Einleitung
Mit der Neuwahl des Europäischen Parlaments (EP) nach der bislang größten Erweiterung der Europäischen Union (EU) steht das Verfahren, wie diese nun 732 Mitglieder umfassende Versammlung gewählt wird, erneut zur Debatte. Nach wie vor ist das Wahlrecht zum EP im Wesentlichen national geregelt und damit nach Ländern unterschiedlich.
In kritischer Sicht werden beide Erscheinungen gerne als Legitimitätsmangel des EP begriffen und unter das Demokratiedefizit der EU subsumiert. In vergleichender, kontextorientierter Sicht nehmen sie sich weitaus weniger bedenklich aus. Um zu dieser relativierenden Bewertung zu gelangen, ist es notwendig, sich nicht nur darüber zu informieren, wie gewählt wird, sondern auch nach dem Warum zu fragen und sich der Schwierigkeiten und Kosten einer Vereinheitlichung des Wahlrechts zum EP bewusst zu werden.
Zu diesem Zwecke zeichnen wir einerseits den Entwicklungsprozess des EP in seinen wahlrechtlichen Grundlagen nach und die Versuche, ein uniformes Wahlsystem zu erarbeiten, andererseits analysieren wir das Wahlsystem zum EP in den einheitlichen und in den nach Ländern unterschiedlichen Strukturen. Der Vergleich mit anderen Wahlsystemen und die subjektive Perspektive der Wählerinnen und Wähler in der Handhabung des Wahlsystems lässt angesichts der Heterogenität der in der EU vereinten Gesellschaften eine durchaus positive Bewertung der demokratischen Entwicklung der EU zu, die sich auf die Bestellung des EP bezieht.
Die gemeinschaftlichen Rechtsgrundlagen
Die rechtlichen Grundlagen der Wahlen zum EP sind vielfältig. Zu berücksichtigen sind zum einen die Vorgaben aus den europäischen Verträgen, zum anderen die nationalen Bestimmungen der Mitgliedsländer. Hinsichtlich der gemeinschaftlichen Rechtsgrundlagen haben sich Reformdebatten und Reforminitiativen frühzeitig am Begriff des einheitlichen Verfahrens festgemacht. Unter Verfahren (procedure) kann verstanden werden, was in aller Regel mit Wahlrecht im umfassenden Sinne bezeichnet wird: einerseits Regelungen, die das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, betreffen sowie die Wahlorganisation, die Wahlbewerbung und die Wahlprüfung; andererseits das Wahlsystem, d.h., wie Wählerinnen und Wähler ihre politischen Präferenzen in Stimmen ausdrücken und diese in Mandate übertragen werden. Ein solches EU-weit einheitliches Verfahren für die Wahl des EP konnte bislang von Seiten der Gemeinschaft nicht vereinbart werden. Ebenso wenig vollzog sich eine Rechtsangleichung, die von den Mitgliedsländern selbst hätte ausgehen können.
Das heutige EP geht auf die Gemeinsame Versammlung der im April 1951 gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zurück. Ihre 78 Mitglieder galten als "Vertreter der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten" (Art. 21 [3] EGKS) und wurden von den Parlamenten der damals sechs Mitgliedsländer ernannt. Im Gründungsvertrag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1957 wurde die Versammlung damit beauftragt, "Entwürfe für allgemeine unmittelbare Wahlen nach einem einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten" auszuarbeiten (Art. 138 [3]). Der Rat sollte "einstimmig die entsprechenden Bestimmungen erlassen und sie den Mitgliedstaaten zur Annahme gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften empfehlen". Als Folge der dem EP zugewiesenen Initiativfunktion verabschiedete die Versammlung im Mai 1960 den "Entwurf eines Abkommens betreffend die Wahl des Europäischen Parlaments in allgemeiner unmittelbarer Wahl" und im Januar 1975 einen neuen Entwurf eines "Vertrages zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments". Erst jetzt, 20 Jahre nach dem Gründungsvertrag, nahm sich der Rat der Materie an und erließ im September 1976 den Rechtsakt über die Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen zum EP. In diesen Beschluss übernahm der Rat eine Reihe von Vorschlägen, die im Entwurf des EP enthalten waren, wie die Mandatsdauer von fünf Jahren (Art. 3), das freie Mandat (Art. 4) sowie die Vereinbarkeit von europäischem Mandat und nationalem Mandat (Doppelmandat, Art. 5). Er schloss sich auch dem Entwurf darin an, die Einführung eines einheitlichen Verfahrens, die vertragsgemäß zugleich mit der Direktwahl erfolgen sollte, auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben: "Bis zum Inkrafttreten eines einheitlichen Wahlverfahrens (...) bestimmt sich das Wahlverfahren in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften" (Art. 7 [2]). Die Zielsetzung eines einheitlichen Verfahrens blieb damit zwar aufrechterhalten, zugleich wurde der faktische Status quo legitimiert.
Daran hat sich im Grunde bis heute nichts geändert. Trotz aller gegenteiligen Absichtserklärungen verringerte sich die Aussicht auf Vereinbarung eines einheitlichen Verfahrens im ursprünglichen Sinne noch - zum einen dadurch, dass im Maastrichter Vertrag vom Februar 1992 die Hürde zur Verabschiedung eines einheitlichen Wahlrechts erhöht wurde,
Vergebliche Versuche der Vereinheitlichung
Den Diplomaten, welche die Gründungsverträge der EG aushandelten, ist möglicherweise nicht recht bewusst gewesen, welche höchst schwierige Aufgabe sie der Versammlung stellten, als sie ihr die Ausarbeitung eines einheitlichen Verfahrens vorschrieben. Am guten Willen des EP, ihr gerecht zu werden, hat es wahrlich nicht gemangelt. In sämtlichen Wahlperioden wurden Versuche unternommen, die vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen - ohne Erfolg. Besonders intensiv waren die Bemühungen, die sich im Kern stets auf das Wahlsystem bezogen, in den achtziger Jahren; damals wurden grob gesprochen zwei Ansätze verfolgt: erstens die Entwicklung von Leitvorstellungen, die ein einheitliches Verfahren verwirklichen sollten, und zweitens der Vorschlag konkreter einheitlicher Elemente eines EP-Wahlsystems. Die Leitvorstellungen, die der Politische Ausschuss des EP 1981 formulierte, lauteten: "(a) Das Wahlsystem muss so beschaffen sein, dass es im Interesse eines möglichst gleichen Stimmengewichts ein Höchstmaß an Einheitlichkeit gewährleistet. Gleichzeitig muss jedoch Raum bleiben für die Berücksichtigung nationaler Besonderheiten; (b) das Wahlsystem muss soweit wie möglich an erprobte und den Bürgern der jeweiligen Staaten vertraute Modelle anknüpfen und darf zentrale Wertvorstellungen des politischen Lebens der Mitgliedstaaten nicht außer acht lassen; (c) das Wahlsystem muss dazu beitragen, eine unmittelbare Beziehung zwischen Wählern und Gewählten herzustellen."
Wesentlich konsistenter war der Seitlinger-Entwurf, den das EP im März 1982 verabschiedete und dem Rat zur Beschlussfassung zuleitete. Er nannte konkrete einheitliche Elemente und enthielt als wichtigste Aussage, dass das EP nach Verhältniswahl zu wählen sei. Es wurden Mehrpersonenwahlkreise vorgesehen, die drei bis 15 Mandate umfassen sollten. Damit zeichnete sich ein einheitliches Wahlsystem in Form der Verhältniswahl in Wahlkreisen unterschiedlicher Größe ab - ein Wahlsystem, das unverändert in der Mehrzahl der Mitgliedstaaten für die Wahlen zu den nationalen Vertretungskörperschaften angewandt wird. Als einheitliches Verrechnungsverfahren wurde die Methode d'Hondt vorgeschlagen. Alle weiteren technischen Regelungen sollten den Ausführungsbestimmungen der einzelnen Mitgliedstaaten überlassen bleiben. Der integrationspolitisch sinnvolle und wahlsystematisch schlüssige Seitlinger-Entwurf wurde jedoch vom Rat im Februar 1983 verworfen.
Spätere Entwürfe pendelten zwischen normativen Leitlinien und konkreten Vorschlägen hin und her. Auch wurde versucht, vom Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland ausgehend einen "fairen Kompromiss zwischen einem Verhältniswahlsystem mit Listen und einer Persönlichkeitswahl mit Wahlkreisen"
Die Geschichte der Erfolglosigkeit des Bemühens, ein einheitliches Verfahren zur Wahl des EP zu etablieren, macht verständlich, warum in den Amsterdamer Vertrag die schon erwähnte Öffnung der vertraglichen Verpflichtungen zugunsten eines "Verfahrens im Einklang mit den allen Ländern gemeinsamen Grundsätzen" aufgenommen wurde. Wie wir später sehen werden, ist diese Alternative nahezu deckungsgleich mit dem erreichten Stand der Vereinheitlichung. Die institutionelle Unbeweglichkeit im Wahlrecht sollte auch davor warnen, allzu viel Integrationsentwicklung in Europa vom Wahlsystem und dessen Ausgestaltung abhängig zu machen. Den genialen Ideen
Das engere Wahlrecht
Eigentlich sollte man annehmen, dass im Bereich des engeren Wahlrechts, das im Gegensatz zum Wahlsystem mit seinen klassischen Grundsätzen allgemein, gleich, direkt und geheim eher universalistisch ist, sich leichter hätte Einheitlichkeit herstellen lassen. Weit gefehlt. Allgemein und direkt ist das Wahlrecht seit den ersten Direktwahlen 1979, geheim versteht sich von selbst, gleich ist es nicht und wird es auch nicht werden.
Das aktive Wahlrecht zum EP ist EU-weit relativ einheitlich geregelt. Es setzt mit 18 Jahren ein. Da es für die Unionsbürgerinnen und -bürger an die Wohnsitznahme gebunden ist, zählen jedoch auch die unterschiedlichen Residenzbestimmungen. Das passive Wahlrecht wird hingegen unterschiedlich gewährt. Das Wahlalter differiert zwischen 18 und 25 Jahren.
Größte Aufmerksamkeit ist stets dem Grundsatz der gleichen Wahl zuteil geworden. Er wurde und bleibt in den Verträgen durch die Mandatskontingentierung verletzt. Seit der ersten Versammlung besteht eine ungleiche Repräsentation der gemeinschaftsweiten Bevölkerung durch das nach Ländern unproportionale Verhältnis von Bevölkerungszahl und Mandatszahl zu Lasten der bevölkerungsreichsten Länder. Immer wieder ist aufgerechnet worden, wie ungleich sich die Stimmwirkung luxemburgischer zu der deutscher Wählerinnen und Wähler verhält.
Weitere Aspekte des Wahlrechts, etwa die rechtlichen Voraussetzungen der Wahlbewerbung, der Wahlkampf, die Parteien- und Wahlkampffinanzierung oder die Wahlprüfung, sind im Grunde nach Ländern unterschiedlich. Schauen wir nur mal auf die Wahlkampffinanzierung. Sämtliche Modelle sind vertreten: keine gesetzliche Regelung (Schweden), keine staatliche Finanzierung (Dänemark), Begrenzung der Wahlkampfausgaben (Belgien, Irland, Lettland, Malta etc.), Bereitstellung kostenloser Sendezeiten in den staatlichen Medien (Litauen, Österreich), laufende staatliche Finanzierung von Aufwendungen der Parteien (Estland), staatliche Wahlkampffinanzierung der EU-Wahlen (Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg etc.). Die jeweiligen Regelungen, mal diesem, mal jenem Modell folgend, aber auch gemischte Bestimmungen verschiedener Modelle, sind eng angelehnt an diejenigen Vorschriften, die für die Wahlen zu den nationalen Parlamenten bestehen. Es würde hier zu weit führen, die detailreichen Unterschiede im Einzelnen aufzuzeigen. Wie problematisch ist diese Vielfalt wahlrechtlicher Bestimmungen für ein supranationales Parlament? Tangiert sie die Legitimität des EP? Der Vergleich mit dem Bundesstaat USA vermag zur Beantwortung der Frage beizutragen. Bei den Wahlen zum US-amerikanischen Kongress gibt es kein bundeseinheitliches Wahlrecht. Die wahlrechtlichen Bestimmungen sind lokal, einzelstaatlich und bundesstaatlich normiert, wobei der Bund schließlich zu Beginn der sechziger Jahre im Zuge der Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts für Schwarze im Bereich des engeren Wahlrechts überhaupt erst dessen Grundsätze gesetzlich festschreiben konnte.
Die nationalen Wahlsysteme zum Europäischen Parlament
In den Mitgliedstaaten werden verschiedene Systeme der Verhältniswahl angewandt. In den meisten Ländern wird damit dem Repräsentationsprinzip entsprochen, das jeweils auch für die nationalen Parlamente gilt. Ausnahmen bilden Frankreich und Großbritannien. Frankreich wechselte bereits mit der ersten Direktwahl von der absoluten Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen, die für die Wahl der Nationalversammlung gilt, zur Verhältniswahl über. Großbritannien hingegen hielt bei den ersten Wahlen zum EP an der relativen Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen fest. Vor den Wahlen von 1999 ging das Land jedoch zur Verhältniswahl über, was insofern ein bedeutsamer Schritt war, als die relative Mehrheitswahl als britisches Wahlsystem gilt und befürchtet wurde, dessen Aufgabe würde den Wechsel auch des Wahlsystems zum Unterhaus nach sich ziehen. Seit den EP-Wahlen 1999 besteht EU-weite Einheitlichkeit im Repräsentationsprinzip. Sie wird auch nach der Erweiterung der EU auf 25 Mitglieder gewahrt, da alle Neumitglieder in Übereinstimmung mit den Wahlsystemen zu ihren nationalen Parlamenten ein System der Verhältniswahl einführten.
Die Unterschiede zwischen den Wahlsystemen liegen in der technischen Ausgestaltung der Verhältniswahlsysteme nach Wahlkreiseinteilung, Kandidaturform, Stimmgebung und Verrechnungsverfahren. Dabei wurde in den Ländern teils an jeweils nationale Traditionen angeknüpft,
Hinsichtlich der Wahlbewerbung und der Stimmgebung, die wir hier zusammenziehen, fällt für die EP-Wahlen die häufige Verwendung der lose gebundenen Liste auf. In nur sechs der 15 Länder
Was nun das Verrechnungsverfahren anbelangt, so werden in elf der 15 EU-Länder
Trotz aller Variationsvielfalt in den technischen Details der Wahlsysteme lässt sich feststellen, dass Verhältniswahlsysteme angewandt werden, die durchaus ähnliche Auswirkungen im Bereich der Relation von Stimmen und Mandaten erzielen. Am ehesten lassen sich in dieser Hinsicht Länder mit kleinen und mittelgroßen Wahlkreisen (etwa Irland und Malta) von denen mit großen Wahlkreisen (etwa Deutschland und Frankreich) unterscheiden. Aber der unterschiedliche Grad an Proportionalität von Stimmen und Mandaten lässt bekanntlich keinen Schluss auf die Struktur des Parteiensystems zu.
Nach reinem Proporz, in Deutschland gerne mit Verhältniswahl identifiziert, wird nirgends gewählt. Entweder lässt die Wahlkreiseinteilung oder die Sperrklausel eine exakte Entsprechung der Stimmen und Mandate nicht zu.
Eine pragmatische, partizipationsfreundliche Perspektive
An Wahlsysteme werden im Grunde fünf Funktionserwartungen gestellt: (1) Repräsentation im Sinne einer gewissen Widerspiegelung der politischen Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft, (2) Konzentration im Sinne der Willensbildung zugunsten der Förderung von Mehrheiten und der Verhinderung von Parteienzersplitterung, (3) Partizipation, verstanden als Auswahlchance nicht nur unter Parteien, sondern auch unter Kandidatinnen und Kandidaten, (4) Einfachheit und Verständlichkeit der Auswirkungen des Systems und (5) Legitimität, allgemeine Anerkennung des Wahlsystems. Wichtig ist es, zu beachten, dass die Kernfunktionen in einem gewissen trade-off-Verhältnis zueinander stehen.
Diese Entwicklung korrespondiert auch mit der Entlastung des Wahlsystems, die hinsichtlich der zweiten Funktion besteht. Das europäische politische System ist kein parlamentarisches System, auch wenn im Zuge der demokratietheoretisch eingeklagten Konstitutionalisierung des politischen Systems von Seiten des EP auf eine Parlamentarisierung gedrängt wird. Aus dem EP geht keine Regierung hervor. Die Konzentrationsfunktion, d.h. konkret die Mehrheitsbildung zwecks Bildung und Stabilisierung der Regierung, kann deshalb hintangestellt werden.
Die Partizipationsfunktion ist schwer zu erfüllen, da die Größe des Wahlkörpers und die in Grenzen zu haltende Mitgliederzahl des EP kein günstiges Verhältnis von Abgeordneten und Zahl der Wahlberechtigten zulassen. Die Wahlsysteme der einzelnen Länder sehen freilich in überraschend großer Zahl lose gebundene Listen vor. Wählerinnen und Wähler votieren demnach nicht nur für Parteien, sondern entscheiden sich auch für Kandidatinnen und Kandidaten.
Dem Kriterium der Einfachheit des Wahlsystems kann natürlich durch die Verschiedenheit der Wahlsysteme, mit denens die nationalen Vertreter zum EP gewählt werden, im Grunde nicht entsprochen werden. Jedoch ergeben sich für diesen Maßstab zwei Perspektiven: die top-down-Perspektive des Betrachters und die subjektive bottom-up-Perspektive der Wählerin und des Wählers. Der Gesamtbetrachter ist mit der fast unübersichtlichen Vielfalt der Verhältniswahl in den einzelnen Ländern konfrontiert. Er wird deshalb dazu neigen, das Wahlsystem zum EP als zu komplex zu empfinden. Die Wählerinnen und Wähler in den einzelnen Ländern haben es jeweils nur mit dem Wahlsystem zu tun, das für die Wahl der EP-Mitglieder aus ihrem Land gilt. Aus dieser Perspektive stellt sich die Frage anders, nämlich im Vergleich mit anderen Wahlsystemen, und eventuell gar nicht, weil das vorherrschende Wahlsystem einfach und bereits eingeübt ist. Zwar wird nirgends ein klassisches Wahlsystem angewandt,
Es lohnt sich also, die Perspektive der Bürgerinnen und Bürger einzunehmen und danach zu fragen, wofür die Unterschiedlichkeit der Wahlsysteme gut ist. Die Unterschiede ergeben sich aus dem Bemühen, den spezifischen Strukturen und Traditionen der Länder gerecht zu werden. Kann man es den Iren verdenken, wenn sie nicht auf ihr partizipationsfreundliches single tranferable vote-System verzichten wollen, das jedoch kein Modell für Deutschland oder Frankreich ist, da grundsätzlich die Auswirkungen von Wahlsystemen kontextabhängig sind, was ihre Bewertung und Angemessenheit beeinflusst. Natürlich sind in Wahlsystemfragen immer auch machtpolitische Gesichtspunkte im Spiel. Sie dürfen bei Versuchen, ein einheitlicheres Wahlsystem zu erarbeiten, erst recht nicht unberücksichtigt bleiben. Denn die Parteien in den Mitgliedsländern müssen letztendlich über die Empfehlung des Rats beschließen. Wofür die Unterschiedlichkeit des Wahlverfahrens steht, ist für den Integrationsprozess wichtiger als die beobachterinduzierte formale Einheitlichkeit.
Was demnach die Legitimitätsfunktion des Wahlsystems anbelangt, so ist deren Erfüllung auf Seiten der Beobachterinnen und Beobachter von der Einsicht in das Mögliche an Einheitlichkeit abhängig, und auf Seiten der nationalen Wählerinnen und Wähler von der Wertschätzung der nationalen Traditionen und der Rücksichtnahme auf landesspezifische Strukturen, die für das Wahlsystem zum EP insgesamt die bestehenden institutionellen Verschiedenheiten hervorrufen. Die Legitimität ist also beobachterabhängig. Die Infragestellung oder gar Verneinung der Legitimität eines nach verschiedenen Wahlsystemen bestellten EP ist nicht unbedingt ein Zeichen von intellektueller Brillanz, sondern von eher naiver Unbekümmertheit in Fragen des design von Institutionen in sehr heterogenen gesellschaftlichen Kontexten.
Häufig wird zudem von der EU als politischem Gebilde sui generis gesprochen. Dieser Sonderstatus muss gar nicht bemüht werden, um manche Überforderung an das europäische politische System im Werden zurückzuweisen. In etlichen europäischen Ländern wird zu den jeweiligen nationalen Parlamenten nach Wahlsystemen gewählt, die uneinheitliche Bedingungen des Wählens kennen. Sie betreffen häufig das für das Wahlergebnis wichtigste technische Element von Wahlsystemen, die Wahlkreisgröße. Die Schwankungsbreite kann bei Verhältniswahl in Mehrpersonenwahlkreisen zwischen drei und 35 Mandaten liegen. Ist verfassungsrechtlich vorgegeben, dass jeder Wahlkreis über eine feste Mindestanzahl an Mandaten verfügt (in Spanien sind es beispielsweise drei), kann sich eine erhebliche Differenz im Stimmgewicht der Bürger ergeben,
Die empirischen Erfahrungen mit Wahlsystemen belegen, dass für Wählerinnen und Wähler bei Wahlen zu nationalen Parlamenten große wahlsystembedingte Uneinheitlichkeiten auftreten können. Zwar wird dies mitunter moniert, meistens bleibt es aber bei diesem Befund. Kaum je wird ernsthaft die Legitimität der Wahlen, des Wahlergebnisses oder des zustande gekommenen Parlaments angezweifelt. Gelegentlich ist der Gesetzgeber gefragt, Reformen zu prüfen. In Spanien und Irland haben Reformen bislang keine Chance gehabt.
Man sollte folglich die Idee eines einheitlichen Wahlsystems für Europa nicht auf die Spitze treiben bzw. teutonisch-grundsätzlich verfolgen. Auch bringt die Defizitorientierung der Analysen keinen Gewinn. Stattdessen sollte pragmatisch geprüft werden, wie viel Einheitlichkeit erreicht wurde, wie viel hinreichend und erreichbar ist und wofür die bestehende Uneinheitlichkeit gut ist. Für diesen ressourcenorientierten Weg ist einerseits ein induktives Vorgehen ratsam, das die positiven Erfahrungen mit unterschiedlichen Wahlsystemen in Europa wertschätzt und mögliche weitere Vereinheitlichungen in den technischen Details heranreifen lässt, und andererseits ein Perspektivenwechsel zugunsten der Wählerinnen und Wähler, zugunsten deren historisch gewachsener Präferenzen für Einzelregelungen, die ihnen liegen bzw. ein mehr an Partizipation einräumen.
Polymorphe Verhältniswahl als europäisches Wahlsystem
Unter diesen Leitgesichtspunkten ist festzustellen, dass erstens unterschiedliche Traditionen politischer Repräsentation in den europäischen Ländern bestehen, die eng mit der jeweiligen Entwicklung der Demokratie zusammenhängen und die im europäischen Integrationsprozess nicht von oben unterbrochen, sondern für den Fortbestand eines pluralen Europas genutzt werden sollten. Zweitens ist festzustellen, dass die gesellschaftlichen und politischen Strukturen der europäischen Länder nicht unbedingt für vereinheitlichte institutionelle Strukturen, die man ihnen aufpfropft, empfänglich sind. Unter anderem müsste man gewärtigen, dass sie nicht überall die gleichen Auswirkungen haben würden, sondern positive in einem, negative in einem anderen Land. Es gilt deshalb, auf der Grundlage allgemein geteilter Prinzipien die nötige institutionelle Passform für die einzelnen Länder zu finden. Drittens hat sich in all den Versuchen, ein einheitliches Verfahren zu entwickeln, herausgestellt, dass die an ein solches Verfahren gestellten Anforderungen nicht unter einen Hut zu bringen sind und politisch auf der Ebene des Rats aus den genannten guten Gründen keinen Konsens finden, der nicht anders als in der Wahlgesetzgebung zu nationalen Parlamenten ein hohes Gut ist. Die Zeit scheint gekommen, in der Unterschiedlichkeit der nationalen Wahlsysteme zum EP kein demokratisches Defizit mehr zu sehen, sondern eine Ressource zur Stärkung des Einvernehmens im Grundsätzlichen unter Wahrung der Differenz im Gestalterischen. Für das europäische Wahlsystem kann gelten: So viel Einheitlichkeit wie möglich, so viel Unterschiedlichkeit wie nötig.
Unter dieser Maßgabe wählen die Bürgerinnen und Bürger der EU das EP nach polymorpher Verhältniswahl, d.h. nach national verschieden gestalteter Verhältniswahl. Die wichtigsten Merkmale dieses Wahlsystems sind einheitlich, andere sind national unterschiedlich gestaltet.
Einheitlich ist vor allem das Repräsentationsprinzip: Es gilt Verhältniswahl. Die politische Vertretung der Einzelstaaten im EP soll in etwa die parteipolitischen Präferenzen der Wählerschaft widerspiegeln. Dafür sprechen viele Gründe. Auf Verhältniswahl haben sich auch die bisherigen Reformvorschläge hin orientiert. Die Einheitlichkeit im Repräsentationsprinzip ist bisher am weitesten vorangeschritten. Auch Länder, deren nationale Parlamente nach Mehrheitswahl gewählt werden, haben für die Europawahlen die Verhältniswahl eingeführt. Besonders bemerkenswert ist, dass Großbritannien von der relativen Mehrheitswahl abgerückt ist. Als Großbritannien noch nach Mehrheitswahl wählte, hat sich auch gezeigt, wie dysfunktional die Mehrheitseffekte dieses Wahlsystems für das supranationale EP sind, wo es nicht nur um Repräsentation im Parlament, sondern auch in den Fraktionen der europäischen Parteien geht. Die zweitstärkste nationale Partei büßt bei Mehrheitswahl erheblich an Einfluss auf die Willensbildung in ihrer EP-Fraktion ein, die drittstärkste gänzlich. Das liegt weder im nationalen noch im europäischen Interesse.
Einheitlich ist des Weiteren der Mehrpersonenwahlkreis unterschiedlicher Größe. Auch dieser Wahlkreistyp wurde stets in den EP-Reformentwürfen vorgeschlagen. Die Einheitlichkeit liegt in der Abgrenzung gegenüber Einerwahlkreisen, nicht jedoch in der Gestaltung der Mehrpersonenwahlkreise, d.h. ihrer Größe und der Möglichkeit, das nationale Wahlgebiet in mehrere Mehrpersonenwahlkreise aufzuteilen.
Unterschiedlich sind alle weiteren technischen Merkmale. Für sie besteht volle Gestaltungsfreiheit der Länder, wobei sich angesichts der Vielzahl möglicher Alternativen die tatsächliche Varianz in Grenzen hält. Eine Richtgröße sind sicherlich die institutionellen Vorkehrungen zur Wahl der nationalen Parlamente. Wo den Wählerinnen und Wählern bereits viel Wahlfreiheit gewährt wurde, wird man für die EP-Wahlen nicht unter dieses erreichte Niveau gehen können. So ist es verständlich, dass Irland und Malta ihr single transferable vote-System nicht aufgeben wollen. In anderen Ländern, wo starre Listen bestehen, könnte befürchtet werden, dass eine Öffnung für die EP-Wahlen Druck auf das Wahlrecht zu den nationalen Parlamenten ausübt: Solange landesweite große Wahlkreise bestehen, wird man auch fragen können, ob nicht lose gebundene Listen zur Verwirrung der Wählerinnen und Wähler und zu vielen ungültigen Stimmen führen. Diese und andere Überlegungen verweisen darauf, dass das polymorphe Wahlsystem geeignet ist, den länderspezifischen Herausforderungen an das europäische Wahlsystem zu entsprechen. Es schließt zudem induktive Prozesse der Angleichung des EP-Wahlrechts nicht aus.
In diesem Sinne könnte der nächste Schritt der Vereinheitlichung in der Europäisierung des Wahlrechts zum EP bestehen, indem die nationalen Gesetzgeber den von ihnen auszugestaltenden Teil des Wahlsystems mit dem EP und dem Rat abstimmen. Dieses Verfahren würde zu mehr Begründungstransparenz der nationalen Unterschiedlichkeiten führen. Am Ende könnte der Rat den im induktiven Angleichungsprozess jeweils neuesten Stand der Wahlsystementwicklung in den Ländern in angemessenem zeitlichen Abstand zu den nächsten EP-Wahlen als gültiges Wahlsystem beschließen. Das polymorphe Wahlsystem ist seit der im Amsterdamer Vertrag vollzogenen Öffnung vertragskonform und bietet eine realistische Perspektive, die legitimationstheoretische Kontroverse um das einheitliche Verfahren zu beenden.