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Wie wählt Europa? Das polymorphe Wahlsystem zum Europäischen Parlament

Dieter Nohlen

/ 25 Minuten zu lesen

Am 13. Juni 2004 finden Europawahlen statt. Der Autor skizziert die Vielfalt der Wahlverfahren, die in den einzelnen Ländern für die Europawahl zur Anwendung kommen.

Einleitung

Mit der Neuwahl des Europäischen Parlaments (EP) nach der bislang größten Erweiterung der Europäischen Union (EU) steht das Verfahren, wie diese nun 732 Mitglieder umfassende Versammlung gewählt wird, erneut zur Debatte. Nach wie vor ist das Wahlrecht zum EP im Wesentlichen national geregelt und damit nach Ländern unterschiedlich. Nur einige Eckwerte wurden in den bisherigen Gemeinschaftsverträgen festgeschrieben, vor allem die Zahl der Mitglieder des EP und ihre Verteilung auf die Mitgliedsländer. Aber auch diese Mandatskontingentierung wird problematisiert, denn sie erfolgt unverändert nicht proportional nach dem Anteil, den die einzelnen Länder an der Gesamtbevölkerung stellen.


In kritischer Sicht werden beide Erscheinungen gerne als Legitimitätsmangel des EP begriffen und unter das Demokratiedefizit der EU subsumiert. In vergleichender, kontextorientierter Sicht nehmen sie sich weitaus weniger bedenklich aus. Um zu dieser relativierenden Bewertung zu gelangen, ist es notwendig, sich nicht nur darüber zu informieren, wie gewählt wird, sondern auch nach dem Warum zu fragen und sich der Schwierigkeiten und Kosten einer Vereinheitlichung des Wahlrechts zum EP bewusst zu werden.

Zu diesem Zwecke zeichnen wir einerseits den Entwicklungsprozess des EP in seinen wahlrechtlichen Grundlagen nach und die Versuche, ein uniformes Wahlsystem zu erarbeiten, andererseits analysieren wir das Wahlsystem zum EP in den einheitlichen und in den nach Ländern unterschiedlichen Strukturen. Der Vergleich mit anderen Wahlsystemen und die subjektive Perspektive der Wählerinnen und Wähler in der Handhabung des Wahlsystems lässt angesichts der Heterogenität der in der EU vereinten Gesellschaften eine durchaus positive Bewertung der demokratischen Entwicklung der EU zu, die sich auf die Bestellung des EP bezieht.

Die gemeinschaftlichen Rechtsgrundlagen

Die rechtlichen Grundlagen der Wahlen zum EP sind vielfältig. Zu berücksichtigen sind zum einen die Vorgaben aus den europäischen Verträgen, zum anderen die nationalen Bestimmungen der Mitgliedsländer. Hinsichtlich der gemeinschaftlichen Rechtsgrundlagen haben sich Reformdebatten und Reforminitiativen frühzeitig am Begriff des einheitlichen Verfahrens festgemacht. Unter Verfahren (procedure) kann verstanden werden, was in aller Regel mit Wahlrecht im umfassenden Sinne bezeichnet wird: einerseits Regelungen, die das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, betreffen sowie die Wahlorganisation, die Wahlbewerbung und die Wahlprüfung; andererseits das Wahlsystem, d.h., wie Wählerinnen und Wähler ihre politischen Präferenzen in Stimmen ausdrücken und diese in Mandate übertragen werden. Ein solches EU-weit einheitliches Verfahren für die Wahl des EP konnte bislang von Seiten der Gemeinschaft nicht vereinbart werden. Ebenso wenig vollzog sich eine Rechtsangleichung, die von den Mitgliedsländern selbst hätte ausgehen können.

Das heutige EP geht auf die Gemeinsame Versammlung der im April 1951 gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zurück. Ihre 78 Mitglieder galten als "Vertreter der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten" (Art. 21 [3] EGKS) und wurden von den Parlamenten der damals sechs Mitgliedsländer ernannt. Im Gründungsvertrag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1957 wurde die Versammlung damit beauftragt, "Entwürfe für allgemeine unmittelbare Wahlen nach einem einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten" auszuarbeiten (Art. 138 [3]). Der Rat sollte "einstimmig die entsprechenden Bestimmungen erlassen und sie den Mitgliedstaaten zur Annahme gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften empfehlen". Als Folge der dem EP zugewiesenen Initiativfunktion verabschiedete die Versammlung im Mai 1960 den "Entwurf eines Abkommens betreffend die Wahl des Europäischen Parlaments in allgemeiner unmittelbarer Wahl" und im Januar 1975 einen neuen Entwurf eines "Vertrages zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments". Erst jetzt, 20 Jahre nach dem Gründungsvertrag, nahm sich der Rat der Materie an und erließ im September 1976 den Rechtsakt über die Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen zum EP. In diesen Beschluss übernahm der Rat eine Reihe von Vorschlägen, die im Entwurf des EP enthalten waren, wie die Mandatsdauer von fünf Jahren (Art. 3), das freie Mandat (Art. 4) sowie die Vereinbarkeit von europäischem Mandat und nationalem Mandat (Doppelmandat, Art. 5). Er schloss sich auch dem Entwurf darin an, die Einführung eines einheitlichen Verfahrens, die vertragsgemäß zugleich mit der Direktwahl erfolgen sollte, auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben: "Bis zum Inkrafttreten eines einheitlichen Wahlverfahrens (...) bestimmt sich das Wahlverfahren in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften" (Art. 7 [2]). Die Zielsetzung eines einheitlichen Verfahrens blieb damit zwar aufrechterhalten, zugleich wurde der faktische Status quo legitimiert.

Daran hat sich im Grunde bis heute nichts geändert. Trotz aller gegenteiligen Absichtserklärungen verringerte sich die Aussicht auf Vereinbarung eines einheitlichen Verfahrens im ursprünglichen Sinne noch - zum einen dadurch, dass im Maastrichter Vertrag vom Februar 1992 die Hürde zur Verabschiedung eines einheitlichen Wahlrechts erhöht wurde, und zum anderen dadurch, dass der Amsterdamer Vertrag (in Art. 130 Abs. 4 EGV) eine alternative Lösung, nämlich ein Verfahren "im Einklang mit den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen", ermöglichte. Im Klartext heißt dies, dass damit die wahlrechtlichen nationalen Unterschiede außerhalb der Maxime der Vereinheitlichung bleiben. Die Option orientiert sich am faktischen Stand der Rechtsangleichung, von der freilich angenommen werden kann, dass sie im Zuge der Vertiefung der Integration weitere Fortschritte machen wird. Zu dieser Annahme berechtigt, dass im Amsterdamer Vertrag die Figur des Unionsbürgers geschaffen wurde. Ausländerinnen und Ausländern wird in allen Ländern der EU das Wahlrecht zum EP eingeräumt, wenn sie dort ihren Wohnsitz haben. Solche gemeinschaftsweiten Regelungen zwingen in gewisser Weise zur Vereinheitlichung des Wahlrechts im engeren Sinne. Eine richtungsähnliche Wirkung dürfte von der geplanten Europäischen Verfassung ausgehen, die in Art. 19 (2) das EP als "von den europäischen Bürgerinnen und Bürgern" gewählt sieht und das EP nicht mehr als eine Versammlung der Völker der Mitgliedstaaten der Union begreift. In den Verfassungsvertrag werden im Übrigen auch vier der fünf Wahlrechtsgrundsätze aufgenommen, nämlich das allgemeine, freie, direkte und geheime Wahlrecht, nicht aber das gleiche Wahlrecht: Die europäischen Bürgerinnen und Bürger im EP werden "degressiv proportional" vertreten, "mindestens jedoch mit vier Mitgliedern je Mitgliedstaat". Somit kann als allgemeine Tendenz begriffen werden, dass sich einerseits im Zuge der Vertiefung der Integration die Bedingungen für ein Mehr an Einheitlichkeit im Wahlrecht verbessern, andererseits jedoch die faktisch heterogenen Verhältnisse anerkannt bzw. festgeschrieben werden.

Vergebliche Versuche der Vereinheitlichung

Den Diplomaten, welche die Gründungsverträge der EG aushandelten, ist möglicherweise nicht recht bewusst gewesen, welche höchst schwierige Aufgabe sie der Versammlung stellten, als sie ihr die Ausarbeitung eines einheitlichen Verfahrens vorschrieben. Am guten Willen des EP, ihr gerecht zu werden, hat es wahrlich nicht gemangelt. In sämtlichen Wahlperioden wurden Versuche unternommen, die vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen - ohne Erfolg. Besonders intensiv waren die Bemühungen, die sich im Kern stets auf das Wahlsystem bezogen, in den achtziger Jahren; damals wurden grob gesprochen zwei Ansätze verfolgt: erstens die Entwicklung von Leitvorstellungen, die ein einheitliches Verfahren verwirklichen sollten, und zweitens der Vorschlag konkreter einheitlicher Elemente eines EP-Wahlsystems. Die Leitvorstellungen, die der Politische Ausschuss des EP 1981 formulierte, lauteten: "(a) Das Wahlsystem muss so beschaffen sein, dass es im Interesse eines möglichst gleichen Stimmengewichts ein Höchstmaß an Einheitlichkeit gewährleistet. Gleichzeitig muss jedoch Raum bleiben für die Berücksichtigung nationaler Besonderheiten; (b) das Wahlsystem muss soweit wie möglich an erprobte und den Bürgern der jeweiligen Staaten vertraute Modelle anknüpfen und darf zentrale Wertvorstellungen des politischen Lebens der Mitgliedstaaten nicht außer acht lassen; (c) das Wahlsystem muss dazu beitragen, eine unmittelbare Beziehung zwischen Wählern und Gewählten herzustellen." Diese Leitvorstellungen waren mehr dazu geeignet, die notwendige Unterschiedlichkeit der nationalen Wahlsysteme zum EP zu begründen als Hoffnung auf eine Kompromisslösung zu wecken. Die Einzelforderungen waren in keinem institutionellen design unterzubringen. Wie sollte angesichts der Verschiedenheit der nationalen Wahlsysteme an den Bürgerinnen und Bürgern vertraute Modelle mit der Zielsetzung angeknüpft werden können, ein einheitliches Wahlsystem zu schaffen? Zu diesem Zwecke hätte gerade von den traditionellen Wahlsystemen abgerückt werden müssen. Das ganze Dilemma der dann jahrzehntelangen Debatte wurde gleich im ersten Entwurf offenbar.

Wesentlich konsistenter war der Seitlinger-Entwurf, den das EP im März 1982 verabschiedete und dem Rat zur Beschlussfassung zuleitete. Er nannte konkrete einheitliche Elemente und enthielt als wichtigste Aussage, dass das EP nach Verhältniswahl zu wählen sei. Es wurden Mehrpersonenwahlkreise vorgesehen, die drei bis 15 Mandate umfassen sollten. Damit zeichnete sich ein einheitliches Wahlsystem in Form der Verhältniswahl in Wahlkreisen unterschiedlicher Größe ab - ein Wahlsystem, das unverändert in der Mehrzahl der Mitgliedstaaten für die Wahlen zu den nationalen Vertretungskörperschaften angewandt wird. Als einheitliches Verrechnungsverfahren wurde die Methode d'Hondt vorgeschlagen. Alle weiteren technischen Regelungen sollten den Ausführungsbestimmungen der einzelnen Mitgliedstaaten überlassen bleiben. Der integrationspolitisch sinnvolle und wahlsystematisch schlüssige Seitlinger-Entwurf wurde jedoch vom Rat im Februar 1983 verworfen.

Spätere Entwürfe pendelten zwischen normativen Leitlinien und konkreten Vorschlägen hin und her. Auch wurde versucht, vom Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland ausgehend einen "fairen Kompromiss zwischen einem Verhältniswahlsystem mit Listen und einer Persönlichkeitswahl mit Wahlkreisen" zu finden. Der entsprechende Entwurf kam über das EP nicht hinaus. Nach Maastricht wurde seitens des EP in der Entschließung vom März 1993 versucht, zumindest das Repräsentationsprinzip der Verhältniswahl für die EP-Wahlen durchzusetzen. Mit diesem Vorschlag erreicht(e) die Diskussion allerdings nach 40 Jahren wieder den Stand von 1953, als die Ad-hoc-Versammlung in kluger Bescheidenheit als Wahlsystem für die erstmalige Wahl der Versammlung in der E(W)G "Verhältniswahl nach nationalen Wahlgesetzen" vorgeschlagen hatte.

Die Geschichte der Erfolglosigkeit des Bemühens, ein einheitliches Verfahren zur Wahl des EP zu etablieren, macht verständlich, warum in den Amsterdamer Vertrag die schon erwähnte Öffnung der vertraglichen Verpflichtungen zugunsten eines "Verfahrens im Einklang mit den allen Ländern gemeinsamen Grundsätzen" aufgenommen wurde. Wie wir später sehen werden, ist diese Alternative nahezu deckungsgleich mit dem erreichten Stand der Vereinheitlichung. Die institutionelle Unbeweglichkeit im Wahlrecht sollte auch davor warnen, allzu viel Integrationsentwicklung in Europa vom Wahlsystem und dessen Ausgestaltung abhängig zu machen. Den genialen Ideen entsprechen nur geringe Realisierungschancen.

Das engere Wahlrecht

Eigentlich sollte man annehmen, dass im Bereich des engeren Wahlrechts, das im Gegensatz zum Wahlsystem mit seinen klassischen Grundsätzen allgemein, gleich, direkt und geheim eher universalistisch ist, sich leichter hätte Einheitlichkeit herstellen lassen. Weit gefehlt. Allgemein und direkt ist das Wahlrecht seit den ersten Direktwahlen 1979, geheim versteht sich von selbst, gleich ist es nicht und wird es auch nicht werden.

Das aktive Wahlrecht zum EP ist EU-weit relativ einheitlich geregelt. Es setzt mit 18 Jahren ein. Da es für die Unionsbürgerinnen und -bürger an die Wohnsitznahme gebunden ist, zählen jedoch auch die unterschiedlichen Residenzbestimmungen. Das passive Wahlrecht wird hingegen unterschiedlich gewährt. Das Wahlalter differiert zwischen 18 und 25 Jahren. Diese Unterschiede sind nicht groß problematisiert worden. Sie weisen aber darauf hin, dass selbst in rudimentären Fragen keine Einheitlichkeit erreicht wurde.

Größte Aufmerksamkeit ist stets dem Grundsatz der gleichen Wahl zuteil geworden. Er wurde und bleibt in den Verträgen durch die Mandatskontingentierung verletzt. Seit der ersten Versammlung besteht eine ungleiche Repräsentation der gemeinschaftsweiten Bevölkerung durch das nach Ländern unproportionale Verhältnis von Bevölkerungszahl und Mandatszahl zu Lasten der bevölkerungsreichsten Länder. Immer wieder ist aufgerechnet worden, wie ungleich sich die Stimmwirkung luxemburgischer zu der deutscher Wählerinnen und Wähler verhält. Was die empirische Auswirkung dieser Ungleichheit anbelangt, so ist zu Recht festgestellt worden, dass sie für die parteipolitische Zusammensetzung des EP stärker ist als jene, die von den unterschiedlichen Wahlsystemen ausgeht. Weitergehende demokratie- und integrationspolitische Folgen wurden vor allem nach Maastricht betont, als im Zuge fortschreitender Kompetenzübertragungen an die EU deren demokratische Qualität ins Blickfeld geriet. Winfried Steffani hinterfragte rigoros die demokratische Legitimation der EU und ihrer Entscheidungsorgane: "Solange sich der demokratische Gleichheitssatz bisher nur im Nationalstaat, nicht jedoch bei der Sitzverteilung im Europäischen Parlament verwirklichen lässt, bleibt die Rückkoppelung der Entscheidungsorgane der Europäischen Union an den demokratischen Nationalstaat deren wesentliche Legitimationsbasis. Das demokratisch gewählte Parlament jedes Mitgliedstaates wird so zum Hauptvermittler einer demokratischen Legitimation der politischen Entscheidungsprozesse der Europäischen Union." Er machte sich dabei die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in seiner Maastricht-Entscheidung vom 12. Oktober 1993 zu Eigen, das es als entscheidend angesehen hatte, "dass die demokratischen Grundlagen der Union Schritt haltend mit der Integration ausgebaut werden", da sonst "der Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der Europäischen Gemeinschaften vom demokratischen Prinzip her Grenzen gesetzt" seien. Diesen Bedenken in der Weise Rechnung zu tragen, dass zur Wahl des EP ein gleiches Wahlrecht eingeführt würde, ist jedoch illusorisch. Den kleinen Ländern ist eine Mindestrepräsentation zuzusichern, welche deren Parteienpluralismus wiedergeben kann. Den großen Ländern eine dementsprechende proportionale Repräsentation einräumen hieße, ein Parlament mit einer Mitgliederzahl zu schaffen, die alle vernünftigen Dimensionen sprengt. So sieht denn auch der Verfassungsvertrag kein gleiches Wahlrecht, sondern eine Mindestrepräsentation pro Land und die Zusammensetzung des EP nach "degressiver Proportionalität" vor - ein Begriff, der beschönigend die unvermeidliche Ungleichheit des Wahlrechts umschreibt.

Weitere Aspekte des Wahlrechts, etwa die rechtlichen Voraussetzungen der Wahlbewerbung, der Wahlkampf, die Parteien- und Wahlkampffinanzierung oder die Wahlprüfung, sind im Grunde nach Ländern unterschiedlich. Schauen wir nur mal auf die Wahlkampffinanzierung. Sämtliche Modelle sind vertreten: keine gesetzliche Regelung (Schweden), keine staatliche Finanzierung (Dänemark), Begrenzung der Wahlkampfausgaben (Belgien, Irland, Lettland, Malta etc.), Bereitstellung kostenloser Sendezeiten in den staatlichen Medien (Litauen, Österreich), laufende staatliche Finanzierung von Aufwendungen der Parteien (Estland), staatliche Wahlkampffinanzierung der EU-Wahlen (Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg etc.). Die jeweiligen Regelungen, mal diesem, mal jenem Modell folgend, aber auch gemischte Bestimmungen verschiedener Modelle, sind eng angelehnt an diejenigen Vorschriften, die für die Wahlen zu den nationalen Parlamenten bestehen. Es würde hier zu weit führen, die detailreichen Unterschiede im Einzelnen aufzuzeigen. Wie problematisch ist diese Vielfalt wahlrechtlicher Bestimmungen für ein supranationales Parlament? Tangiert sie die Legitimität des EP? Der Vergleich mit dem Bundesstaat USA vermag zur Beantwortung der Frage beizutragen. Bei den Wahlen zum US-amerikanischen Kongress gibt es kein bundeseinheitliches Wahlrecht. Die wahlrechtlichen Bestimmungen sind lokal, einzelstaatlich und bundesstaatlich normiert, wobei der Bund schließlich zu Beginn der sechziger Jahre im Zuge der Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts für Schwarze im Bereich des engeren Wahlrechts überhaupt erst dessen Grundsätze gesetzlich festschreiben konnte. Wer die Vielfalt wahlrechtlicher Bestimmungen für die EP-Wahlen legitimationstheoretisch für problematisch hält, müsste konsequenterweise auch die Legitimität des US-Kongresses anzweifeln.

Die nationalen Wahlsysteme zum Europäischen Parlament

In den Mitgliedstaaten werden verschiedene Systeme der Verhältniswahl angewandt. In den meisten Ländern wird damit dem Repräsentationsprinzip entsprochen, das jeweils auch für die nationalen Parlamente gilt. Ausnahmen bilden Frankreich und Großbritannien. Frankreich wechselte bereits mit der ersten Direktwahl von der absoluten Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen, die für die Wahl der Nationalversammlung gilt, zur Verhältniswahl über. Großbritannien hingegen hielt bei den ersten Wahlen zum EP an der relativen Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen fest. Vor den Wahlen von 1999 ging das Land jedoch zur Verhältniswahl über, was insofern ein bedeutsamer Schritt war, als die relative Mehrheitswahl als britisches Wahlsystem gilt und befürchtet wurde, dessen Aufgabe würde den Wechsel auch des Wahlsystems zum Unterhaus nach sich ziehen. Seit den EP-Wahlen 1999 besteht EU-weite Einheitlichkeit im Repräsentationsprinzip. Sie wird auch nach der Erweiterung der EU auf 25 Mitglieder gewahrt, da alle Neumitglieder in Übereinstimmung mit den Wahlsystemen zu ihren nationalen Parlamenten ein System der Verhältniswahl einführten.

Die Unterschiede zwischen den Wahlsystemen liegen in der technischen Ausgestaltung der Verhältniswahlsysteme nach Wahlkreiseinteilung, Kandidaturform, Stimmgebung und Verrechnungsverfahren. Dabei wurde in den Ländern teils an jeweils nationale Traditionen angeknüpft, teils entsprechend den Bedingungen variiert, welche sich durch die im Vergleich zu den nationalen Parlamenten geringere Zahl von Mandaten ergaben, teils auch mit Alternativen experimentiert, die für die nationalen Parlamente zu gewagt erschienen. Die Wahlsysteme zum EP sind seit 1999 unverändert geblieben. Von Reformdebatten ist nichts bekannt. In elf Ländern der EU-15 bildet das ganze Land einen Wahlkreis. Davon unbenommen können in Deutschland und in Finnland einzelne Parteien auf subnationalen Ebenen (Ländern oder Wahldistrikten) Listen präsentieren. Genau besehen müsste man Italien noch zur Gruppe der Länder mit einem landesweiten Wahlkreis zählen, denn es ist zwar in fünf Wahlkreise untergliedert, aber nur für Zwecke der Stimmgebung, die Mandate werden auch hier den Parteien auf nationaler Ebene nach Proporz zugeteilt. Nur Belgien (vier Wahlkreise), Großbritannien (elf Wahlkreise) und Irland (vier Wahlkreise) sind in Mehrpersonenwahlkreise eingeteilt, in denen tatsächlich die Mandatsverteilung stattfindet. Besonders in Belgien (mit Flandern, Wallonien, der deutschsprachigen Region und Brüssel), aber auch im Vereinigten Königreich (mit - neben England: neun Wahlkreise - Schottland, Wales und Nordirland) wurde bei der Wahlkreiseinteilung die regionale Differenzierung berücksichtigt. In den zehn Beitrittsländern wurde bis auf Polen (13 Wahlkreise) überall ein landesweiter Wahlkreis eingeführt.

Hinsichtlich der Wahlbewerbung und der Stimmgebung, die wir hier zusammenziehen, fällt für die EP-Wahlen die häufige Verwendung der lose gebundenen Liste auf. In nur sechs der 15 Länder ist die Liste starr und sind die Wählerinnen und Wähler an die Vorgaben der Parteien gebunden. In zwei Ländern (Irland und Luxemburg) und einer Region (Nordirland) sind die Listen sogar frei. In Luxemburg haben Wählerinnen und Wähler so viele Stimmen, wie Mandate zu vergeben sind, und sie können panaschieren. In Irland und Nordirland wird im System der übertragbaren Einzelstimmgebung (single transferable vote) von Wählerinnen und Wählern auf dem Stimmzettel per Nummerierung angegeben, in welcher Reihenfolge sie die Bewerberinnen und Bewerber gewählt sehen möchten. Auch in den Beitrittsländern herrscht - soweit bekannt - eine Tendenz zur Öffnung der Listen vor. Malta wendet das System der übertragbaren Einzelstimmgebung an, das auch für die Wahlen zum nationalen Parlament gilt. Die Slowakei und Slowenien haben sich für die lose gebundene Liste (Präferenzstimme) entschieden. Polen, Tschechien und Ungarn optierten für die starre Liste.

Was nun das Verrechnungsverfahren anbelangt, so werden in elf der 15 EU-Länder die Mandate nach der Methode d'Hondt vergeben. Dieses Verfahren hat sich langsam weiter ausgebreitet. Schweden wendet ebenfalls ein Höchstzahlverfahren, das nach St. Laguë, an; Irland und Italien haben ein Wahlzahlverfahren (Irland die Droop-STV-Quota und Italien das Verfahren Hare und den größten Mittelwert für die Restmandate) und die Bundesrepublik Deutschland schließlich das Hare-Niemeyer-Verfahren, welches die d'hondtsche Methode ablöste - ein schönes Beispiel für einen Gegentrend zur Vereinheitlichung bzw. dafür, wie wenig Rücksicht in den Mitgliedstaaten auf die Homogenisierung des Wahlrechts genommen wird. In den Beitrittsländern dominiert - soweit bekannt - ebenfalls die Methode d'Hondt (Estland, Polen, Ungarn). Das Wahlzahlverfahren nach Droop wird in der Slowakei, nach Droop-STV in Malta angewandt. Sperrklauseln bestehen in Deutschland und Frankreich von jeweils fünf Prozent, in Österreich und Schweden von jeweils vier Prozent und in Griechenland von drei Prozent. In den Beitrittsländern wurde in Polen, Litauen, der Slowakei, Tschechien und Ungarn eine Sperrklausel von fünf Prozent eingerichtet.

Trotz aller Variationsvielfalt in den technischen Details der Wahlsysteme lässt sich feststellen, dass Verhältniswahlsysteme angewandt werden, die durchaus ähnliche Auswirkungen im Bereich der Relation von Stimmen und Mandaten erzielen. Am ehesten lassen sich in dieser Hinsicht Länder mit kleinen und mittelgroßen Wahlkreisen (etwa Irland und Malta) von denen mit großen Wahlkreisen (etwa Deutschland und Frankreich) unterscheiden. Aber der unterschiedliche Grad an Proportionalität von Stimmen und Mandaten lässt bekanntlich keinen Schluss auf die Struktur des Parteiensystems zu.

Nach reinem Proporz, in Deutschland gerne mit Verhältniswahl identifiziert, wird nirgends gewählt. Entweder lässt die Wahlkreiseinteilung oder die Sperrklausel eine exakte Entsprechung der Stimmen und Mandate nicht zu.

Eine pragmatische, partizipationsfreundliche Perspektive

An Wahlsysteme werden im Grunde fünf Funktionserwartungen gestellt: (1) Repräsentation im Sinne einer gewissen Widerspiegelung der politischen Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft, (2) Konzentration im Sinne der Willensbildung zugunsten der Förderung von Mehrheiten und der Verhinderung von Parteienzersplitterung, (3) Partizipation, verstanden als Auswahlchance nicht nur unter Parteien, sondern auch unter Kandidatinnen und Kandidaten, (4) Einfachheit und Verständlichkeit der Auswirkungen des Systems und (5) Legitimität, allgemeine Anerkennung des Wahlsystems. Wichtig ist es, zu beachten, dass die Kernfunktionen in einem gewissen trade-off-Verhältnis zueinander stehen. Zur Wahl des EP hat die Repräsentationsfunktion Vorrang. Als allgemeine Regel kann gelten: Je heterogener die Struktur der zu repräsentierenden Wählerschaft, desto eher kommt von den beiden Repräsentationsprinzipien die Verhältniswahl in Betracht. Zudem hat für die im Auf- und Ausbau befindliche Union die Integration aller gesellschaftlichen und politischen Kräfte, die im Rahmen des Möglichen repräsentiert werden können, allererste Priorität. Deshalb ist es richtig, dass als Repräsentationsprinzip allgemein Verhältniswahl favorisiert wurde, und begrüßenswert, dass alle Mitgliedstaaten diese Option inzwischen verwirklicht haben.

Diese Entwicklung korrespondiert auch mit der Entlastung des Wahlsystems, die hinsichtlich der zweiten Funktion besteht. Das europäische politische System ist kein parlamentarisches System, auch wenn im Zuge der demokratietheoretisch eingeklagten Konstitutionalisierung des politischen Systems von Seiten des EP auf eine Parlamentarisierung gedrängt wird. Aus dem EP geht keine Regierung hervor. Die Konzentrationsfunktion, d.h. konkret die Mehrheitsbildung zwecks Bildung und Stabilisierung der Regierung, kann deshalb hintangestellt werden.

Die Partizipationsfunktion ist schwer zu erfüllen, da die Größe des Wahlkörpers und die in Grenzen zu haltende Mitgliederzahl des EP kein günstiges Verhältnis von Abgeordneten und Zahl der Wahlberechtigten zulassen. Die Wahlsysteme der einzelnen Länder sehen freilich in überraschend großer Zahl lose gebundene Listen vor. Wählerinnen und Wähler votieren demnach nicht nur für Parteien, sondern entscheiden sich auch für Kandidatinnen und Kandidaten.

Dem Kriterium der Einfachheit des Wahlsystems kann natürlich durch die Verschiedenheit der Wahlsysteme, mit denens die nationalen Vertreter zum EP gewählt werden, im Grunde nicht entsprochen werden. Jedoch ergeben sich für diesen Maßstab zwei Perspektiven: die top-down-Perspektive des Betrachters und die subjektive bottom-up-Perspektive der Wählerin und des Wählers. Der Gesamtbetrachter ist mit der fast unübersichtlichen Vielfalt der Verhältniswahl in den einzelnen Ländern konfrontiert. Er wird deshalb dazu neigen, das Wahlsystem zum EP als zu komplex zu empfinden. Die Wählerinnen und Wähler in den einzelnen Ländern haben es jeweils nur mit dem Wahlsystem zu tun, das für die Wahl der EP-Mitglieder aus ihrem Land gilt. Aus dieser Perspektive stellt sich die Frage anders, nämlich im Vergleich mit anderen Wahlsystemen, und eventuell gar nicht, weil das vorherrschende Wahlsystem einfach und bereits eingeübt ist. Zwar wird nirgends ein klassisches Wahlsystem angewandt, das bekanntlich ganz einfach zu verstehen und zu handhaben ist, dessen unmittelbare Auswirkungen man auch leicht voraussehen kann. Aber dort, wo die Wahlsysteme komplizierter scheinen (wie im Falle des single transferable vote), liegt die Schwierigkeit, das Wahlsystem zu verstehen, weniger bei denen, die danach wählen, als vielmehr bei denen, die danach noch nie gewählt haben. Für die Iren ist es das traditionelle Wahlsystem. In anderen Fällen wurden die Wahlsysteme zum EP gegenüber den Systemen, die zur Wahl der jeweiligen nationalen Vertretungen angewandt werden, eher vereinfacht, wie beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland, in Spanien und Portugal. Komplizierter wurden sie dort, wo den Wählerinnen und Wählern die Freiheit eingeräumt wurde, nicht nur zwischen Parteien, sondern auch zwischen Kandidatinnen und Kandidaten zu entscheiden. Am kompliziertesten erscheint das Wahlsystem freier Liste Luxemburgs, wenn man außer Acht lässt, dass hier nur sechs EP-Mitglieder zu wählen sind, also für die Wählerinnen und Wähler sich die Entscheidungssituation durchaus übersichtlich darstellt.

Es lohnt sich also, die Perspektive der Bürgerinnen und Bürger einzunehmen und danach zu fragen, wofür die Unterschiedlichkeit der Wahlsysteme gut ist. Die Unterschiede ergeben sich aus dem Bemühen, den spezifischen Strukturen und Traditionen der Länder gerecht zu werden. Kann man es den Iren verdenken, wenn sie nicht auf ihr partizipationsfreundliches single tranferable vote-System verzichten wollen, das jedoch kein Modell für Deutschland oder Frankreich ist, da grundsätzlich die Auswirkungen von Wahlsystemen kontextabhängig sind, was ihre Bewertung und Angemessenheit beeinflusst. Natürlich sind in Wahlsystemfragen immer auch machtpolitische Gesichtspunkte im Spiel. Sie dürfen bei Versuchen, ein einheitlicheres Wahlsystem zu erarbeiten, erst recht nicht unberücksichtigt bleiben. Denn die Parteien in den Mitgliedsländern müssen letztendlich über die Empfehlung des Rats beschließen. Wofür die Unterschiedlichkeit des Wahlverfahrens steht, ist für den Integrationsprozess wichtiger als die beobachterinduzierte formale Einheitlichkeit.

Was demnach die Legitimitätsfunktion des Wahlsystems anbelangt, so ist deren Erfüllung auf Seiten der Beobachterinnen und Beobachter von der Einsicht in das Mögliche an Einheitlichkeit abhängig, und auf Seiten der nationalen Wählerinnen und Wähler von der Wertschätzung der nationalen Traditionen und der Rücksichtnahme auf landesspezifische Strukturen, die für das Wahlsystem zum EP insgesamt die bestehenden institutionellen Verschiedenheiten hervorrufen. Die Legitimität ist also beobachterabhängig. Die Infragestellung oder gar Verneinung der Legitimität eines nach verschiedenen Wahlsystemen bestellten EP ist nicht unbedingt ein Zeichen von intellektueller Brillanz, sondern von eher naiver Unbekümmertheit in Fragen des design von Institutionen in sehr heterogenen gesellschaftlichen Kontexten.

Häufig wird zudem von der EU als politischem Gebilde sui generis gesprochen. Dieser Sonderstatus muss gar nicht bemüht werden, um manche Überforderung an das europäische politische System im Werden zurückzuweisen. In etlichen europäischen Ländern wird zu den jeweiligen nationalen Parlamenten nach Wahlsystemen gewählt, die uneinheitliche Bedingungen des Wählens kennen. Sie betreffen häufig das für das Wahlergebnis wichtigste technische Element von Wahlsystemen, die Wahlkreisgröße. Die Schwankungsbreite kann bei Verhältniswahl in Mehrpersonenwahlkreisen zwischen drei und 35 Mandaten liegen. Ist verfassungsrechtlich vorgegeben, dass jeder Wahlkreis über eine feste Mindestanzahl an Mandaten verfügt (in Spanien sind es beispielsweise drei), kann sich eine erhebliche Differenz im Stimmgewicht der Bürger ergeben, so dass von einem gleichen Wahlrecht (im Sinne eines gleichen Zählwerts der Stimmen) keine Rede mehr sein kann. Für die Wählerinnen und Wähler bestehen des Weiteren je nach Wahlkreisgröße erhebliche Unterschiede in der Chance, eine nützliche Stimme abzugeben, d.h. eine Stimme, die bei der Vergabe der Mandate zählt. Die Wählerinnen und Wähler stehen also in einem als einheitlich begriffenen Wahlsystem aufgrund des nach Wahlkreisgrößen ungleichen Erfolgswerts der Stimmen vor höchst unterschiedlichen Entscheidungssituationen. Studien belegen, dass sie sich wahltaktisch verhalten und in kleinen Wahlkreisen eher größere Parteien wählen. Selbst dort, wo alle Wahlkreise klein sind (drei bis fünf Mandate), ergeben sich enorme Differenzen in der Entscheidungssituation, insofern als die gerade und ungerade Zahl von Mandaten in den Wahlkreisen das Wahlergebnis entscheidend mitbestimmt.

Die empirischen Erfahrungen mit Wahlsystemen belegen, dass für Wählerinnen und Wähler bei Wahlen zu nationalen Parlamenten große wahlsystembedingte Uneinheitlichkeiten auftreten können. Zwar wird dies mitunter moniert, meistens bleibt es aber bei diesem Befund. Kaum je wird ernsthaft die Legitimität der Wahlen, des Wahlergebnisses oder des zustande gekommenen Parlaments angezweifelt. Gelegentlich ist der Gesetzgeber gefragt, Reformen zu prüfen. In Spanien und Irland haben Reformen bislang keine Chance gehabt.

Man sollte folglich die Idee eines einheitlichen Wahlsystems für Europa nicht auf die Spitze treiben bzw. teutonisch-grundsätzlich verfolgen. Auch bringt die Defizitorientierung der Analysen keinen Gewinn. Stattdessen sollte pragmatisch geprüft werden, wie viel Einheitlichkeit erreicht wurde, wie viel hinreichend und erreichbar ist und wofür die bestehende Uneinheitlichkeit gut ist. Für diesen ressourcenorientierten Weg ist einerseits ein induktives Vorgehen ratsam, das die positiven Erfahrungen mit unterschiedlichen Wahlsystemen in Europa wertschätzt und mögliche weitere Vereinheitlichungen in den technischen Details heranreifen lässt, und andererseits ein Perspektivenwechsel zugunsten der Wählerinnen und Wähler, zugunsten deren historisch gewachsener Präferenzen für Einzelregelungen, die ihnen liegen bzw. ein mehr an Partizipation einräumen.

Polymorphe Verhältniswahl als europäisches Wahlsystem

Unter diesen Leitgesichtspunkten ist festzustellen, dass erstens unterschiedliche Traditionen politischer Repräsentation in den europäischen Ländern bestehen, die eng mit der jeweiligen Entwicklung der Demokratie zusammenhängen und die im europäischen Integrationsprozess nicht von oben unterbrochen, sondern für den Fortbestand eines pluralen Europas genutzt werden sollten. Zweitens ist festzustellen, dass die gesellschaftlichen und politischen Strukturen der europäischen Länder nicht unbedingt für vereinheitlichte institutionelle Strukturen, die man ihnen aufpfropft, empfänglich sind. Unter anderem müsste man gewärtigen, dass sie nicht überall die gleichen Auswirkungen haben würden, sondern positive in einem, negative in einem anderen Land. Es gilt deshalb, auf der Grundlage allgemein geteilter Prinzipien die nötige institutionelle Passform für die einzelnen Länder zu finden. Drittens hat sich in all den Versuchen, ein einheitliches Verfahren zu entwickeln, herausgestellt, dass die an ein solches Verfahren gestellten Anforderungen nicht unter einen Hut zu bringen sind und politisch auf der Ebene des Rats aus den genannten guten Gründen keinen Konsens finden, der nicht anders als in der Wahlgesetzgebung zu nationalen Parlamenten ein hohes Gut ist. Die Zeit scheint gekommen, in der Unterschiedlichkeit der nationalen Wahlsysteme zum EP kein demokratisches Defizit mehr zu sehen, sondern eine Ressource zur Stärkung des Einvernehmens im Grundsätzlichen unter Wahrung der Differenz im Gestalterischen. Für das europäische Wahlsystem kann gelten: So viel Einheitlichkeit wie möglich, so viel Unterschiedlichkeit wie nötig.

Unter dieser Maßgabe wählen die Bürgerinnen und Bürger der EU das EP nach polymorpher Verhältniswahl, d.h. nach national verschieden gestalteter Verhältniswahl. Die wichtigsten Merkmale dieses Wahlsystems sind einheitlich, andere sind national unterschiedlich gestaltet.

Einheitlich ist vor allem das Repräsentationsprinzip: Es gilt Verhältniswahl. Die politische Vertretung der Einzelstaaten im EP soll in etwa die parteipolitischen Präferenzen der Wählerschaft widerspiegeln. Dafür sprechen viele Gründe. Auf Verhältniswahl haben sich auch die bisherigen Reformvorschläge hin orientiert. Die Einheitlichkeit im Repräsentationsprinzip ist bisher am weitesten vorangeschritten. Auch Länder, deren nationale Parlamente nach Mehrheitswahl gewählt werden, haben für die Europawahlen die Verhältniswahl eingeführt. Besonders bemerkenswert ist, dass Großbritannien von der relativen Mehrheitswahl abgerückt ist. Als Großbritannien noch nach Mehrheitswahl wählte, hat sich auch gezeigt, wie dysfunktional die Mehrheitseffekte dieses Wahlsystems für das supranationale EP sind, wo es nicht nur um Repräsentation im Parlament, sondern auch in den Fraktionen der europäischen Parteien geht. Die zweitstärkste nationale Partei büßt bei Mehrheitswahl erheblich an Einfluss auf die Willensbildung in ihrer EP-Fraktion ein, die drittstärkste gänzlich. Das liegt weder im nationalen noch im europäischen Interesse.

Einheitlich ist des Weiteren der Mehrpersonenwahlkreis unterschiedlicher Größe. Auch dieser Wahlkreistyp wurde stets in den EP-Reformentwürfen vorgeschlagen. Die Einheitlichkeit liegt in der Abgrenzung gegenüber Einerwahlkreisen, nicht jedoch in der Gestaltung der Mehrpersonenwahlkreise, d.h. ihrer Größe und der Möglichkeit, das nationale Wahlgebiet in mehrere Mehrpersonenwahlkreise aufzuteilen. Im Grunde geht es darum, den Proporzeffekt des Wahlsystems zu begrenzen und damit eine Parteienzersplitterung zu vermeiden, d.h. der Konzentrationsfunktion in gewisser Weise zu genügen. Da diesem Zweck auch die Sperrklauseln dienen, können diese künstlichen Hürden die Unterteilung eines nationalen Wahlgebiets in Wahlkreise in den Ländern ersetzen, in denen in einem einzigen landesweiten Wahlkreis die Mandate vergeben werden. Das ist in Deutschland, Frankreich, Griechenland und Schweden sowie in allen Beitrittsländern der Fall, die mehr als zehn Parlamentarierinnen und Parlamentarier ins EP entsenden. Durch funktionale Äquivalenz entsteht mehr Einheitlichkeit, als es der Blick auf die institutionelle Gestaltung verrät. In Spanien allerdings wurde weder das Land in Wahlkreise eingeteilt noch eine Sperrklausel errichtet. Die gesamtspanischen Parteien befürchten, dass regionale Wahlkreise von den regionalen Parteien, deren nationalistischer (teilweise separatistischer) Impetus ungebrochen ist, im EP zur Vertretung ihrer "nacionalidades" missbraucht würden. Eine Sperrklausel ist aber ebenso wenig angebracht, da die regionalen Parteien dann keine Chance hätten, ein Mandat zu erringen. Hier weist der Kontext nur einen geringen Anpassungsspielraum an europäische Vorgaben aus, die jüngst in die Richtung weisen, der regionalen Repräsentation durch die Unterteilung der nationalen Wahlgebiete in Mehrpersonenwahlkreise entgegenzukommen.

Unterschiedlich sind alle weiteren technischen Merkmale. Für sie besteht volle Gestaltungsfreiheit der Länder, wobei sich angesichts der Vielzahl möglicher Alternativen die tatsächliche Varianz in Grenzen hält. Eine Richtgröße sind sicherlich die institutionellen Vorkehrungen zur Wahl der nationalen Parlamente. Wo den Wählerinnen und Wählern bereits viel Wahlfreiheit gewährt wurde, wird man für die EP-Wahlen nicht unter dieses erreichte Niveau gehen können. So ist es verständlich, dass Irland und Malta ihr single transferable vote-System nicht aufgeben wollen. In anderen Ländern, wo starre Listen bestehen, könnte befürchtet werden, dass eine Öffnung für die EP-Wahlen Druck auf das Wahlrecht zu den nationalen Parlamenten ausübt: Solange landesweite große Wahlkreise bestehen, wird man auch fragen können, ob nicht lose gebundene Listen zur Verwirrung der Wählerinnen und Wähler und zu vielen ungültigen Stimmen führen. Diese und andere Überlegungen verweisen darauf, dass das polymorphe Wahlsystem geeignet ist, den länderspezifischen Herausforderungen an das europäische Wahlsystem zu entsprechen. Es schließt zudem induktive Prozesse der Angleichung des EP-Wahlrechts nicht aus.

In diesem Sinne könnte der nächste Schritt der Vereinheitlichung in der Europäisierung des Wahlrechts zum EP bestehen, indem die nationalen Gesetzgeber den von ihnen auszugestaltenden Teil des Wahlsystems mit dem EP und dem Rat abstimmen. Dieses Verfahren würde zu mehr Begründungstransparenz der nationalen Unterschiedlichkeiten führen. Am Ende könnte der Rat den im induktiven Angleichungsprozess jeweils neuesten Stand der Wahlsystementwicklung in den Ländern in angemessenem zeitlichen Abstand zu den nächsten EP-Wahlen als gültiges Wahlsystem beschließen. Das polymorphe Wahlsystem ist seit der im Amsterdamer Vertrag vollzogenen Öffnung vertragskonform und bietet eine realistische Perspektive, die legitimationstheoretische Kontroverse um das einheitliche Verfahren zu beenden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für Informationen zu den nationalen Wahlsystemen zum EP danke ich herzlich Pedro Almeida/Lissabon, Mario Caciagli/Florenz, Jorgen Elklit/Kopenhagen, Carlos Flores/Valencia, Hubai Lázió/Budapest, Klaus Poier/Graz, Artis Pabriks/Valmiera, Rainer-Olaf Schultze/Augsburg, Josep María Vallés/Barcelona und Klaus Ziemer/Warschau.

  2. In Artikel 138 (3) des EWG-Vertrags wurde hinzugefügt, dass der vom Rat zu verabschiedende Entwurf die Zustimmung des Europäischen Parlaments mit der Mehrheit seiner Mitglieder voraussetze.

  3. EP, Sitzungsdokumente 1981/82, Dok. 1988/ 81/B+C, S. 4.

  4. Reinhold Bocklet, in: Europäische Zeitung, Nr. 4 vom April 1987, S. 2.

  5. Vgl. Christofer Lenz, Ein einheitliches Verfahren für die Wahl des Europäischen Parlaments, Baden-Baden 1995, S. 23.

  6. Vgl. Philippe C. Schmitter, How to Democratize the European Union ... and Why Bother?, Lanham 2000; Sebastian Wolf, Ein Vorschlag zur Beseitigung von Repräsentations- und Legitimationsdefiziten in Rat und Europäischen Parlament, in: PVS, 41 ( ) 4, S. 730 - 741.

  7. 18 Jahre: Dänemark, Deutschland, Finnland, Malta, Niederlande, Schweden, Slowenien, Spanien; 19 Jahre: Österreich, Portugal; 21 Jahre: Belgien, Griechenland, Großbritannien, Irland, Lettland, Litauen, Luxemburg, Polen, Slowakei, Tschechien; 23 Jahre: Frankreich; 25 Jahre: Italien.

  8. Bei den Wahlen von 1994 entfiel in Luxemburg ein Abgeordneter auf 37 338 Wähler, in Deutschland einer auf 610 848 Wähler.

  9. Vgl. Chr. Lenz (Anm. 5), S. 38.

  10. Winfried Steffani, Das Demokratie-Dilemma der Europäischen Union, in: ders./Uwe Thaysen (Hrsg.), Demokratie in Europa: Zur Rolle der Parlamente, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), Sonderband, Opladen 1995, S. 41.

  11. Bundesverfassungsgericht, Leitsätze zum Urteil des Zweiten Senats vom 12. Oktober 1993, BVerfGE 89, 155 (156).

  12. Vgl. Dieter Nohlen, Wahlsysteme der Welt, München 1978, S. 110 - 130; Ralf Lindner/Rainer-Olaf Schultze, United States, in: Dieter Nohlen (Hrsg.), Elections in the Americas, Oxford (i.E.).

  13. Der eindeutigste Fall ist Irland, das praktisch das Wahlsystem zum nationalen Dail in kleinem Maßstab auf die EP-Wahlen übertrug.

  14. Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal, Schweden und Spanien.

  15. Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Portugal und Spanien.

  16. Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal und Spanien.

  17. Vgl. Douglas W. Rae, The Political Consequences of Electoral Laws, New Haven 1967; Arend Lijphart, Electoral Systems and Party Systems, Oxford 1994; Dieter Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, Opladen 20044.

  18. Vgl. dazu ausführlich D. Nohlen, ebd., S. 155ff.

  19. Als klassische Wahlsysteme gelten die relative Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen, die absolute Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen und die reine Verhältniswahl.

  20. In Spanien entfällt im Wahlkreis Soria ein Mandat auf 20 000 Wahlberechtigte, in Barcelona auf 150 000 Wahlberechtigte.

  21. In Spanien liegt die geringste Sperrklauselwirkung in großen Wahlkreisen bei etwa drei Prozent, in kleinen Wahlkreisen bei über 15 Prozent.

  22. In Irland beispielsweise ist in den Dreierwahlkeisen die stimmenstärkste Partei eher im Vorteil (Zwei-zu-eins-Ergebnis), in den Viererwahlkreisen eher im Nachteil (Zwei-zu-zwei-, oder Zwei-zu-eins-zu-eins-Ergebnis.

  23. Zu denken ist auch an Wahlkreise nur für die Kandidatur, während die Mandate proportional auf nationaler Ebene vergeben werden wie in Italien und in Deutschland.

  24. Hier setzte sich die damalige Parlamentsmehrheit der Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE) mit einem einzigen gesamtspanischen Wahlkreis durch. Die Parlamente der traditionsreichen autonomen Regionen (Katalonien, Galizien, Baskenland) hatten sich für regionale Wahlkreise ausgesprochen. Nach wie vor schwelt der Konflikt.

Dr. phil., geb. 1939; Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg.
Anschrift: Institut für Politische Wissenschaft, Marstallstr. 6, 69117 Heidelberg (www.nohlen.uni-hd.de).
E-Mail: E-Mail Link: dieter.nohlen@urz.uni-heidelberg.de

Veröffentlichungen u.a.: Wahlrecht und Parteiensystem, Opladen 20044; (Mithrsg.) Lexikon der Politikwissenschaft, 2Bde., München 20042.