Wahlen, Voten, Mandate
Im Spätsommer des Jahres 2002 wurden die Weichen für die deutsche Außenpolitik neu gestellt.
Dabei spielten die Wahlkämpfe des Herbstes und Winters 2002/2003 eine, aber nicht die entscheidende Rolle. Gewiss entdeckte der Kanzler, weil er die schon fast verloren geglaubten Wahlen zum Deutschen Bundestag doch noch gewinnen wollte, im Spätsommer 2002 gewissermaßen in letzter Minute das Thema Irak, erhob es zu einer Frage von Krieg und Frieden für Deutschland und schaffte so, auf der Zielgeraden und zusätzlich begünstigt durch die Hochwasserkatastrophe an der Elbe, am 22. September einen hauchdünnen Wahlsieg. Und es war gleichfalls Schröder, der das Thema in den niedersächsischen und hessischen Landtagswahlkämpfen wieder aufgriff und zum Beispiel am 21. Januar 2003 in Goslar sagte: "Rechnet nicht damit, dass Deutschland einer den Krieg legitimierenden Resolution zustimmt."
Ausschlaggebend für Schröders Kurs waren jedoch weniger die bevorstehenden Wahlen in Niedersachsen oder Hessen als vielmehr die zurückliegende Erfahrung, die der Kanzler anlässlich des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr hatte machen müssen. Immerhin hatten er und sein Außenminister, wie sich Fischer später ausdrückte, zum zweiten Mal nach dem Kosovo-Einsatz, also innerhalb von nur zweieinhalb Jahren, das "Land in den Krieg" führen müssen,
Allerdings wäre auch eine Übernahme zusätzlicher militärischer Verpflichtungen kaum möglich gewesen. Immerhin stellte Deutschland 2002 nach den USA weltweit das größte Truppenkontingent bei Friedensmissionen im Ausland: Mehr als 8 500 Bundeswehrsoldaten waren am Jahresende in sieben unterschiedlichen Missionen für die Staatengemeinschaft im Einsatz, vor allem auf dem Balkan, aber eben auch in Afghanistan und im Rahmen internationaler Anti-Terror-Einsätze. Dieses erhebliche Engagement war ein starkes Argument für die angekündigte Abstinenz in Sachen Irak.
Dennoch wäre Schröder mit seinem Kurs kaum Erfolg beschieden gewesen, hätte er mit ihm nicht den Zeitgeist getroffen. Denn in Deutschland brach sich um die Jahreswende 2002/2003 ein lange schwelendes Unbehagen an der allgemeinen Ausrichtung der amerikanischen Außenpolitik Bahn. Auch wenn der amerikanische Präsident oder der Senat im Einzelfall gute Argumente für ihre Entscheidungen gehabt haben mögen, so war doch die Rigidität ihres Vorgehens gegenüber internationalen Organisationen und Vereinbarungen seit George W. Bushs Amtsantritt im Januar 2001 für die meisten Europäer nur schwer erträglich.
Daher verwunderte es nicht, dass sich auch in den Reihen der Verbündeten zunehmend Vorbehalte artikulierten. Allerdings wurden diese auf der politischen bzw. Regierungsebene einstweilen nur hinter vorgehaltener Hand artikuliert - mit einer Ausnahme, dem wahlkämpfenden deutschen Bundeskanzler. Mit seiner zitierten Festlegung manövrierte Gerhard Schröder sich, seine Regierung und damit die gesamte Republik in der Irakfrage in eine Position, die sie vorerst vollständig isolierte. Besonders nachhaltig betroffen war das Verhältnis zu den USA. Abgesehen von einer kaum zu übersehenden Disharmonie zwischen den Führungspersönlichkeiten, war dafür auch die problematische öffentliche Festlegung Schröders verantwortlich, das Land selbst dann aus einer militärischen Intervention im Irak heraushalten zu wollen, wenn die Vereinten Nationen eine solche als Ultima Ratio beschließen sollten. Kritiker sahen darin eine Schwächung der militärischen Drohkulisse, durch die der Diktator von Bagdad vielleicht doch noch zum Einlenken bewegt werden konnte, sofern der Krieg nicht in Washington ohnehin längst beschlossene Sache war.
Ein neues Selbstbewusstsein
Dass Schröder schließlich reüssierte, dass er im Frühjahr nicht nur für die Mehrzahl der Deutschen, sondern auch der Europäer sprach, lag nicht zuletzt an dem ungewohnt selbstgewissen außenpolitischen Ton, den der Kanzler in diesem Zusammenhang anstimmte und bei dem er geblieben ist. Jetzt wurde vollends klar, dass Gerhard Schröder einer anderen Generation angehörte als sämtliche Kanzler vor ihm, die alle durch das Erlebnis des Zweiten Weltkrieges geprägt waren und unter anderem deshalb in Deutschlands multilateraler und multinationaler Verflechtung eine, wenn nicht die wichtigste Konsequenz aus dieser Katastrophe gesehen hatten und daher im Zweifelsfall zu Konzessionen und Kompromissen auf Deutschlands Kosten bereit gewesen waren. Anders Schröder, der schon in seiner ersten Amtszeit auf eine angemessene Betonung der deutschen Interessen gerade in diesen Gemeinschaften Wert gelegt, wenn auch das Kind nicht immer beim Namen genannt hatte.
Jetzt tat er es, als er am 5. August 2002 zur Eröffnung der Endrunde des Bundestagswahlkampfes in Hannover ausdrücklich feststellte, dass "dieses Deutschland, unser Deutschland ... ein selbstbewusstes Land" sei, das für keine Abenteuer zur Verfügung stehe, und für eine "Scheckbuchdiplomatie", wie während des zweiten Golf-Krieges, auch nicht.
Erstmals hatte ein Bundeskanzler öffentlich ausgesprochen, was seine Vorgänger, niemals gesagt hatten, jedenfalls solange sie im Amt waren. Es war dann auch nicht nur die Irakfrage, die Absage an eine militärische Beteiligung Deutschlands, sondern es war dieser selbstbewußte Ton, der auf beiden Seiten des Atlantik aufhorchen ließ. Ungeplant hatte Deutschland die Führungsrolle als Gegenmacht zu den USA übernommen. Für die Berliner Politik war sie zwangsläufig eine Nummer zu groß, und so bot sie zur Jahreswende 2003 ein Besorgnis erregendes Bild und ließ in handwerklicher Hinsicht zeitweilig jedwede Professionalität vermissen. Seit es eine Außenpolitik der Bundesrepublik gibt, waren sich die Beobachter in deren kritischer Bewertung noch nie so einig gewesen wie in diesen Februartagen.
Hilfe tat Not, und sie kam: vom französischen Staatspräsidenten. Konsequent nutzte Jacques Chirac die verfahrene internationale Situation als Chance, um das seit den Tagen Charles de Gaulles gespannte, distanzierte Verhältnis zu den Vereinigten Staaten zum französischen Vorteil zu korrigieren. Wenn es nach de Gaulle einen französischen Präsidenten gegeben hat, der in fast jeder Hinsicht an dessen Außenpolitik anknüpfte, dann war es Chirac. Seit seinem furiosen Wahlerfolg vom Mai 2002 war er offenbar überzeugt, eine historische Mission erfüllen zu müssen und gewissermaßen das Werk de Gaulles zu vollenden. Wie diesem ging es auch Chirac dabei nicht um ein Kräftemessen mit den USA, das von Frankreich nicht gewonnen werden konnte, vielmehr um den Anspruch, als gleichberechtigter Partner wahrgenommen zu werden.
Nachdem Außenminister Dominique de Villepin am 20. Januar 2003 im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eindeutig Position gegen den amerikanischen Kriegskurs am Persischen Golf bezogen hatte, schloss Chirac zwei Tage später, anlässlich der Feiern zum 40. Jahrestag des Elysée-Vertrags, mit einem demonstrativen Schulterschluss in der Irakfrage zur deutschen Position auf und übernahm dann die Regie. Dazu gehörte auch die Einbeziehung des seit Jahresbeginn 2000 als Nachfolger Jelzins amtierenden russischen Präsidenten Wladimir Putin, so dass sich seit Mitte Februar 2003 die Bildung einer so genannten Achse Paris-Berlin-Moskau abzuzeichnen schien. Stellte die Bundesrepublik also, erstmals seit ihrer Aufnahme in die NATO vor beinahe fünf Jahrzehnten, ihr enges Verhältnis zu Amerika und damit zwangsläufig ihre Verankerung im westlichen Bündnis in Frage? Zumindest die Kritiker dieser Politik hatten da wenig Zweifel.
Vorderhand wurde dieser scheinbar radikale Bruch bundesrepublikanischer Außenpolitik mit ihrer eigenen Tradition von einer weltweiten Empörung über die riskante Irak- und anmaßende Weltpolitik der Vereinigten Staaten überlagert: Als am 15. Februar in Berlin, London, Rom, Brüssel, Paris, Washington und zahlreichen anderen Städten Millionen auf die Straße gingen, um gegen einen Krieg im Irak und damit, ausgesprochen oder nicht, gegen die Politik der Vereinigten Staaten und ihres Präsidenten zu demonstrieren, schien das auch eine überwältigende Bestätigung jenes Kurses zu sein, den Schröder schon im Herbst 2002, damals noch als einsamer Rufer, eingeschlagen hatte.
Aufwind bekam der weltweite Protest durch die stagnierenden Entscheidungsprozeduren in der EU, in der NATO und vor allem im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der sich immer mehr als diplomatisches Schlachtfeld entpuppte, auf dem beide Seiten, also die USA und Frankreich sowie ihre jeweiligen Verbündeten, versuchten, Kombattanten aus den Reihen der noch unentschlossenen Ratsmitglieder anzuwerben. Nachdem auch der Letzte von drei Zwischenberichten der Waffeninspekteure keine eindeutige Klarheit schaffen konnte, ging die Initiative am 7. März endgültig an die Interventionisten über. An diesem Tag setzten die USA und ihre beiden wichtigsten Verbündeten, Großbritannien und Spanien, dem Irak eine letzte Frist bis zum 17. März für die "volle, bedingungslose, sofortige und aktive Zusammenarbeit"
Niemand konnte einen Zweifel haben, dass es sich dabei um die Ankündigung eines Ultimatums handelte, das dann auch tatsächlich zehn Tage später erging. In den Abendstunden des 20. März 2003, wenige Stunden nach dessen Ablauf, begann der Angriff einer "Koalition der Willigen", im Wesentlichen amerikanischer und britischer Streitkräfte, auf den Irak. Als amerikanische Panzerverbände am 9. April ins Zentrum Bagdads einrückten, war das Regime faktisch zusammengebrochen. Am 1. Mai erklärte Präsident Bush die "Hauptkampfhandlungen" im Irak für abgeschlossen.
Deutschland war an den Kampfhandlungen nicht beteiligt. Allerdings blieb der Luftraum über Deutschland für die amerikanischen Streitkräfte geöffnet, und die deutschen Soldaten verblieben an Bord der in der Türkei zu deren Schutz stationierten AWACS-Flugzeuge der NATO. Das wiederum führte zu einer bemerkenswerten Situation im deutschen Parlament: Am 20. März 2003 lehnten die Koalitionsfraktionen einen von der Unionsfraktion unterstützten Antrag der FDP ab, den AWACS-Einsatz durch den Bundestag bestätigen zu lassen. Dem schloss sich fünf Tage später das Bundesverfassungsgericht mit dem Urteil an, dass sich das für eine einstweilige Anordnung erforderliche deutliche Überwiegen der Rechte des Bundestags in der gegebenen Situation nicht feststellen lasse: "Die ungeschmälerte außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung ... hat auch im gesamtstaatlichen Interesse an der außen- und sicherheitspolitischen Verlässlichkeit Deutschlands bei der Abwägung ein besonderes Gewicht."
Partner Frankreich
Die Bundesregierung hatte in der Irakkrise eine bislang in der deutschen Außenpolitik nicht bekannte selbstbewusste Haltung an den Tag gelegt. Wie aber sollte es weitergehen? Welche Konsequenzen waren aus der Krise zu ziehen? Gewiss, Berlin stand zu seinem "Engagement im transatlantischen Bündnis", wie der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 3. April 2003 betonte, und insofern auch zur Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten - allerdings unter der Voraussetzung, dass die Allianz "wieder zu einem Ort intensiver gegenseitiger Konsultation" werde. Vor allem aber, so Schröder weiter, müsse die Einigung Europas entschlossen vorangetrieben werden, insbesondere auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik.
Was die jüngste Vergangenheit anging, hielt der Kanzler den in der Krise eingeschlagenen Weg, "auf Grundlage gemeinsamer Prinzipien ... eine enge Zusammenarbeit mit Russland zu suchen", für "richtig und auch erfolgreich"; den engen Schulterschluss mit Frankreich rechnete er zu den "wenigen wirklich erfreulichen Entwicklungen der augenblicklichen Situation"
Die eigentliche Überraschung aber war die offensichtliche Stabilität der neuen deutsch-französischen Partnerschaft. War es zunächst Chirac gewesen, der Schröder zu Jahresbeginn 2003 geholfen hatte, aus der fast vollständigen internationalen Isolierung herauszukommen, so ließ nunmehr der Bundeskanzler keinen Zweifel daran, dass er den Kurs des Staatspräsidenten in der Irakkrise in jeder Hinsicht mit trug - sei es, dass er ausdrücklich Chiracs Vorstoß zu einem Gipfeltreffen der Mitglieder des Sicherheitsrats unterstützte, das dann aber nicht zustande kam; sei es, dass er die Festlegung des Präsidenten auf das französische Veto guthieß.
Frankreich hatte die Führung der antiamerikanischen Koalition übernommen. Das entsprach seinem historischen und politischen Selbstverständnis, aber auch seinem Status als Atommacht und ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Keine Frage aber auch, dass Chirac ohne einen starken Partner, ohne das auf die Bühne der Weltpolitik zurückgekehrte Deutschland, diese Rolle kaum hätte annehmen und ausfüllen können. An dieser engen Kooperation änderte auch der Kriegsausbruch nichts. Bereits am 4. April kamen die Außenminister Frankreichs, Deutschlands und Russlands erneut in Paris zusammen. Dieses Mal ging es Villepin, Fischer und Iwanow um die Zukunft des Irak nach dem Krieg. Die drei ließen keinen Zweifel aufkommen, dass sie auf einer Mitwirkung der Vereinten Nationen beim Wiederaufbau des Landes wie bei der Gewährleistung seiner künftigen Sicherheit bestanden. "Einzelne Länder", so Villepin, "können einen Krieg gewinnen, aber sie können nicht den Frieden sichern"
Zu Beginn der Irakkrise hätten nur wenige Beobachter eine solche Entwicklung für möglich gehalten. Das gilt für die Konsequenz, mit der die Regierung Schröder die Rolle einnahm, die Deutschland mit den weltpolitischen Umbrüchen der ausgehenden achtziger und beginnenden neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts zugefallen war. Es gilt aber auch und vor allem für die erstaunliche Tragfähigkeit des deutsch-französischen Verhältnisses, an der sich, vielen Unkenrufen zum Trotz, auch nach Überwindung der akuten Irakkrise nichts änderte.
Wie so häufig in der Geschichte des integrierten Europa, zuletzt bei der Einführung der neuen Währung, erwies sich die deutsch-französische Zusammenarbeit auch jetzt als seine treibende Kraft. Außenminister Fischer brachte das im Januar 2003 auf den Punkt: "Frankreich und Deutschland verfügen über das Gewicht und die europäische Überzeugung, deren es für ein Vorantreiben der europäischen Integration bedarf. Es gibt viele, die verfügen über die europäische Überzeugung, aber nicht über das Gewicht. Andere verfügen über das Gewicht, aber nicht über diese europäische Überzeugung."
Nach der Installierung eines geschlossenen Marktes, einer einheitlichen Währung und auch eines in weiten Bereichen schon vereinheitlichten Rechtssystems stand - und steht - seit den Krisen und Kriegen im ehemaligen Jugoslawien und im Irak, dringlicher noch als zuvor, die Umsetzung einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik auf der Tagesordnung. Das setzte wie alle Großtaten in Europa einen langen Atem voraus, war aber schon angesichts des unverändert imperialen Stils der amerikanischen Europapolitik nicht aussichtslos. Wäre es je zu einer gemeinsamen europäischen Währung gekommen, wenn die USA nicht drei Jahrzehnte vor der Einführung des Euro in einer Nacht- und Nebelaktion das bestehende Währungssystem von Bretton Woods außer Kraft gesetzt hätten?
Konsequent zu Ende gedacht, auf die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik bezogen und ein Weiterbestehen der NATO unterstellt, konnte und kann das nur auf einen von Grund auf neu konstruierten Pfeiler der alten Allianz hinauslaufen. Eine in dieser Hinsicht reformierte europäische Gemeinschaft, so die auch in Berlin wachsende Überzeugung, muss in der Lage sein, gegebenenfalls aus eigener militärischer Kraft und in eigener politischer Verantwortung zu handeln und insbesondere innereuropäische Krisen und Konflikte aller Art, wie während der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts die Kriege im vormaligen Jugoslawien, innereuropäisch zu lösen. Das Potential hatte sie schon während der neunziger Jahre. Es fehlte der Wille. Auf diesem Gebiet "wirklich handlungsfähig zu werden", forderte daher nach dem Ende der Irakkrise nicht nur Bundespräsident Johannes Rau.
Initiativen gab es, so den Vorstoß des französischen Staatspräsidenten und des britischen Premierministers von Saint-Malo, mit dem sich Chirac und Blair Anfang Dezember 1998 für eine autonome militärische Handlungsfähigkeit Europas einsetzten und der selbst von amerikanischen Europa-Spöttern als "historisch beispiellos" eingestuft wurde.
Die andauernde, unverhältnismäßig heftige amerikanische Kritik an dem Vorhaben, insbesondere am Vorschlag eines militärischen Hauptquartiers der EU,
Mit ihrem Formelkompromiss machten die drei Führungsmächte der EU bis Jahresende 2003 den Weg für eine "strukturierte Zusammenarbeit" im Rahmen der ESVP frei. Das war nicht selbstverständlich, zeigt aber, dass für Fortschritte bei der Integration Europas ein Zusammengehen der drei Regierungen wichtig und die deutsch-französische Zusammenarbeit unverzichtbar ist. Tatsächlich hatten sich Paris und Berlin auf praktisch allen Ebenen, die Außen- und Sicherheitspolitik eingeschlossen, selten so eng abgesprochen wie seit dem Herbst 2002: Dass sich Schröder am 17. Oktober 2003, dem zweiten Tag eines Brüsseler EU-Gipfeltreffens, von Chirac vertreten ließ, um an Abstimmungen im Bundestag teilnehmen zu können, dass der deutsche Bundeskanzler also gewissermaßen seine Stimme an den französischen Staatspräsidenten delegierte, ist nicht nur in der Geschichte der EU-Gipfel ohne Beispiel.
Und es war symptomatisch - vor allem für die stabile, nicht zuletzt durch Persönlichkeiten geprägte Tradition der deutsch-französischen Beziehungen: Schröder und Chirac setzten fort, was Adenauer und de Gaulle begonnen, Schmidt und Giscard d'Estaing oder Kohl und Mitterrand ausgebaut hatten. Dass dieser enge Schulterschluss immer auch Gegenreaktionen provoziert hat und provozieren kann, überrascht nicht. Das gilt für den transatlantischen Verbündeten, und es gilt für die europäischen Partner: So machten sich Schröder und Chirac nicht nur Freunde, als ihre Finanzminister die EU-Kommission in der Nacht zum 25.November zwangen, das Defizitverfahren gegen Berlin und Paris auszusetzen, obgleich beide zum dritten Mal in Folge gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt verstoßen und damit einen womöglich folgenreichen Präzedenzfall geschaffen hatten. Allerdings lag es dann nicht an Deutschland und Frankreich, sondern namentlich an Polen und Spanien, dass der so genannte Reformgipfel Mitte Dezember 2003 scheiterte - wenn auch Schröder und Chirac einmal mehr an einem Strang zogen.
Noch deutlicher wurde die neue Qualität der deutsch-französischen Zusammenarbeit mit Blick auf den amerikanischen Verbündeten. Wenn auch beide, Berlin stärker als Paris, während der Irakkrise sorgsam darauf bedacht waren, auch nur den Anschein eines gegen die USA gerichteten Zusammengehens zu vermeiden und ihm gegebenenfalls entgegenzutreten, ließ sich dieser Eindruck schon deshalb nicht vermeiden, weil die amerikanische Politik und Publizistik ihn mit zunehmender Intensität erweckte und kultivierte.
Das Ende der transatlantischen Epoche
Und auch das war kein Zufall. Denn mit wachsender Distanz zu den turbulenten Ereignissen der Irakkrise zeichnete sich immer deutlicher ab, was diese vor allem offenbarte: das Ende der transatlantischen Epoche,
Gleichwohl hatten die Europäer in den folgenden Jahren gute Gründe, darauf zu drängen, dass die Amerikaner da blieben, wo sie waren, vor allem auch in Deutschland, dass sich die USA also nicht etwa auf die andere Seite des Atlantik zurückzogen, wie sie das nach dem Ersten Weltkrieg getan hatten. Denn zum einen war 1991 nicht abzusehen, welche Konsequenzen das Verschwinden der Sowjetunion und ihres Imperiums haben würden. Auch führte die Auflösung Jugoslawiens den Europäern drastisch deren politische und militärische Ohnmacht bei der Beilegung heimischer Krisen und Kriege vor Augen. Nicht zuletzt aber galt die amerikanische Präsenz vielen als Garantie, dass die Vereinigung Deutschlands mit der Sicherheit des Kontinents kompatibel sein würde. Zehn Jahre später, zu Beginn des neuen Jahrhunderts, waren diese Themen vom Tisch. So gesehen, wurden die USA in Europa nicht mehr gebraucht, jedenfalls nicht für die klassischen Aufgaben, wie die NATO sie für sich definiert hatte.
Folgen hatte das für alle Beteiligten, in besonderem Maße aber für das vier Jahrzehnte lang geteilte Deutschland, dessen Schicksal wie das keines zweiten Landes die transatlantische Epoche und eben auch deren Ende reflektierte: Ohne diesen Schlussakt, ohne den Untergang der Sowjetunion, wäre die Überwindung der deutschen Teilung schwerlich vorstellbar gewesen. Damit aber entfiel zugleich, wenn nicht der einzige, so doch der eigentliche Grund für die bedingungslose Anlehnung an die Vor- und Garantiemacht des westlichen Bündnisses; und damit eröffnete sich, erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik, zugleich die Möglichkeit, grundsätzlich souverän optieren, sich also für ein enges Zusammengehen mit den europäischen Partnern, allen voran mit Frankreich, entscheiden zu können, ohne sich zwischen allen Stühlen wiederzufinden.
Keine Frage, die deutsche Außenpolitik hatte endgültig zu den Gegebenheiten der neuen Weltordnung aufgeschlossen. Dass Teheran auf der deutschen Teilnahme bestand, als es um eine europäische Vermittlung im gefährlichen Streit Irans mit der Völkergemeinschaft und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) um sein Atomprogramm ging, ist bezeichnend. Niemand fand es ungewöhnlich, dass Außenminister Fischer Seite an Seite mit seinen französischen und britischen Amtskollegen de Villepin und Straw am 21. Oktober 2003 in der iranischen Hauptstadt die Führung des Landes zu Konzessionen, insbesondere zu umfassenden Kontrollen seines Atomprogramms, zu bewegen suchte. Ganz selbstverständlich nahm Deutschland inzwischen im Kreis der übrigen europäischen Großmächte die Rolle ein, die ihm als Folge der weltpolitischen Umbrüche seit 1991 zugefallen war.
Das setzte und setzt ein entsprechendes, dem politischen Gewicht angemessenes Selbstbewusstsein der politischen Akteure in Berlin voraus, und es gehört zu den bemerkenswerten Befunden der jüngsten Vergangenheit, dass niemand ernsthaft zu dem Schluss kam, Deutschland knüpfe damit an alte, verhängnisvolle, 1945 zu den Akten gelegte Traditionen an. Dass ihm anfänglich, während des Herbstes 2002, schwerwiegende handwerkliche Fehler unterliefen, ändert nichts daran, dass man in Berlin grundsätzlich nichts anderes tat, als vom Recht eines politisch souveränen, unter Partnern gleichrangigen Staates Gebrauch zu machen. Zudem konnte der Kanzler das Kapital der hohen Reputation einsetzten, die sich Deutschland in den voraufgegangenen Jahren mit seinen Auslandseinsätzen erworben hatte. Vor allem das Argument, dass sich Deutschland seit dem Kosovo-Krieg der internationalen, auch militärischen Verantwortung gestellt habe, mit Tausenden von Soldaten vor allem auf dem Balkan und in Afghanistan engagiert sei und sich dort oder am Horn von Afrika auch am Anti-Terror-Feldzug beteilige, wog schwer. Und es wurde selbstbewusst ins Feld geführt, vor allem gegen amerikanische Forderungen in der Irakfrage.
Dieser Logik konnte sich schließlich auch die dort immer stärker unter Druck geratende Bush-Administration nicht mehr entziehen, wie Außenminister Colin Powell Mitte September 2003 in der ARD zu Protokoll gab.
Das festzustellen heißt nicht, den transatlantischen Beziehungen eine Absage zu erteilen. Angesichts der engen wirtschaftlichen Verflechtungen und Abhängigkeiten gibt es ohnehin keine vernünftige Alternative. Auch spricht einiges dafür, dass für die Vereinigten Staaten ein selbstbewusster, grundsätzlich zu eigenständigem Handeln fähiger europäischer Partner die zukunftsweisendere Option ist. Und in dem Maße, in dem das weltweite Krisen- und Konfliktpotential eher noch zunimmt, sollten beide Seiten ein beträchtliches Interesse daran haben, ihre außen- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit fortzusetzen, wenn nicht noch zu intensivieren - allerdings auf einer erneuerten Basis. Auf ihr müssen Europäer und Amerikaner, wenn auch derzeit nicht als militärisch gleichrangige, so doch als politisch, wirtschaftlich oder auch kulturell gleichwertige Partner verkehren - "auf gleicher Augenhöhe", wie Kanzler Schröder klarstellte.
Europas Interessen
Für die deutsche Außenpolitik heißt das nichts anderes, als den dramatisch gewandelten weltpolitischen Konstellationen Rechnung zu tragen und sich, stärker noch als zuvor, in jene Tradition zu stellen, die dann doch die vertrautere ist: die europäische.
Das immer wieder strapazierte so genannte humanitäre Motiv überzeugt weder im Kongo, in Afghanistan noch im Irak. Humanitäre Hilfe wird gewiss auch in Zukunft gefordert sein - bei Erdbeben, Flutkatastrophen oder Hungersnöten. Das gilt auch für die deutschen Streitkräfte, die hier immer wieder im Rahmen internationaler Aktionen tätig geworden sind. Die laufenden Einsätze der Bundeswehr wie der übrigen europäischen Armeen haben indessen mit derartigen Hilfsaktionen nichts oder doch nur wenig zu tun. Hier geht es um massive militärische Interventionen und das heißt auch um Stellungnahme in Kriegen, Bürgerkriegen, ethnischen Konflikten oder anderen Auseinandersetzungen - ob man das will oder nicht.
Um so dringlicher sind überzeugende Antworten auf die eigentlich entscheidende Frage: Wann, mit welchen Mitteln und unter welchen Bedingungen, gegebenenfalls auch mit welchen Verbündeten will Europa in welchen Regionen einschreiten, um für seine eigene Hemisphäre Frieden, Freiheit und Wohlstand zu sichern? Es war ja richtig und konsequent, dass sich Deutschland, Frankreich und andere unter den gegebenen Bedingungen im Irak militärisch bedeckt hielten. Aber reicht das? Welche Alternativen zu einer fragwürdigen Politik der USA in der Dritten Welt im Allgemeinen, im Irak im Besonderen haben die Europäer anzubieten, um diesen Ländern Perspektiven zu eröffnen, die sie zu verlässlichen Partnern beispielsweise bei der für Europa lebenswichtigen Energiepolitik werden lassen?
Bei der Formulierung der Antworten auf solche Fragen ist Deutschland wie kein anderes Mitglied der Europäischen Union gefordert - schon wegen seines offenkundigen politischen Gewichts, aber auch wegen seines militärischen Engagements: Nach wie vor stellt die Bundesrepublik weltweit eines der größten Truppenkontingente bei Friedensmissionen im Ausland. Und was die im Aufbau befindliche Europäische Eingreiftruppe betrifft, so sollen im Falle ihres Einsatzes bis zur Hälfte der Soldaten, immerhin 30 000 Mann, durch die Bundeswehr gestellt werden. Weiteres kommt hinzu, vor allem die historisch begründete enorme Reputation Deutschlands in der Dritten Welt, in der auch in Zukunft die meisten Kräfte gebunden sein werden.
Nicht zuletzt aber hat die Bundesrepublik in der Zeit des Ost-West-Konflikts jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit Souveränitätsverzicht gesammelt.