Einleitung
Seit nunmehr 25 Jahren wirken direkt gewählte Abgeordnete und ihre Parteien am europäischen Integrationsprozess mit. Durch die erste Direktwahl 1979 und durch Vertragsänderungen seit der Delors-Ära erhielten das Europaparlament und damit mittelbar auch die Parteien einen zunehmend größeren Stellenwert in der europäischen Politik.
Wie in den meisten nationalen Parlamenten sind auch im Europäischen Parlament (EP) Parteien maßgeblich für die parlamentarische Arbeit und Organisation. Die Parteien(bünde) auf europäischer Ebene spielen dabei jedoch immer noch eine untergeordnete Rolle. Die Wahrnehmung zentraler Funktionen von Parteien bleibt bislang weitgehend auf die nationalstaatliche Ebene beschränkt: die Rekrutierung von Kandidaten, die Artikulation und Aggregation von Interessen, die Mobilisierung von Wählern und auch die Formulierung politischer Ziele. Die Bedeutung nationaler Parteien und ihrer Zielsetzungen für den europäischen Willensbildungsprozess ist deshalb nicht zu unterschätzen. In dem stark elitengesteuerten Integrationsprozess sind sie neben den Regierungen der Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission, Interessenverbänden und Medien richtungsweisend an der Politikformulierung und -vermittlung beteiligt.
Die Politikformulierung ist eine zentrale Funktion von Parteien. Die politischen Ziele und Grundsätze bestimmen nicht nur das Bild jeder Partei in der Öffentlichkeit und bei den Wählern, sondern auch das Verhältnis zu anderen Parteien, und sie haben anleitende Funktion für späteres parlamentarisches und Regierungshandeln.
Auf europäischer Ebene muss aus verschiedenen Gründen jedoch von einem eingeschränkten demokratischen Prozess ausgegangen werden. Denn trotz des Kompetenzzuwachses des EP und der gewachsenen Bedeutung der europäischen Arena lassen sich Europawahlen immer noch als Nebenwahlen, so genannte "second order elections",
In Anbetracht der fortschreitenden europäischen Integration drängt sich die Frage auf, ob Europawahlprogramme die sich stark verändernde politische Wirklichkeit auf europäischer Ebene widerspiegeln, ob die Manifestos die Verortung von Sachkompetenzen auf unterschiedlichen politischen Ebenen reflektieren, wie sich politische Streitfragen und Grundorientierungen gegenüber Europa entwickelt haben, und schließlich, welche Konsequenzen diese Entwicklungen für den Parteienwettbewerb haben. Denn nicht nur der Umstand, dass es sich um Nebenwahlen handelt, beeinflusst den Parteienwettbewerb und die politischen Positionen der Parteien, sondern auch institutionelle Faktoren. Einige sehen in dem primär konsensualen Charakter der Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene einen Grund dafür, dass der Wettbewerb um politische Positionen eingeschränkt ist.
Um die Inhalte sämtlicher Europawahlprogramme aller relevanten Parteien der EU-Mitgliedstaaten sinnvoll erfassen zu können, wurde ein Experten-Kodierschema entwickelt.
In Tabelle 1 sind die wichtigsten Themenbereiche sowie deren zentrale Inhalte in den Wahlprogrammen der deutschen Parteien für sämtliche Europawahlen seit 1979 zusammenfassend dargestellt.
Nun zeigen sich im Zeitverlauf einige, zumeist kleine, wenn auch bemerkenswerte Verschiebungen in der Wichtigkeit von Themenbereichen. Der außenpolitische Fokus der Europawahlprogramme ist mittlerweile verloren gegangen, und die gruppenspezifischen Inhalte (Soziale Gruppen) haben an Bedeutung eingebüßt. Indessen sind grundsätzlichere Themenbereiche wie Freiheit und Demokratie und Gesellschaft wichtiger geworden. Die Wirtschaft ist zwar nach wie vor ein zentraler Bereich, aber um ihn herum scheint sich der Themenmix von supranationaler zu Mehrebenen-Politik zu wandeln. Außenpolitische Themen werden von vormals klassisch national-innenpolitischen Themen abgelöst. Der Bedeutungsgewinn in den politischen Systembereichen weist zudem auf eine stärkere Auseinandersetzung mit der Ausgestaltung dessen hin, was "die Europäische Union" sein, was sie werden und leisten soll. Gemessen andem, was wir über die Themenbereiche und Schwerpunkte der Europawahlprogramme schon jetzt erfahren haben, bemühen sich die deutschen Parteien mit ihren Manifestos darum, dass Europawahlen nicht nur der Charakter nationaler Nebenwahlen zugeschrieben wird. Schließlich werden sehr wohl europapolitische Themen und nicht nur solche der nationalen Agenda in den Vordergrund gerückt.
Dieser Eindruck verfestigt sich, wenn wir außerdem berücksichtigen, auf welche politische Ebene die programmatischen Aussagen verweisen, also ob die Inhalte von den Parteien mit der nationalen oder der europäischen Ebene verknüpft werden. Und die Parteien beziehen tatsächlich 78 % ihrer inhaltlichen Aussagen auf Europa, die EG oder die EU. Nur 6 % der Inhalte zielen auf Deutschland, und 15 % bleiben größtenteils unspezifisch, d.h., die Inhalte beziehen sich weder auf Deutschland noch auf Europa. Im Zeitverlauf wird vor allem deutlich: Während die nationalen Bezüge je nach Wahljahr mit 4 bis 8 % recht konstant bleiben, haben die unspezifischen Bezüge von 23 % (1979) auf 8 % (1999) abgenommen und die Europa-Bezüge kontinuierlich von 71 % (1979) auf 85 % (1999) zugenommen. Die deutschen Parteien bezogen demnach ihre inhaltlichen Aussagen von vornherein primär auf Europa, und sie tun dies mit zunehmender Eindeutigkeit, während sie unklare Bezüge immer stärker meiden.
Diese Beobachtungen bestätigen sich auch mit Blick auf diejenigen Themenbereiche, deren Ebenenbezüge sich am stärksten verändert haben (vgl. Abbildungen 1 a-d). Ebenenunspezifische Aussagen sind in jedem der vier Themenbereiche rückläufig, und mit Ausnahme der Außenpolitik haben europäische Ebenenbezüge im Zeitverlauf zugenommen. Dabei "gewinnt" die europäische gegenüber der nationalen Ebene in den Bereichen Freiheit und Demokratie, Politisches System und Gesellschaft an Gewicht. Bei gesellschaftspolitischen Fragen haben seit 1989 allerdings auch die nationalen Bezüge - vor allem durch die Republikaner - zugenommen, womit häufig eine Abgrenzung zur EU bzw. eine Ablehnung der Europäisierung (z.B. im Hinblick auf kulturelle Identitäten) einhergeht. In allen anderen Themenbereichen sind die Veränderungen der Ebenenbezüge deutlich geringer, so dass sie hier nicht ausgewiesen sind.
In fast allen Themenbereichen, die merklich an Bedeutung gewonnen oder verloren haben, veränderten sich auch die Ebenenbezüge. Dabei kommt es nachweislich zu einer Europäisierung dreier Themenbereiche, wodurch sich der gestiegene Stellenwert einer politischen Gemeinschaft Europas auch in den programmatischen Aussagen der Parteien widerspiegelt. Umgekehrt zeigt sich eine tendenzielle (Re-)Nationalisierung der Außenpolitik. Die Außenpolitik ist in den Europawahlprogrammen zwar nach wie vor ein wichtiges, primär europäisch zu behandelndes Themengebiet, aber dem Nationalstaat wird heute wieder eine etwas wichtigere Rolle zugestanden als noch bei den ersten Direktwahlen zum Europaparlament.
Themenschwerpunkte der Parteien
Wenn wir uns nun den Parteien im Einzelnen zuwenden, könnte man aufgrund der allgemein zunehmenden Bedeutung politischer Systemfragen und des stärkeren Bezugs auf die europäische Ebene parteispezifische Schwerpunkte und eine differenzierte Betonung europapolitischer Themen innerhalb eines proeuropäischen Grundkonsenses erwarten. Ersteres ist eine Grundbedingung pluralistischer Demokratie, Letzteres ein Erfahrungswert aus europäischen Wahlstudien.
In Tabelle 2 sind die beiden von den Parteien jeweils am häufigsten vorkommenden Themenbereiche und die drei insgesamt am häufigsten angesprochenen Themen für den gesamten Zeitraum von 1979 bis 1999 dargestellt. Auffallend sind zunächst vor allem die Übereinstimmungen bei den Themenschwerpunkten. Drei Parteien (SPD, CDU, FDP) behandeln überwiegend wirtschaftliche und außenpolitische Themen, für die CSU und die Grünen hat zumindest die Außenpolitik größtes Gewicht, für die Republikaner kommt die Wirtschaft immerhin an zweiter Stelle. Die kleinen Parteien zeigen im Vergleich zu den beiden großen Parteien ein eigenständigeres programmatisches Profil. Dies fällt bei den Republikanern (REP), der PDS und den Grünen etwas stärker auf als bei der CSU. Die FDP hingegen gleicht sich relativ stark den beiden Volksparteien an. Die Liberalen bedienen sich wie SPD und CDU der transnationalen Themen internationale Zusammenarbeit und Umweltschutz. Die Grünen nehmen sich, vor allem in ihren Europawahlprogrammen 1984 und 1989, neben dem Umweltschutz stärker der Frauen an. Die PDS (seit 1994) hebt Fragen der sozialen Gerechtigkeit hervor, und die Republikaner betonen klassisch rechts-konservative Themen wie Gesetz und Ordnung und politische Führung. Letztere rangieren auch in den Wahlprogrammen der CSU weit oben, doch u.a. durch die Betonung internationaler Kooperation grenzt sich die CSU von den Republikanern ab, was auch nachfolgend sichtbar wird (vgl. Tabelle 3). Die parteispezifischen Schwerpunkte sind aufgrund der unterschiedlichen Traditionen und der ursprünglich stärker ideologischen Ausrichtung höchst plausibel.
Ein Blick auf Verschiebungen anlässlich der Europawahl 1999 verdeutlicht, dass die Außenpolitik bei allen Parteien an Gewicht verliert, während der Themenbereich Wirtschaft bei SPD und Republikanern an Bedeutung gewinnt und sich bei der CSU und den Grünen mit jeweils 18 % der Inhalte gut behaupten kann. Für die Grünen wird der Bereich Wirtschaft 1999 zum wichtigsten, für die CSU zum zweitwichtigsten Themenbereich, nicht zuletzt da andere Themen inzwischen an Bedeutung verloren haben. Bei CDU und FDP rücken dagegen die Fragen des Politischen Systems nach vorne, bei der CDU mit 20 % auf den ersten, bei der FDP mit 19 % auf den zweiten Platz.
Richtet man das Augenmerk auf einzelne Themen, so verändert sich bei den linken Parteien sehr wenig. Das SPD-Wahlprogramm, das als gemeinsames Manifest der Partei Europäischer Sozialisten (PES) für Deutschland übernommen wurde,
Wie bei der FDP und traditionell bei der CSU spielte 1999 auch für die CDU ein expliziter politischer Führungsanspruch die wichtigste Rolle. Daneben werden von den Christdemokraten Menschenrechte thematisiert, die EU-Verfassung (4 %) befürwortet, aber auch die Notwendigkeit militärischer Stärke (4 %) relativ häufig angesprochen. Die Schwesterpartei CSU betont seit 1979 militärische Stärke (Durchschnittswert 1979 - 1999: 3 %), doch 1999 rücken drei andere Themen in den Vordergrund: eine intensive Beschäftigung mit der EU-Erweiterung (7%), Kritik am deutschen Finanzierungsbeitrag für die EU und die Unterstützung der Landwirtschaft. Insbesondere bei der CSU, aber auch bei den anderen bürgerlichen Parteien zeigt sich bereits hinsichtlich der thematischen Schwerpunkte eine intensivere Auseinandersetzung mit der (Politik der) Europäischen Union. Im Gegensatz zu den Republikanern, die 1999 die Finanzierung der EU ebenso wie Kompetenztransfers von der nationalen auf die EU-Ebene (7 %) und die Osterweiterung (6%) am deutlichsten ablehnten, erfolgt die Auseinandersetzung mit der EU in den Europawahlprogrammen der bürgerlichen Parteien jedoch ausgewogener.
Diese Einschätzung erfährt durch die in Tabelle 3 zusammengestellten, potenziell kontroversen Europa-Themen Unterstützung. Zwar sprechen die Republikaner am meisten über diese Themen (50 % aller inhaltlichen Aussagen), aber fast ausschließlich negativ (49 %); nur dem Europaparlament können sie noch ein wenig Positives abgewinnen. Die linken Parteien bis hin zur SPD behandeln die EU-Themen deutlich seltener (13 bis 22 % der Inhalte) und kritisieren kaum die EU. Die Unionsparteien und die FDP diskutieren die EU-Themen intensiver (25 bis 33 % der Inhalte) und kontroverser. Im Gegensatz zur FDP und zu den linken Parteien bereitet den Unionsparteien vor allem die Osterweiterung Sorge. Daneben findet sich in den Wahlprogrammen von CDU und CSU jeweils eine gehörige Portion Patriotismus (nationaler "Way of Life"). Darüber hinaus würdigen vor allem die CDU und die FDP einerseits die vertraglichen Grundlagen der Union bis hin zu einer möglichen EU-Verfassung, sie wehren sich andererseits jedoch gegen Kompetenztransfers von der nationalen auf die EU-Ebene.
Jedoch zeigen die Ergebnisse in Tabelle 3, dass es einen umfassenden Europakonsens der etablierten deutschen Parteien gibt und die positive Würdigung Europas in den Programmen überwiegt. Streit über Europa gibt es zwischen den Parteien vor allem in der Hinsicht, dass sie unterschiedliche Akzente setzen. Insbesondere die Linke hat hier allerdings Nachholbedarf: Eine Akzentsetzung oder gar Auseinandersetzung mit der Europapolitik findet in weitaus geringerem Maße statt als im bürgerlichen Lager.
Der politische Angebotsraum bei Europawahlen
Nach der Analyse thematischer Schwerpunkte und einzelner Themen, die neben der Politikwissenschaft vor allem Politikjournalisten und stark interessierte Bürger beschäftigen, lohnt sich ein summarischer Blick auf die programmatischen Angebote der Parteien anlässlich der Europawahlen. Eine übliche, wenn nicht die klassische Vorgehensweise ist die Verortung der Parteien entlang des Links-Rechts-Kontinuums.
Wie Abbildung 2 zeigt, lassen sich die Europawahlprogramme der Parteien auf der Links-Rechts-Dimension insgesamt gut verorten und befriedigend differenzieren. Die SPD stand zunächst (1979 - 1989) deutlich links und veränderte dann ihre Position zur Mitte hin. Die Grünen nahmen nur 1989 die Linksaußenposition ein - seit 1994 steht dort die PDS. Die FDP pendelt seit 1979 in der Mitte und hatte dort anfangs mit der CDU mächtige Konkurrenz. 1999 jedoch verlagerte die CDU ihre Position spürbar nach rechts zu ihrer Schwesterpartei, die 1999, nach zwischenzeitlichen Orientierungen zur Mitte hin, wieder ihre rechte Ausgangsposition des Jahres 1979 eingenommen hat. Die Republikaner nahmen 1989 auf der Links-Rechts-Dimension die ursprüngliche CSU-Position ein, wanderten 1994 nach Rechtsaußen, um sich 1999 zwischen CDU und CSU zu positionieren.
Werden auf der Links-Rechts-Dimension die Unterschiede zwischen den Parteien gut sichtbar - abgesehen von der durch SPD und CDU "eingekesselten" FDP -, zeigt sich für die Europa-Dimension ein recht undifferenziertes Bild. Mit Ausnahme der insbesondere 1999 und 1989 Europa ablehnenden REP besetzten die Parteien moderate, Europa bejahende Positionen. PDS und Grüne auf der Linken sowie die CSU auf der Rechten sind allenfalls etwas weniger proeuropäisch ausgerichtet als SPD, CDU und FDP. Zu diesen proeuropäischen Haltungen der etablierten Parteien gab es mit den Republikanern bisher nur eine, allerdings extrem europakritische und ideologisch rechts außen positionierte Alternative. Der europapolitische Raum wird von den Parteien unzureichend ausgeschöpft (Abbildung 2): Es wäre viel Platz für durchaus moderat-europakritische Parteien auf der Linken und vor allem in der Mitte.
Doch vielleicht ist das zuviel verlangt und wäre mitunter kontraproduktiv. Rückblickend gab es insbesondere für die politische Klasse der alten Bundesrepublik keine Alternative zu einem erfolgreichen europäischen Einigungsprozess - zu Zeiten der Teilung Deutschlands genauso wie während und in Folge des deutschen Einigungsprozesses. Die Europäische Union wird aufgrund ihrer Politikergebnisse (Output) gewürdigt, während die Möglichkeit einer Entwicklung hin zu einer parlamentarischen Demokratie (Input) häufig in Frage gestellt wird. Doch die EU hat durchaus die Chance, ein funktionstüchtiges demokratisches System zu werden. Vor allem müssen die Parteien den Bürgern auch bei Europawahlen unterschiedliche Lösungen für die wichtigen Probleme anbieten. Darüber hinaus wäre eine differenzierte Nutzung des europapolitischen Angebotsraumes durch die Parteien demokratieförderlich: Will man mehr oder weniger EU? Auf welchen Politikfeldern wünscht man sich mehr oder weniger Europa?
Kritiker meinen, dass gerade das Herunterspielen europäischer Konflikte den Erfolg der europäischen Einigung ermöglichte und eine intensivere europapolitische Auseinandersetzung nicht nur zwischen den Parteien zu heftigen Disputen führen, sondern auch innerparteiliche Turbulenzen verursachen und den europäischen Einigungsprozess selbst in Frage stellen würde.