe von gemeinsamen außenpolitischen Initiativen insbesondere im Kontext der Verfassungsdebatte in der Europäischen Union und in der Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Die dritte wichtige Neuorientierung der deutschen Außenpolitik betraf die europäische Integration. Hatte sich Deutschland in der Vergangenheit stets als Vorreiter einer vertieften und nach Mittelosteuropa hinein erweiterten politischen Union verstanden und präsentiert, so schien sich nun eine Neuorientierung der Europapolitik zugunsten eines Vorrangs (oft kurzsichtiger und kurzatmiger) nationaler Interessenkalküle anzubahnen. Jedenfalls verstand es die deutsche Außenpolitik nicht, ihre Positionen zum Stabilitäts- und Wachstumspakt, zur Verfassung, zur Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und zur Ordnung der EU-Finanzen für den Zeitraum nach Inkrafttreten der Erweiterung ab 2006 ohne erhebliche Glaubwürdigkeitsprobleme (im eigenen Land wie in anderen Mitgliedsländern) zu vermitteln.
Wie ist die deutsche Außenpolitik in den letzten Monaten mit ihrer neuen Linie gefahren? Was hat Berlin erreicht, was versäumt? Mit seinem Agieren im UN-Sicherheitsrat gegen eine weitere UN-Resolution zur Legitimierung der amerikanischen Angriffspläne konnte die deutsche Außenpolitik dazu beitragen, dem amerikanischen Vorgehen gegen den Irak internationale Legitimität zu verweigern.
Problematisch erschien in diesem Zusammenhang insbesondere die erkennbare Vernachlässigung der für eine erfolgreiche Osterweiterung der EU wohl kritischen Beziehung zu Polen. Die Belastungen begannen mit den Plänen um ein Mahnmal für Vertriebene in Berlin, die von den Vertriebenenverbänden initiiert worden waren. Die Bundesregierung ließ der Diskussion um dieses Vorhaben viel zu lange freien Lauf und richtete damit erheblichen Schaden an, ehe Bundeskanzler und Außenminister beschwichtigend eingriffen.
In der Summe hat die deutsche Außenpolitik in den letzten Monaten in allen ihren wichtigen Kooperationszusammenhängen an Gewicht und Einfluss verloren. Dies gilt nicht nur für das deutsch-amerikanische Verhältnis und die NATO, sondern auch für die EU und möglicherweise sogar für das deutsch-französische Verhältnis, das derzeit eher durch Paris als durch Berlin bestimmt zu werden scheint. Die guten Beziehungen zu Russland und zu China vermögen diese Positionsverluste nicht aufzuwiegen. Es gelang Berlin nicht, den Ausgang des Irak-Konfliktes zu beeinflussen, das (vorläufige) Scheitern des Verfassungsentwurfes zu verhindern, die inneren Konflikte in der Europäischen Union zu entschärfen und auf die Strategien zur Auseinandersetzung mit den wichtigsten Problembereichen der internationalen Politik - von der Zukunft der internationalen Wirtschaftsordnung (Stichwort: Scheitern der WTO-Ministerkonferenz in Cancun) bis zu den Gefahren einer Verbreitung von Massenvernichtungswaffen (Stichworte: Atomwaffenprogramme des Iran und Libyens) - gestaltend Einfluss zu nehmen.
Am bedenklichsten erscheint an dieser Entwicklung, dass zentrale Voraussetzungen des außenpolitischen Einflusses Deutschlands, also wichtige Grundlagen seiner außenpolitischen Gestaltungsfähigkeit, durch die Entwicklungen der letzten Zeit in Mitleidenschaft gezogen wurden. Diese Beeinträchtigung betrifft vor allem das Vertrauen, das sich die deutsche Diplomatie über lange Jahre hinweg mit ihrem Geschick im Schmieden von Koalitionen, im Überbrücken von Gegensätzen durch konstruktive Kompromisse und nicht zuletzt damit erworben hatte, dass sie - etwa bei der Finanzierung der Vertiefung der europäischen Integration - mit gutem Beispiel voranging, um gemeinsamen Interessen zum Durchbruch zu verhelfen.
II.
Die Neuorientierung der deutschen Außenpolitik in den letzten Jahren aus einer strategischen Perspektive heraus kann wohl kaum als erfolgreich bezeichnet werden. Wie aber sind die skizzierten Veränderungen in der deutschen Außenpolitik einzuordnen? Geht es dabei wirklich um eine "Normalisierung", also um eine Anpassung an "gängige" außenpolitische Verhaltensnormen? Ganz abgesehen davon, dass angesichts der massiven Umbrüche in den internationalen Beziehungen und der auch in anderen Staaten verbreiteten Unsicherheiten darüber, wie Außenpolitik auf diese Veränderungen (Stichwort: Globalisierung) am besten reagieren könnte, sehr unklar geworden ist, was heute "normales" außenpolitisches Verhalten ausmacht - bei genauerer Analyse zeichnen sich gar keine wirklich neuen außenpolitischen Leitlinien ab, reduzieren sich die Innovationen auf eine hartleibigere (und oft recht kurzsichtige) Artikulierung und Durchsetzung deutscher Anliegen, die oft zudem spezifische innen- oder wirtschaftspolitische Interessen zuhause bedienen sollen.
Dieses deutlichere und selbstbewusste Artikulieren eigener Interessen soll aber nach wie vor im vertrauten Kontext der außenpolitischen Verankerung in der EU und im Bündnis mit den USA erfolgen. So werden vom Kanzler wie vom Außen- und vom Verteidigungsminister die bewährten Orientierungsvorgaben deutscher Außenpolitik hochgehalten und in Anspruch genommen. Alternative Leitlinien, gar eine alternative außenpolitische Strategie sind nicht zu erkennen. Eher wirkt die Politik so, als wolle Deutschland seinen außenpolitischen Kuchen zugleich verspeisen und aufbewahren: Deutsche Zielsetzungen sollen zwar stärker verfochten und umgesetzt, aber die das Umfeld der deutschen Diplomatie stabilisierenden und begünstigenden institutionellen und bilateralen Verflechtungen der Bundesrepublik sollen dabei nicht angetastet werden. Rhetorisch lässt sich das Selbstverständnis der deutschen Außenpolitik demnach nach wie vor unter dem Begriff "Zivilmacht" zusammenfassen, das mit den zwei Schlagworten "never again" und "never alone" umrissen werden kann.
"Never again": Gemeint ist damit die dauerhafte Abkehr von deutschen "Sonderwegen", von autoritären und totalitären Versuchungen in der Politik und den Gräueln, die sie hervorbrachte, sowie von der macht- und expansionsorientierten Außenpolitik nicht nur des nationalsozialistischen, sondern auch des wilhelminischen Deutschlands. Daraus folgt außenpolitisch die Integration in westliche Bündnisstrukturen, die Ausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik an den Zielen der Friedenswahrung, Friedensmehrung und des gewaltfreien Konfliktaustrags sowie das Engagement für Demokratie und Menschenrechte weltweit. "Never again" impliziert schließlich vor dem Hintergrund der deutschen Erfahrungen mit militärischer Machtpolitik zwar keinen grundsätzlichen Pazifismus, aber doch eine profunde Skepsis gegenüber militärischen Machtmitteln.
Deutschland sieht sich somit außenpolitisch fest in der Gemeinschaft der westlichen Demokratien verankert, die sich institutionell vor allem in der Europäischen Union und der NATO ausprägt. Das zweite Grundaxiom deutscher Außenpolitik lautet dementsprechend "never alone". Es impliziert die Grundorientierung auf eine stetig zu vertiefende und zu erweiternde Verregelung und Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen in Europa und der Welt, damit auch die Bereitschaft zur (partiellen) Souveränitätsübertragung und zur Umgestaltung ("Zivilisierung") der internationalen Politik in Richtung auf die idealtypischen Strukturen und Prozesse demokratischer Innenpolitik.
Diese Maximen der deutschen Außenpolitik werden so auch weiterhin in Anspruch genommen und bekräftigt. Aber sie scheinen doch an Orientierungskraft, Bindewirkung und Gewicht zu verlieren. Erkennbar ist jedenfalls, dass sie zwar nicht programmatisch, aber doch politisch-praktisch neu und verengt interpretiert und in der Ausgestaltung der Politik durchaus auch immer wieder vernachlässigt werden. So leistet sich Deutschland eine Militär- und Sicherheitspolitik, die mit immer weniger Mitteln eine immer vielfältigere und anspruchsvollere Beteiligung der Bundeswehr an internationalen Einsätzen auf sich nimmt.
Erkennbar wird hinter diesen Verhaltensweisen der deutschen Europapolitik ein gradueller, aber doch ausgeprägter Rückzug aus einer Strategie der konsequenten Vertiefung zugunsten einer defensiven Interessenswahrung. Diese - innerhalb der EU keineswegs einzigartige, sondern tendenziell zunehmend gängige, also "normale" - Entwicklung als "Re-Nationalisierung" zu verstehen, erscheint allerdings problematisch: Es geht dabei (noch) nicht um eine Umkehr der europäischen Integrationslogik und der Europäisierung der Politik, sondern "nur" um die Be- und Überfrachtung europäischer Entscheidungsprozesse mit nationalen Vorbehalten und Sonderwünschen. Die Folge ist eine "Verharzung" der europäischen Politik, für die auch Deutschland Verantwortung trägt.
Insgesamt zeichnen sich in den jüngsten Entwicklungen der deutschen Außenpolitik also offenbar weniger gewollte und bewusste Kontinuitätsbrüche als vielmehr eine gewisse Lässigkeit im Umgang mit dieser Kontinuität sowie der Wunsch ab, durch einen neuen außenpolitischen Stil und neue Akzente eigenes außenpolitisches Profil zu gewinnen. Die Folge ist aber eine zunehmende Aushöhlung und damit auch eine wachsende Brüchigkeit der tradierten Grundlinien deutscher Außenpolitik. Die deutsche Außenpolitik ist also, so das Ergebnis dieser Analyse, in den letzten Jahren
Die Ursachen für diese Veränderungen liegen keineswegs nur in Deutschland selbst. Sie erklären sich zunächst einmal aus einem radikal veränderten welt- und europapolitischen Umfeld, das auch bei Deutschlands wichtigsten Partnern Prozesse der außenpolitischen Neuorientierung ausgelöst hat. Dieses neue Umfeld ist charakterisiert durch den Zerfall des Ost-West-Gegensatzes, durch das Entstehen einer neuen, noch diffusen Konfliktformation, in der sich weltweit Staaten bzw. Regime undgewaltbereite transnationale Akteure (transnationaler Terrorismus, organisierte Kriminalität) gegenüberstehen, sowie durch die weltweite Dynamik des technologischen Wandels und die durch ihn vorangetriebene, rapide zunehmende Verdichtung zwischenstaatlicher und zwischengesellschaftlicher Verflechtungen (Globalisierung), die ebenso große Chancen wie Risiken beinhalten und die Komplexitätsanforderungen an die Politik insgesamt drastisch erhöhen. Die USA, Frankreich, Großbritannien oder auch Italien versuchen auf je eigene Weise, auf diese neuen Herausforderungen zu reagieren, und sie sind damit andere - und nicht selten auch schwierigere - Partner für die deutsche Außenpolitik geworden, als dies traditionell der Fall und für die Funktions- und Leistungsfähigkeit des spezifischen Außenpolitik-Modells Deutschlands auch unerlässlich war.
Eine zweite Erklärung, die mit der ersten in einem inneren Zusammenhang steht, besteht in der Erosion der Gestaltungsfähigkeit internationaler Institutionen. In der Europäischen Union war dies einerseits eine Folge der beiden Erweiterungsschübe 1995 und 2004, andererseits des wachsenden Widerstandes in vielen Mitgliedsstaaten angesichts der für eine effektive Erweiterung der EU unerlässlichen Vertiefungsschritte seit der Regierungskonferenz von Maastricht 1991. Die NATO hat ihre wichtigste Existenzgrundlage, die Bedrohung durch den Warschauer Pakt, verloren und ist noch immer auf der Suche nach einer überzeugenden Alternative. Die OSZE konnte die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen; und die Vereinten Nationen taumelten von einer schweren Krise in die nächste.
Dennoch: Die Ursachen der skizzierten ungünstigen Entwicklung der deutschen Außenpolitik liegen nicht allein außerhalb, sondern auch in Deutschland selbst. Hierzu zählen zuvörderst natürlich die wirtschaftlichen Schwächetendenzen Deutschlands und insbesondere die Überlastung und Überforderung der öffentlichen Haushalte, die den außenpolitischen Sektor finanziell empfindlich schwächten.
All dies kann die gegenwärtigen Schwierigkeiten der deutschen Außenpolitik zwar verstehen helfen, aber nicht entschuldigen. Auch wenn das außenpolitische Geschäft in den letzten Jahren schwerer geworden ist, hilft das den Politikern wenig, welche die deutsche Außenpolitik gestalten und verantworten müssen: Ihre Aufgabe ist es, mit den Gegebenheiten zurechtzukommen und daraus das Beste zu machen. Die skizzierten Probleme reflektieren deshalb auch politische Führungsschwächen und einen Mangel an strategischem Gespür der außenpolitischen Entscheidungsträger, welche die gestiegene außenpolitische Verantwortung Deutschlands zwar häufig thematisieren, aber in ihrem außenpolitischen Handeln zu wenig praktizieren. Die Außenpolitik nimmt in der deutschen Politik nicht den Platz ein, den sie angesichts der überragenden Bedeutung weltpolitischer Entwicklungen für das Wohl und Wehe der deutschen Gesellschaft einnehmen sollte.
III.
Eine schwächelnde Außenpolitik kann sich aber weder Deutschland noch die EU leisten, weil sie das Gewicht der Union als zivilisierender Faktor in den internationalen Beziehungen reduziert und damit auch Fehlentwicklungen in der amerikanischen Außenpolitik begünstigen würde, da Washington dann ohne konstruktiven außenpolitischen Widerpart bliebe. Es gibt inzwischen aus Berlin Ansätze zur Schadensbegrenzung und Neuformierung des deutschen Einflusses, indem die deutsch-französische Zusammenarbeit weiter vorangetrieben oder die Bemühungen um eine Normalisierung der Beziehungen zu den USA verstärkt werden. (Besonders bedeutsam könnten in diesem Zusammenhang gemeinsame Initiativen mit Paris und London sein, wie etwa die Reise der drei Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens nach Teheran in der Umsetzung einer in Arbeitsteilung mit den USA entwickelten Strategie, die den Iran dazu bewegen soll, sein Kernwaffenprogramm einzustellen. Freilich hätte genau diese Form der Zusammenarbeit zwischen den drei Großen der EU von Berlin schon in der Frühphase der Auseinandersetzungen mit den USA um den Irak organisiert werden müssen; dies wäre wohl die einzige Möglichkeit gewesen, auf Washingtons Planungen gegen den Irak einzuwirken).
So richtig und wichtig diese Initiativen auch sein mögen: Sie ändern nichts daran, dass die deutsche Außenpolitik dringend einer grundlegenden Überprüfung und "Runderneuerung" bedarf, wie das ja auch in vielen anderen Politikbereichen erforderlich ist. Das setzt aber eine breite öffentliche Auseinandersetzung mit der Außenpolitik voraus, die seit 1990 bestenfalls im Bereich der Sicherheitspolitik in Ansätzen stattgefunden hat.
IV.
Was eine solche außenpolitische Grundsatzdebatte ergeben könnte, muss naturgemäß offen bleiben. Wenn im Folgenden die Konturen einer neuen außenpolitischen Strategie skizziert werden, so geschieht dies vor allem in der Absicht, Widerspruch zu provozieren und so zu dieser Debatte beizutragen. Dabei steht am Anfang dieser Skizze ein Paradox der deutschen Außenpolitik: Sie hat seit 1955 - auch über dramatische Brüche in der Weltpolitik (wie etwa 1989 mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes oder dem Aufbrechen von neuen, dominanten Konfliktformation zwischen funktionierender Staatlichkeit einerseits und "Schurkenstaaten" bzw. gewaltbereiten, transnationalen gesellschaftlichen Akteuren andererseits) hinweg - eine bemerkenswerte Kontinuität der außenpolitischen Grundorientierungen an den Tag gelegt: Deutschland blieb seiner in den fünfziger und sechziger Jahren entwickelten Strategie einer "Zivilmacht" im Kern bis heute treu. Dies erklärt sich m.E. nicht nur (und vielleicht nicht einmal in erster Linie) mit der Pfadabhängigkeit der deutschen Außenpolitik und ihren vielfältigen Einbindungen, sondern durchaus auch als Ergebnis von außenpolitischen Überlegungen und Entscheidungen, wie deutsche Außenpolitik "gut" gemacht werden, wie sie - unter veränderten Bedingungen - klug und erfolgreich agieren könnte.
Dies könnte durchaus auch für die neue Situation der deutschen Außenpolitik heute zutreffen. Das Rollenkonzept der Zivilmacht, das ja stets auch ein normatives Konzept war, repräsentiert die Grundlinien einer postmodernen, auf Kooperation und Integration ausgerichteten und angewiesenen Außenpolitik, die den gegenwärtigen - in vielfacher Hinsicht "postmodernen"! - Rahmenbedingungen der internationalen Politik grundsätzlich nach wie vor gut entspricht.
Wie gezeigt, kennzeichnen zwei zentrale Elemente (never again und never alone) das außenpolitische Rollenkonzept Deutschlands. Wie ließen sich diese Leitlinien für die Gegenwart und Zukunft neu ausformulieren und umsetzen? Das Leitmotiv des never again sollte heute vor allem auf eine systematische Politik der Demokratieförderung zielen. Denn im Kontext von prekärer Staatlichkeit und Staatszerfall kommt den Fähigkeiten der Staatengemeinschaft besondere Bedeutung zu, Prozesse des state building dort voranzutreiben, wo Staatlichkeit in kritischen Regionen vom Zerfall bedroht oder bereits zerfallen ist. Aus dieser Perspektive ist demokratische Staatlichkeit (und dies lehrte ja die deutsche Erfahrung) eine entscheidende Voraussetzung für eine halbwegs chancenreiche Bemühung um eine Zivilisierung der Politik. Die zentrale Bedeutung des state building für Frieden und internationale Sicherheit wird heute - auch und nicht zuletzt in den USA - immer deutlicher erkannt.
Das Leitmotiv des never alone impliziert heute dementsprechend die Aufgabe, funktionierende demokratische Staaten möglichst effektiv im Sinne einer Zivilisierung der internationalen Politik miteinander zu vernetzen und ihre Kooperation effektiv auszugestalten. Dabei stellt sich für die deutsche/europäische Außenpolitik vor allem die Frage, wie Europa eine arbeitsteilige Vorgehensweise mit Amerika konzipieren und durchsetzen könnte, die eine optimale Nutzung der jeweils verfügbaren materiellen und ideellen Ressourcen ermöglichen würde. Die amerikanische Kritik an den Defiziten des europäischen Multilateralismus, die Robert Kagan besonders eindringlich und plastisch artikuliert hat,
Deutschlands traditionelle Skepsis gegenüber den politischen Gestaltungschancen militärischer Machtprojektion schließlich sollte im Sinne einer deutlicheren, realistischeren Verortung der EU als Zivilmacht mit globalem Anspruch konstruktiv gewendet werden. Der Einstieg in eine Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GASP) und perspektivisch auch in eine Europäische Verteidigungsunion zur kollektiven Selbstverteidigung der EU schuf Ambivalenzen: Strebt die EU auch militärisch nach einer Weltmachtrolle?
Militärische Machtmittel sind in diesem Kontext realistischerweise zwar unverzichtbar, ihre Anwendung entspräche allerdings in der Regel nicht der klassischen Logik zwischenstaatlicher militärischer Machtpolitik, sondern vielmehr der Logik des staatlichen Gewaltmonopols: Militärische Zwangsmittel dienen aus dieser Perspektive vor allem zur Schaffung und Wahrung politischer Ordnung im Kontext zerfallender oder zerfallener Staatlichkeit. In der Umsetzung bedeutete dies, militärische Machtmittel neben der Fähigkeit zur kollektiven Selbstverteidigung vor allem für Frieden schaffende bzw. Frieden erhaltende Einsätze vorzusehen und vorzubereiten. In diesem Zusammenhang erscheint der Aufbau spezifischer ziviler Fähigkeiten für solche Einsätze und ihre kluge Verknüpfung mit militärischen Akteuren und Ressourcen besonders bedeutsam. Eine der glücklicheren Entscheidungen der deutschen Außenpolitik war in diesem Zusammenhang die Gründung des Zentrums für internationale Friedenseinsätze in Berlin, das derartige Überlegungen umzusetzen versucht.