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Die Rolle der Stiftungen in der Bürgergesellschaft der Zukunft

Jürgen Kocka

/ 14 Minuten zu lesen

Zivilgesellschaft, Bürgergesellschaft ist ein alter Begriff. Er bezeichnete eine utopische Form des Zusammenlebens der Menschen als Bürgerinnen und Bürger, als citizens, die ohne allzu viel staatliche Gängelung selbständig, friedlich und gleichberechtigt miteinander umgehen.

I. Abschnitt

Aus der Sicht des Historikers haben Begriffe der sozialen und politischen Sprache Karrieren. Aus randständiger Lage steigen sie auf, gewinnen Verbreitung, werden vielleicht zu Schlüsselbegriffen, bevor sie verblassen und wieder randständig werden. Bürgergesellschaft ist solch ein Begriff: Er steht in einer Phase der Hochkonjunktur, wobei manche von Bürgergesellschaft, andere von Zivilgesellschaft sprechen. Ich gebrauche die beiden Begriffe synonym.

Zivil- oder Bürgergesellschaft - das ist ein alter Begriff. Seine moderne Bedeutung erhielt er im 17. und 18. Jahrhundert, vor allem durch Autoren der Aufklärung wie Kant. Zivilgesellschaft, Bürgergesellschaft - das war um 1800 ein positiver Begriff. Er bezeichnete eine neue, erst noch zu verwirklichende, utopische Form des Zusammenlebens der Menschen als Bürgerinnen und Bürger, als citizens, die ohne allzu viel staatliche Gängelung selbstständig, friedlich und gleichberechtigt miteinander umgehen. Dieser Entwurf einer zukünftigen Gesellschaft setzte sich nach drei Seiten hin ab: einerseits vom gängelnden Absolutismus der damaligen Zeit, andererseits von religiöser Orthodoxie - nicht notwendigerweise von jeder Religion -, schließlich von den herkömmlichen Mustern sozialer Ungleichheit der ständischen Gesellschaft.

Im 19. Jahrhundert wirkte dieser Begriff bei einigen Autoren weiter, beispielsweise bei Alexis de Tocqueville, der in seiner klassischen Beschreibung der amerikanischen Gesellschaft besonders auf deren Fähigkeit zur Selbstorganisation in Form von Vereinen und Genossenschaften hinwies. Doch im Übrigen veränderte sich der Sprachgebrauch. Seit Hegel und Marx wurde aus dem Begriff Bürgergesellschaft der Begriff "bürgerliche Gesellschaft", und dieser wurde zunehmend als ein kritischer Begriff gebraucht. Bis dahin hatte sich "Bürgergesellschaft" an der Vorstellung vom Bürger als citizen oder citoyen orientiert. Nun trat die Bedeutungsschicht nach vorne, die den Bürger als Bourgeois identifizierte. "Bürgerliche Gesellschaft" wurde zu einem kritischen, zu einem polemischen Begriff nicht nur bei der marxistischen Linken, sondern auch in anderen politischen Milieus.

Während die "bürgerliche Gesellschaft" also weiterlebte, trat die "Bürgergesellschaft" bzw. "Zivilgesellschaft" in den Hintergrund. "Zivilgesellschaft" spielte im späteren 19. und im größten Teil des 20. Jahrhunderts in der sozialen und politischen Sprache Deutschlands und anderer Länder nur eine Nebenrolle. Aber seit den achtziger Jahren erlebt der Begriff eine fulminante Renaissance. Zunächst trug dazu vor allem bei, dass er in Ostmitteleuropa von Dissidenten wie Havel, Geremek oder Konrád benutzt wurde. Diese wandten sich mit ihm gegen die kommunistische Diktatur und die sowjetische Hegemonie. "Zivilgesellschaft" stand bei ihnen für eine neue, freie, selbstregulierte Gesellschaft, der die Luft zum eigenen Atmen nicht genommen werde. Und so beobachten wir seit den achtziger Jahren dort - aber auch in der südafrikanischen und der lateinamerikanischen Diskussion - ein mehr oder minder bewusstes Anknüpfen an die alte positive Bedeutung von "Zivilgesellschaft" bzw. "Bürgergesellschaft" im Sinne des 18. und frühen 19. Jahrhunderts.

Als sich dieser Begriff dann in den westlichen Sprachen wieder breit machte - im Englischen als civil society -, ging es darum, wie er auf Deutsch zu fassen sein würde, und da war "bürgerliche Gesellschaft" zu eindeutig als polemisch-kritischer Begriff besetzt, als dass man ihn einfach im positiven Sinn hätte benutzen können. Man wich auf "Zivilgesellschaft" oder "Bürgergesellschaft" aus. Über die damit bezeichneten Phänomene entstand in den achtziger Jahren eine immer noch anschwellende Welle sozialwissenschaftlicher Literatur, und zwar international. Der Begriff ist von den Medien popularisiert worden. Er steht im Zentrum vieler Podiumsdiskussionen und vieler politischer Reden, übrigens mit unterschiedlicher Stoßrichtung und mit leicht variierenden Bedeutungen.

Was heißt "Bürgergesellschaft" bzw. "Zivilgesellschaft"? Ich beschränke mich auf eine grobe Umschreibung dieses schillernden Begriffs. Zur "Zivilgesellschaft" gehören selbstorganisierte Initiativen, Bewegungen, Zirkel, Vereine und Organisationen, die weder der staatlichen Sphäre angehören noch zum Markt zu rechnen und auch nicht in der Privatsphäre angesiedelt sind. Es geht um Initiativen, Bewegungen, Netzwerke und Organisationen zwischen Staat, Markt und Privatsphäre. Damit reicht das Spektrum, das man mit dem Begriff "Zivil- oder Bürgergesellschaft" in den Blick nimmt, von den Nachbarschaftshilfen, Stadtteilinitiativen und Friedensdemonstrationen über Vereine, Stiftungen und Spendenparlamente bis zu den "NGOs", den Nicht-Regierungs-Organisationen wie Amnesty International, Greenpeace oder Attac, vielleicht auch noch weiter.

Welches ist der gemeinsame Nenner, der es rechtfertigt und begründet, dass man so unterschiedliche Phänomene unter einem Begriff - als Zivil- oder Bürgergesellschaft - zusammenfasst? Bei ihnen allen geht es um Selbstorganisation unter Betonung von individueller oder genossenschaftlicher Selbständigkeit. Es geht um Verhalten im öffentlichem Raum, um Tätigkeit, zu der auch Diskussion, Konflikt und Verständigung in der Öffentlichkeit gehören. Es geht um friedliche, nichtmilitärische, nichtgewaltsame Tätigkeit. Gemeint ist ein Typus von sozialem Verhalten, der zwar von den jeweils eigenen, spezifischen, auch egoistischen Interessen und Erfahrungen ausgeht, der sich aber gleichzeitig auf allgemeinere Dinge bezieht, auf das allgemeine Wohl, so unterschiedlich die einzelnen Akteure dies auch definieren mögen. Zivilgesellschaftliches bzw. bürgergesellschaftliches Verhalten zielt also über den Tellerrand des partikularen Interesses und der eigenen Erfahrung hinaus, um sich um allgemeinere Dinge zu kümmern und sich dafür zu engagieren. Zivilgesellschaftlich sind Tätigkeiten, die in der Regel nicht in Ausübung eines Amtes in einer staatlichen oder halbstaatlichen Institution und auch nicht zum Zweck des Erwerbs betrieben werden, sondern als bürgerschaftliches Engagement und sehr oft im Ehrenamt.

Wenn man zivilgesellschaftliches bzw. bürgergesellschaftliches Handeln so umschreibt, dann leuchtet ein, dass es in den genannten Initiativen, Bewegungen, Netzwerken und Organisationen zwischen Staat, Markt und Privatsphäre besonders ausgeprägt und häufig ist - weshalb man diesen Bereich oft als Zivil- oder Bürgergesellschaft bezeichnet. Doch unbestreitbar ist, dass zivilgesellschaftliches Handeln auch in anderen Bereichen nicht völlig fehlt, so im Unternehmen, im Bereich der Familie und in Verwaltungen, besonders auf kommunaler Ebene. Allerdings dominiert es dort nicht. Die Abgrenzung ist nicht völlig scharf. Es ließe sich darüber diskutieren, unter welchen Bedingungen und inwiefern Kirchen, Gewerkschaften und Unternehmen begrifflich zur Bürgergesellschaft zählen.

Warum ist Zivil- bzw. Bürgergesellschaft heute solch ein zentrales Thema - manche sagen: Modethema - der öffentlichen Diskussion? Der Begriff der Bürgergesellschaft, das Programm der Zivilgesellschaft grenzt sich nach drei Richtungen hin ab, und daraus ergibt sich seine Attraktivität.

Er wendet sich gegen einen übermächtigen, gängelnden Obrigkeitsstaat. Ich habe auf die Entstehungssituation im Absolutismus verwiesen und auch die Situation erwähnt, in welcher der Begriff seine Renaissance erlebte: die diktatorischen Verhältnisse des späten 20. Jahrhunderts. Nun leben wir nicht in einer Diktatur und nicht in einem absolutistischen System, sondern in einer Demokratie. Aber der Eindruck ist weit verbreitet und lässt sich mit guten Gründen untermauern, dass unser Sozial- und Interventionsstaat an seine Grenzen gestoßen und dabei ist, sich zu übernehmen. Insofern trifft das zivilgesellschaftliche Programm auch heute einen zentralen Nerv. Das ist die eine Stoßrichtung von Zivilgesellschaft: gegen den gängelnden, sich übernehmenden, allzu fürsorglichen, einengenden Staat.

Zum anderen unterscheidet sich zivilgesellschaftliches, bürgerschaftliches Handeln von marktrationalem Handeln. Es geht dabei eben nicht um Tauschvorgänge oder um individuelle Nutzenmaximierung. Nun haben wir in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten einen präzedenzlosen Siegeszug des Kapitalismus erlebt, weltweit nach 1990, der als Kommerzialisierung bis in die innersten Bereiche unseres Lebens vordringt. Demgegenüber bietet zivilgesellschaftliches Handeln eine Alternative zur Omnipräsenz und Übermacht des Marktes. Damit eignet sich das zivilgesellschaftliche Programm auch zu einer neuen Art von Kapitalismuskritik, die - etwa in der Antiglobalisierungsbewegung - häufig zivilgesellschaftlich argumentiert.

Und es gibt eine dritte Stoßrichtung. Seit einigen Jahrzehnten haben viele das Gefühl, und sie können es mit guten Gründen untermauern, dass sich unsere Gesellschaft im Zuge allzu rasch fortschreitender Individualisierung fragmentiert. Die Frage, was moderne Gesellschaften überhaupt noch zusammenhält, wird seit den achtziger Jahren häufig gestellt. Und da bietet das zivilgesellschaftliche Programm mit seinen kommunitaristischen, den Gemeinsinn betonenden Zügen ein Gegenprogramm.

Dass sich der Staat übernimmt, der Markt zu mächtig wird und die Gesellschaft fragmentarisiert - diese drei weit verbreiteten Befürchtungen sind es, auf die das Programm der Zivilgesellschaft, das Ideal der Bürgergesellschaft heute antwortet. Deshalb ist es in der gegenwärtigen Situation so attraktiv - für viele, nicht alle, und für jeden vermutlich ein wenig anders.

Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum die Debatte über die Bürgergesellschaft in den vergangenen Jahren so stark an Boden gewonnen hat. Im Vergleich zur Generation unserer Großeltern sind die meisten von uns viel wohlhabender geworden; und das gilt nicht nur, aber auch, für die Besitzer großer, vererbbarer Vermögen. Der durchschnittliche Bildungsstand hat - trotz PISA - über die Jahrzehnte zugenommen. Und es stehen Kommunikationsmittel zur Verfügung, die frühere Generationen nicht kannten. Aus diesen Gründen ist die Gesellschaft heute zu bürgergesellschaftlichem Engagement sehr viel fähiger als früher. Die Kraft zur gesellschaftlichen Selbstorganisation ist gewachsen. Das ist eine Chance, die wahrgenommen werden will und zunehmend wahrgenommen wird. Denn, und das hat die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zum bürgerschaftlichen Engagement gezeigt: Nicht nur der Begriff, sondern auch die Realität der Bürgergesellschaft hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten an Boden gewonnen.

II. Abschnitt

Die Zahl der Stiftungen ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten kräftig angestiegen. Die Politik hat das ihre dazu beigetragen. Heute gibt es in Deutschland mit deutlich über 10 000 etwa dreimal so viel Stiftungen wie 1980, aber wohl immer noch deutlich weniger als um 1900. (Dabei rechnet die Statistik die zahlreichen kirchlichen Stiftungen nicht mit.) Vergleicht man die Zahl der Stiftungen pro Kopf der Bevölkerung, rangiert Deutschland weit hinter den USA, aber deutlich vor Ländern wie Frankreich, Italien oder Österreich. Dabei besteht ein West-Ost-Gefälle: Berlin rangiert weit hinter Bremen und Hamburg.

Zweck und Gestalt der Stiftungen variieren sehr. Die eine betreibt Wissenschaftsförderung mit nationalem und internationalem Wirkungskreis, die nächste fördert ein Jugendorchester, eine dritte will etwas für die Bedürftigen einer kleinen Gemeinde tun. Auch die finanziellen Mittel sind sehr unterschiedlich: Das Vermögen reicht von mehr als fünf Milliarden bis zu wenigen zehntausend Euro. Mehr als ein Drittel sind Sozialstiftungen, etwa 19 Prozent konzentrieren sich auf Bildung, 13 Prozent auf die Förderung der Wissenschaft und elf Prozent auf Kunst und Kultur. Der Rest verteilt sich auf andere Zwecke wie Sport, Politik, Umwelt- oder Verbraucherschutz.

Die Institution der Stiftung ist viel älter als Idee und Realität der Bürgergesellschaft. Und nicht alle Institutionen, die heute Stiftung genannt werden, sind bürgergesellschaftliche Institutionen im oben umschriebenen Sinn. Beispielsweise rechnen die rein privaten Zwecken dienenden Familienstiftungen ebensowenig dazu wie Stiftungen, die vor allem öffentliche Mittel verteilen und staatlich oder kommunal dirigiert werden.

Die große Mehrzahl der bestehenden Stiftungen entspricht den definierten Kriterien der Bürgergesellschaft zwischen Staat, Markt und Familie. Es sind selbständige Institutionen, die private Mittel für öffentliche Zwecke bereitstellen, als gemeinnützig anerkannt und meist sehr individuell sind, aber mit überindividuellen Absichten und Wirkungen. Allerdings - und das begrenzt ihren bürgergesellschaftlichen Charakter - agieren die meisten nicht öffentlich, ihre Transparenz ist begrenzt, da ist man in den USA weiter. Trotzdem: Stiftungen sind ein gewichtiger Bestandteil der Bürgergesellschaft, seit und soweit man von einer solchen sprechen kann. Umgekehrt haben die Diktaturen, die der Bürgergesellschaft den Kampf ansagten - so das nationalsozialistische Deutschland und die DDR -, auch den selbständigen Stiftungen das Leben schwer gemacht oder den Boden entzogen.

Die Stiftung basiert auf einem Akt, der über das Leben des Stifters hinauszielt und im Prinzip nicht revidierbar ist. Dieser Akt setzt Ressourcen für einen bestimmten Zweck fest, in der Regel mit der Absicht längerer oder dauernder Wirkung. Garantiert ist diese nicht, aber in aller Regel überlebt die Stiftung den Stifter. Manche der heute existierenden Stiftungen sind älter als 1 000, ca. 20 Prozent älter als hundert Jahre. Die Stiftung bringt also in das oftmals sehr temporäre, auch wenig verbindliche, äußerst fluide bürgerschaftliche Engagement der Vereine, Initiativen und NGOs einen Schuss Nachhaltigkeit ein, eine intergenerationelle Perspektive, ein Stück Zukunft - was zivilgesellschaftliche Aktionen sonst, anders als die intergenerationell strukturierten Institutionen Familie, Staat und Kirche, nicht so leicht hervorbringen. Darin und in ihrer herausragenden finanziellen Kraft sehe ich den besonderen Beitrag der Stiftungen zur Bürgergesellschaft, die ohne sie sehr viel kurzatmiger, ärmer und schwächer wäre.

III. Abschnitt

In der Zukunft darf man von den Stiftungen jedoch nicht zu viel erwarten. So wie die Bürgergesellschaft den Staat nicht ersetzt, sondern einen starken Staat braucht, so wenig können Stiftungen die Lücken füllen, die unterfinanzierte Staatshaushalte und defiziente Verwaltungen entstehen lassen. So sehr die Zivilgesellschaft eine funktionierende Marktwirtschaft braucht, so sehr werden viele Stiftungen von einer lange lahmenden Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen. So sehr die Anerkennung ihrer Gemeinnützigkeit zur Definition der meisten Stiftungen gehört, so wenig können sie demokratische Politikprozesse ersetzen, die letztlich auch darüber befinden müssen, was der allgemeine Nutzen, das Allgemeinwohl ist und welche Kriterien es sein sollen, die über die Gemeinnützigkeit von Stiftungen zum Zeitpunkt ihrer Entstehung entscheiden. Auch wenn man darüber streiten mag, welche Rolle dabei den Finanzämtern zukommen soll: Die Entscheidung über ihre Gemeinnützigkeit und damit über ihre Förderung durch die Allgemeinheit kann eine entstehende Stiftung nicht allein treffen.

Vor allem sind die Gründe nicht einfach wegzuwischen, die der liberalen Stiftungskritik des 19. und der sozialdemokratischen Stiftungsskepsis des 20. Jahrhunderts zugrunde liegen: Die Stifter gehören fast durchweg zu einer mehr oder weniger wohlhabenden Minderheit. Stiftungen können daher auch Mittel sein, um den Einfluss der Stifter und ihrer Nachkommen zu verstärken. Sie können insofern Mechanismen sein, die sozialökonomische Vorsprünge in politische oder kulturelle Macht übersetzen. Es ist nicht uninteressant, dass die Liberalen zur Mitte des 19. Jahrhunderts Stiftungen mit Misstrauen gegenüberstanden, weil sie jene als "monarchisch" begriffen und in ihnen ein Mittel zur dauerhaften Befestigung von Privilegien über das Ableben hinaus sahen. Sie zogen das bürgerschaftliche Engagement in Gestalt von Vereinen vor.

Diese Kritikpunkte sind auch heute nicht völlig obsolet. Doch heute und in Zukunft bedrückt uns anderes. Wir sind nicht bedroht durch eine Überzahl von Stiftungen, die ihre Stellung missbrauchen. Wir sind vielmehr bedroht durch ein nicht ausreichendes Maß an gesellschaftlicher Dynamik und freier Gestaltungskreativität. Das zivilgesellschaftliche Leitbild des mündigen Bürgers, der verantwortlichen Bürgerin ist noch immer nicht voll erfüllt, wenngleich heute mehr davon realisiert ist als vor 50, 100 oder 200 Jahren. Im Vergleich zu manchem anderen Land überlassen wir in Deutschland sehr viel dem Staat und fühlen uns als Privatleute nicht recht zuständig für die allgemeinen Dinge. Um Innovationsfähigkeit zurückzugewinnen, Wohlstand zu erhalten, der sozialen Gerechtigkeit näher zu kommen und Demokratie zu praktizieren, braucht es mehr, nicht weniger bürgerschaftliches Engagement. Und deshalb braucht es auch mehr selbständige Stiftungen unterschiedlichen Zuschnitts und Inhalts.

Im Grunde besteht darüber auch Konsens. "Wir brauchen 'Stifter`, die mit Geld oder mit Zeit gemeinnütziges Engagement fördern", hieß es 1999 in der gemeinsamen Erklärung des amtierenden Bundespräsidenten und seiner drei Amtsvorgänger. Sie kamen aus drei verschiedenen Parteien, und wenn es einmal eine grüne Bundespräsidentin geben sollte, wird sie nur allzu gern ins gleiche Horn stoßen. Die gesamtpolitische Stimmung ist den Stiftungen günstig.

Wird es also zu einer neuen Blüte der Stiftungen kommen? Ein wenig - nur wenig - kann die staatliche Politik dazu beitragen, durch steuerliche Anreize, eine Verschlankung des Stiftungsrechts, eine Erleichterung der Gründung und vor allem durch die demonstrative öffentliche Anerkennung von Stiftern. Das wilhelminische Reich war ein Eldorado der Stiftungen. Ohne starkes Engagement staatlicher Organe wäre es das vermutlich nicht gewesen. Man lese nach, wie geschickt Wilhelm II. den Zugang zur Exklusivität des Hofes als Mittel einsetzte, um nach Anerkennung lechzende Bankiers, Industrielle und Kaufleute als Mäzene zu gewinnen; oder wie der preußische Wissenschaftsbeamte Althoff privates Kapital für die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften gewann; oder wie geschickte Museumsdirektoren - Beispiel Tschudi - private Sammler für öffentliche Sammlungen einzuspannen wussten. Hoffentlich fällt heutigen Präsidenten, Ministern und Generaldirektoren ähnlich viel ein.

Die Entwicklung neuer Stiftungsformen stimmt optimistisch. So genannte Bürgerstiftungen entstanden in den vergangenen Jahren in großen Städten, etwa in Gütersloh, Hannover, Dresden, Hamburg und Berlin. Mittlerweile gibt es etwa 50. Sie verbinden Elemente des Vereins mit Elementen der Stiftung, sie erlauben und fordern breitere Partizipation, sie operieren öffentlich. Sie realisieren, dass es nicht nur um die Stiftung von Vermögen, sondern auch um die Bereitstellung von Zeit geht. Sie entsprechen der Idee der Bürgergesellschaft in hohem Maße.

Am wichtigsten aber ist die Einstellung derer, die Stifter werden könnten. Nötig ist eine Mentalität, eine Kultur des Stiftens und des bürgerschaftlichen Engagements, die nur schwer herstellbar ist. In früheren Jahrhunderten war die Frömmigkeit ein starkes Motiv. Stiftungen in christlichem Geist stellen eine mächtige Traditionslinie dar. Religiöses Engagement für die Nächsten und die Allgemeinheit hat an Kraft verloren, aber ist nicht verschwunden. Jüdische Bürger haben vor und nach 1900 als Mäzenaten und auch als Stifter eine herausragende Rolle gespielt. Traditionen der jüdischen Gemeinden trugen dazu ebenso bei wie der besondere Status des jüdischen Bürgertums zwischen Aufstieg und Zurückweisung. Mit der Vernichtung der Juden wurde diese Quelle des Mäzenatentums zerstört. Zweifellos trugen überdies der Patriotismus und der Nationalismus der Bourgeoisie im Kaiserreich zum mäzenatischen Engagement in einem von ihnen stark bejahten, aufsteigenden Nationalstaat bei; Staatsnähe nützte. Schon in der Weimarer Republik, von Besitz- und Bildungsbürgern oft skeptisch gesehen, befeindet und abgelehnt, schwächte sich dieser Wirkungsmechanismus ab. (Die Vernichtung großer Vermögen durch Weltkrieg und Inflation tat ein Übriges.) Heute steht das Bürgertum dem demokratischen Staat nicht mehr ablehnend gegenüber. Vom Nationalismus des wilhelminischen Reichs ist zum Glück wenig übrig geblieben; er fällt auch als Triebfeder für Mäzenatentum aus. Kann ein geläuterter Patriotismus an seine Stelle treten?

Stiftungsbereitschaft kam am ehesten dort zustande, wo Besitz und Bildung zusammentrafen, sei es bei einzelnen Personen, sei es in bürgerlicher Geselligkeit, in Initiativen, Zirkeln und Vereinen. Dies scheint mir auch weiterhin eine entscheidende Voraussetzung dafür zu sein, eine Kultur des Stiftens zu begründen. Wiederum spielt öffentliche Anerkennung eine große Rolle. Man muss sich durchs Stiften einen Namen machen können und Chancen zur Einwirkung haben.

Nie gab es in Deutschland so viele wohlhabende Menschen wie heute. Nie gab es in Deutschland so viele kinderlose Paare wie heute. Beides sollte das Stiften beflügeln. Denn ein wenig können Stiftungen das bewirken, was in anderer Weise eine reiche Nachkommenschaft ermöglicht: Wirksamkeit über den Tod hinaus, Weiterleben in der Erinnerung anderer. Dies war immer ein starkes Motiv von Stiftern. Wir befinden uns in einer ökonomisch-demographischen Situation, in der dieses Motiv eigentlich an Bedeutung gewinnen müsste - zum Vorteil des Stiftens und der Bürgergesellschaft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Jürgen Kocka, Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen, in: Manfred Hildermeier u.a. (Hrsg.), Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen, Frankfurt/M. 2000, S. 13 - 21.

  2. Vgl. zuletzt Dieter Gosewinkel u.a. (Hrsg.), Zivilgesellschaft - national und transnational (WZB-Jahrbuch 2003), Berlin 2004, S. 11 - 13.

  3. Vgl. auch Ansgar Klein, Der Diskurs der Zivilgesellschaft. Politische Hintergründe und demokratietheoretische Folgerungen, Opladen 2000; Helmut K. Anheier, Dritter Sektor, Ehrenamt und Zivilgesellschaft in Deutschland, in: Ernst Kistler u.a. (Hrsg.), Perspektiven gesellschaftlichen Zusammenhalts, Berlin 1999, S. 145 - 170; Thomas Meyer und Reinhard Weil (Hrsg.), Die Bürgergesellschaft. Perspektiven für Bürgerbeteiligung und Bürgerkommunikation, Bonn 2002; Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements", Bericht Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft, Opladen 2002.

  4. Vgl. Rainer Sprengel, Stiftungen und Bürgergesellschaft: Ein empirischer, kritischer Überblick, in: Annette Zimmer/Stefan Nehrlich (Hrsg.), Engagierte Bürgerschaft, Opladen 2000, S. 231 - 245.

  5. Vgl. Elisabeth Kraus, Aus Tradition modern. Zur Geschichte von Stiftungswesen und Mäzenatentum in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: Historisches Jahrbuch, 121 (2001), S. 400 - 420.

  6. Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), The Future of Foundations in an Open Society. Die Zukunft der Stiftungen in einer offenen Gesellschaft, Gütersloh 1999.

  7. Vgl. Rupert Graf Strachwitz, Auf dem Weg in die Bürgergesellschaft, in: A.Zimmer/S.Nehrlich (Anm.4), S. 325 - 337.

  8. Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Handbuch Bürgerstiftungen. Ziele, Gründung, Aufbau, Projekte, Gütersloh 2000.

  9. Vgl. Manuel Frey, Macht und Moral des Schenkens. Staat und bürgerliche Mäzene vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 1999.

Historiker, Dr. phil, Dr. h. c. mult., geb. 1941; Direktor am Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas (ZVGE), Berlin; Professor für Geschichte der Industriellen Welt an der Freien Universität (FU) Berlin; Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB).

Anschrift: FU Berlin, Friedrich-Meinecke-Institut, Koserstraße 20, 14195 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: prokocka@zedat.fu-berlin.de

Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung sowie des Bürgertums, zuletzt u.a.: (Hrsg.) Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft (Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Band 13), Stuttgart 2001.