Einleitung
Seit der Zulassung des privatwirtschaftlichen Rundfunks in Deutschland Mitte der achtziger Jahre war die Fernsehwirtschaft erfolgsverwöhnt. Nimmt man die Entwicklung der Programmangebote und Werbeeinnahmen als Indikator, wird die Wachstumsdynamik deutlich. So stieg die Zahl der Programme zwischen 1986 und 1998 von 22 auf 103; allein die Zahl der bundesweit ausgestrahlten privaten Programme erhöhte sich von 3 auf 23, wobei die Pay-TV-Plattform "Premiere" hier als ein Programm gerechnet wird.
Auch die vom Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) erfassten Nettowerbeeinnahmen markieren eine Erfolgsgeschichte. Die Werbeeinnahmen im Fernsehbereich haben demnach von 0,7 Milliarden Euro im Jahr 1985 auf 4,5 Milliarden im Jahr 2001 zugenommen; zugleich erhöhte sich der Anteil des Werbefernsehens am Gesamtwerbemarkt von acht auf 21 Prozent, allein der Anteil des Privatfernsehens stieg auf rund 19 Prozent.
Die aktuelle Situation auf dem Fernsehmarkt
Harald Schmidts vorläufiger Abschied vom Bildschirm im Dezember 2003 kann als eine zwar eher zufällige, aber sichtbare Reaktion auf das große Beben verstanden werden, das die deutsche Fernsehwirtschaft im Frühjahr 2002 erschütterte: der Insolvenzantrag des zweitgrößten Medienkonzerns Deutschlands für seine zentrale Holding KirchMedia GmbH & Co.KG aA.
Der wirtschaftliche Niedergang des einen der beiden großen Fernsehanbieter, die sich den Privatfernsehmarkt in Deutschland weitgehend geteilt hatten, war bis dahin für die Fernsehzuschauer unsichtbar geblieben. Die Sender der auseinander fallenden Kirch-Gruppe sendeten "as usual"; zur Einstellung von Programmen ist es bis heute nicht gekommen. Und mit Ausnahme der Pay-TV-Plattform "Premiere" und des Deutschen Sportfernsehens (DSF) bilden die wichtigsten Fernsehsender des insolventen Konzerns auch weiterhin eine "Familie", nun zusammengefasst zur ProSiebenSat.1 Media AG.
Die alte "Senderfamilie"
Dennoch sind die Umwälzungen auf der Veranstalterebene beachtlich. Positiv zu bewerten ist sicherlich die mit dem Auseinanderbrechen des Kirch-Konzerns verbundene Dekonzentration des Fernsehmarktes - auch wenn diese auf der horizontalen Ebene
Mit den Umwälzungen auf der Veranstalterebene tauchte ein für den deutschen Medienmarkt neuer Typus von Kapitalgebern auf. Das Auftreten von Private-Equity-Firmen ist eine für den deutschen Fernsehmarkt neue Entwicklung, also das Engagement internationaler Finanzinvestoren, die lukrative Beteiligungen bevorzugt an sanierungsbedürftigen Unternehmen suchen - mit dem Ziel, diese später mit Gewinn wieder zu veräußern. So ist dieKirch-Tochter "Premiere" mehrheitlich von Investmentgesellschaften der Premira-Gruppe - einem Private-Equity-Unternehmen - übernommen worden, und auch bei den Finanzpartnern von Haim Saban, deren neu gegründete Holding nun Mehrheitsgesellschafter der ProSiebenSat.1 Media AG ist, handelt es sich um Private-Equity-Firmen (siehe Schaubild). "Der Druck in Richtung Ergebnisorientierung wird durch diese Investoren sicher nicht kleiner werden", zitiert "Der Spiegel" ProSiebenSat.1-Chef Urs Rohner.
Die angekündigten Sparprogramme etwa für Sat.1, dessen Programmkosten in diesem Jahr noch einmal um rund zehn Prozent gesenkt werden sollen,
Diese Entwicklung hat die prinzipielle wirtschaftliche Fragilität des Geschäftsmodells "werbefinanziertes Fernsehen" deutlich gemacht. Mit diesem Modell wird einerseits ein zentrales ökonomisches Problem privatwirtschaftlich organisierter Rundfunkmedien gelöst, das in deren Refinanzierungsschwierigkeiten begründet liegt. Die von ihnen angebotenen - und vorfinanzierten - Inhalte bzw. Programme haben ökonomisch gesehen die Eigenschaften eines öffentlichen Gutes; das bedeutet, dass zahlungsunwillige Konsumenten nur mit großem technischen und finanziellen Aufwand vondem Angebot ausgeschlossen werden können;
Die Einsicht in diese existenzielle Abhängigkeit führt dazu, dass die Medienunternehmen nach neuen, werbeunabhängigen Erlösquellen wie Merchandising, Teleshopping oder Finanzierung über Zuschaueranrufe suchen - so auch die neuen Eigentümer der ehemaligen Kirch-Sender.
Die Anteile der neuen Erlösquellen an der Gesamtfinanzierung scheinen jedoch bislang eher marginal zu sein, wobei dem Merchandising noch das größte Potenzial zukommen dürfte. Eine andere, werbeunabhängige Finanzierungsform ist das Pay-TV, also die Refinanzierung der Produktionskosten nicht über Werbung, sondern durch einEntgelt der Rezipienten. Allerdings stößt diese Finanzierungsform bei den Verbrauchern in Deutschland auf erheblichen Widerstand, wie auch Leo Kirch erfahren musste.
Kirch-Insolvenz - Folge strategischer Schwächen?
Die Kirch-Insolvenz steht - wie bereits erwähnt - nicht in direktem Zusammenhang mit den seit 2001 rückläufigen Werbeumsätzen. Im Gegenteil: Gemessen an ihrem Zuschauermarktanteil konnten die Fernsehsender der Kirch-Gruppe auch in früheren Jahren schon einen überproportionalen Werbemarktanteil verbuchen. Dieser lag im Jahr 2000 bei 47,5 Prozent (RTL-Group: 41,4 Prozent) - bei einem Zuschaueranteil von 26,1 Prozent (RTL-Group: 24,7 Prozent).
Dieses Konzept ist allerdings wohl vor allem mit Blick auf die Verwertung des Programmvermögens der Unternehmensgruppe Kirch entstanden. Die strategischen Entscheidungen wurden offenbar ganz zentral von diesem Programmvermögen bestimmt, das Leo Kirch seit Mitte der fünfziger Jahre systematisch zu einer der weltweit größten Programmbibliotheken mit einem Bestand von zuletzt 18 000 Filmen - erweitert um Fiktion- und Sportrechte - aufgebaut hatte. Als Sat.1 am 1. Januar 1984 als erster privater Fernsehsender den Sendebetrieb im damaligen "Kabel-Pilotprojekt Ludwigshafen" aufnahm, hatte sich der Filmrechtehändler Kirch den Zugriff auf diese direkte Verwertungsmöglichkeit seines Programmvermögens durch Beteiligung gesichert. Der erste Schritt zum Aufbau eines integrierten Medienkonzerns war getan. Der weitere Konzernausbau war von dem strategischen Ziel bestimmt, alle Verwertungsmöglichkeiten des Programmvermögens in den Konzern zu integrieren und komplette Wertschöpfungsketten im Bereich der audiovisuellen Produktion aufzubauen, um Synergien nutzen zu können. Zum Zeitpunkt der Insolvenz umfassten die Tochtergesellschaften und Beteiligungen der Kirch-Gruppe die Inhalteproduktion (Film, Fernsehen, Nachrichten), den Programmrechtehandel einschließlich der Sportrechte, die Fernsehprogrammveranstaltung (sechs Free-TV-Sender, Pay-TV, Ballungsraumfernsehen), Mediendienste, die Werbezeitenvermarktung, eine digitale Plattform - also die Zusammenstellung und Vermarktung digitaler Programmpakete - sowie technische Dienstleistungen im digitalen Fernsehen.
Der Verlustbringer in diesem Imperium war offenbar vor allem der Pay-TV-Bereich. So erwirtschaftete "Premiere" im Jahr 2001 einen Fehlbetrag von 989 Millionen Euro. Aber auch N24 erzielte Verluste (2001: 38 Mio. Euro), und selbst Sat.1 fuhr bei hohen Umsätzen nur mäßige Gewinne ein,
Über die entscheidenden Ursachen der Kirch-Insolvenz ist viel spekuliert worden. Einigkeit herrscht weitgehend darüber, dass Kirchs starres Festhalten an dem Vorhaben, auf dem - mit Free-TV-Angeboten ohnehin eher überversorgten - deutschen Fernsehmarkt um jeden Preis einen Pay-TV-Sender durchzusetzen, den Konzern finanziell stark belastet, wenn nicht ausgeblutet hat. Der Schuldenstand der Unternehmensgruppe lag Anfang 2002 bei rund 6,5 Milliarden Euro.
Versucht man Gründe für den Niedergang des Kirch-Konzerns zu finden, dann lassen sich drei benennen; diese liegen in der Konzernstrategie begründet. Erstens: Leo Kirchs strategisches Denken, in dessen Zentrum offenbar sein Programmvermögen stand. Nicht nur das Pay-TV-Abenteuer, sondern der gesamte Konzern diente vor allem dem Ziel, dafür umfassende Verwertungsmöglichkeiten zu schaffen. Allerdings bedeutet "ein Schrank voller Rechte [...] keine Lizenz zum Gelddrucken, sondern in erster Linie Kapitalbindung"
Zweitens: Leo Kirch hat einen vertikal und horizontal integrierten Konzern geschaffen, wie ihn fast alle großen Medienunternehmen darstellen, ohne dass sich die erhofften Synergien einstellten bzw. effizient genutzt wurden. Ökonomen melden grundsätzlich Bedenken an einer "Integration um jeden Preis" an; sie empfehlen einen "regelmäßigen Integrationscheck", weil es "keine generelle und zeitlich stabile Logik" für diese Form der Konzernbildung gebe.
Durch die technologische Entwicklung sind heute zudem viele Vorteile von vertikal integrierten Unternehmen, die vor allem in der Kostenreduktion gesehen werden, fraglich oder sie werden in den Bereich der Wertschöpfung verlagert. So steigt auf Märkten wie dem Fernsehmarkt, auf dem immer mehr Anbieter um die Aufmerksamkeit der Rezipienten konkurrieren und die so gleichzeitig ihr potentielles Publikum fragmentieren, der Wert etablierter Markennamen. Sie erleichtern dem Konsumenten die Orientierung und schaffen eine Kundenbindung. Vertikale Integration verbessert die Möglichkeiten, eine Medienmarke im Sinne eines einheitlichen Produktdesigns bzw. eines publizistischen Profils mit dem Image gleich bleibender Qualität aufzubauen. Die RTL-Group hat diese Strategie konsequent verfolgt und konnte das Image des "erfrischend anderen", unterhaltsamen und innovativen Programms stabilisieren und auf die Sender der "Familie" übertragen. Die Kirch-Sender haben diesen strategischen Vorteil offenbar nicht zu nutzen gewusst; sie sind weder als "Marke" noch als "Familie" besonders präsent.
Auch die klassischen Synergiepotentiale integrierter Unternehmen wurden im Kirch-Konzern offenbar wenig ausgeschöpft. RTL-Geschäftsführer Gerhard Zeiler betont, dass sein Sender Synergien innerhalb des Mutterkonzerns Bertelsmann so weit wie möglich nutze; als Beispiel führt er die Casting-Show "Deutschland sucht den Superstar" an. "RTL als Sender, die Grundy Light Entertainment als Produktionsfirma der RTL-Group, als Plattenfirma die BMG und RTL-Enterprises für das übrige Marketing. Im Kreis dieser ,Familie` stimmen wir uns gegenseitig ab."
Drittens: Ex-RTL-Chef Helmut Thoma hat Leo Kirch einmal attestiert, dass er vom Fernsehgeschäft nichts verstanden habe.
Versuch einer medienökonomischen Einordnung
Die Insolvenz der Kirch-Gruppe ist - darauf weist auch die KEK hin - nicht als ein isoliertes Ereignis zu verstehen. Weltweit hätten "bei vielen börsennotierten Medienunternehmen und -konzernen hohe Schulden und nachlassende Werbeeinnahmen sowie ausbleibende Erfolge von Fusions- und Diversifikationsstrategien zu einem starken Sinken der Börsenkapitalisierung dieser Unternehmen geführt"
Zentrale exogene Faktoren, die in den vergangenen zehn bis 15 Jahren auch im Medienbereich eine Wachstums-, Fusions- und Diversifikationswelle ausgelöst haben, sind der technische Wandel, Deregulierung und Globalisierung. Fusionswellen, wie sie in der Vergangenheit immer wieder zu beobachten waren,
Es gibt aber noch einen anderen, den Medienunternehmen, nicht jedoch dem Medienmarkt exogenen Faktor, der zur Erklärung der aktuellen Entwicklungen herangezogen werden kann. Ökonomen gehen davon aus, dass sich Märkte für Produkte bzw. Produktgruppen nach einem zyklischen Muster entwickeln.
Erstens: In der Experimentierphase wird das Produkt erst erfunden; es ist zu diesem Zeitpunkt beinahe noch eine Idee. Noch besteht kein Markt, und es ist fraglich, ob sich die Idee überhaupt in ein marktfähiges Produkt umsetzen lässt. Das Internet scheint ein breites Experimentierfeld für neue Produkte in dieser Marktphase zu sein.
Zweitens: In der Expansionsphase ist die prinzipielle Marktfähigkeit des Produkts bereits sicher; es geht nun um die Durchsetzung am Markt. Dafür muss Anschluss an bestehende Konsummuster und Konsumentenpräferenzen gesucht werden. Zur Beeinflussung des Konsumverhaltens sind Werbung und Marketing erforderlich, Produkte werden standardisiert. Der Markt expandiert in dieser Phase stark, die Zahl der Anbieter wächst, der Grad der Produktdifferenzierung ist jedoch noch gering. Eine Reihe von Onlineprodukten wie E-Commerce, Internetportale oder Suchmaschinen scheint sich in dieser zweiten Marktphase zu befinden. Aber auch der Pay-TV-Bereich in Europa ist wohl hier einzuordnen.
Drittens: Die Ausreifungsphase ist das Stadium, in dem sich der deutsche Privatfernsehmarkt heute offenbar befindet. Es handelt sich um die Phase, in der die Grenzen des Marktes spürbar werden und die Wachstumsraten sich abschwächen. Die Produktdifferenzierung, also die Einführung von Produktvarianten, nimmt stark zu und dient der Markterweiterung und Marktabschöpfung. Für den Bereich des Fernsehens bedeutet dies, dass neben die wenigen privaten Vollprogramme vor allem Sparten- und Zielgruppenkanäle treten. Die Ausreifungsphase ist auch die Phase eines Anbieter-shake-out. Wer, um mit RTL-Chef Gerhard Zeiler zu sprechen, "jetzt keine tragfähige Strategie und keinen soliden Businessplan hat, wird scheitern".
Sinkende Werbeeinnahmen und die Insolvenz einer großen Anbietergruppe - diese beiden Entwicklungen passen in das Muster dieser Marktphase; für das Privatfernsehen setzte sie offenbar bereits Mitte der neunziger Jahre ein, wurde vom New-Economy-Boom aber eine Zeit lang überdeckt. Wenn diese Annahme stimmt, spiegeln sich in der Branchenkrise heute weniger konjunkturelle als vielmehr strukturelle Faktoren wider. Eine Rückkehr zu einem überdurchschnittlichen Wachstum für den gesamten Sektor wäre dann kaum noch zu erwarten.
Viertens: In dieser Phase des Marktlebenszyklus befindet sich offenbar schon seit einigen Jahrzehnten die Tagespresse. Es handelt sich um die Stagnationsphase: Der Markt expandiert kaum noch, der Produktdifferenzierungsprozess ist weitgehend abgeschlossen, die Konsumentenpräferenzen sind durch Werbung und das aufgebaute Reputationskapital der Marken und Unternehmen geprägt. Auch der Ausleseprozess der Anbieter ist beendet.
Fünftens: Als letzte Phase folgt schließlich die Rückbildungsphase. Substitutionskonkurrenz und der Wandel der Nachfragerpräferenzen (bei Medien: von Rezipienten und/oder der Werbewirtschaft, wie sie mit den Internetdiensten wahrscheinlich vielfach verbunden sein werden) können der Auslöser sein. Gelingt den Anbietern keine grundlegende Produkt- oder Verfahrensinnovation, stirbt der Markt ab.
Der private Fernsehmarkt dürfte von diesem Stadium noch ziemlich weit entfernt sein. Mit Blick auf die anhaltend rückläufige Nutzung der Tageszeitungen durch die jüngere Generation
Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Aus medienökonomischer Sicht erscheinen beide Zäsuren - sowohl der Rückgang der Werbeumsätze als auch die Kirch-Insolvenz - nicht wirklich überraschend. Beide entsprechen dem Muster eines ausreifenden Marktes. Dass die Kirch-Gruppe der Anbieterauslese in dieser Phase zum Opfer gefallen ist, lässt sich wohl damit erklären, dass neben die Faktoren, die Medienunternehmen derzeit weltweit destabilisieren, Fehleinschätzungen und Fehlsteuerungen getreten sind, die vor allem in der Geschichte des Konzerns und seines Gründers ihre Erklärung finden.
Eine Frage, die noch zu erörtern wäre, ist die Verschiebung in den publizistischen Machtverhältnissen, die sich aus der Kirch-Insolvenz ergibt. Im Vergleich zu den übrigen deutschen Medienunternehmen ist der Bertelsmann-Konzern dadurch relativ gesehen noch größer, noch potenter geworden. Die KEK diagnostiziert folglich auch ein "Gefährdungspotenzial für die Meinungsvielfalt"