Einführung der vier Grundfreiheiten
Das Regelsystem einer europäischen Wirtschaftsverfassung wurde durch den Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1957 begründet und danach in der Einheitlichen Europäischen Akte 1986, in den Verträgen von Maastricht 1992, Amsterdam 1997 und Nizza 2001 über die Europäische Union und in Urteilen des Europäischen Gerichtshofs weiterentwickelt. Es beinhaltet die grundlegenden Entscheidungen über die Gestaltung der Wirtschaftsordnung und über die Steuerung des Wirtschaftsprozesses im Integrationsraum. Die Regeln setzen den rechtlich-institutionellen Rahmen für die Ordnung des Wirtschaftslebens; sie beeinflussen das Verhalten der privaten und politischen Akteure in den Mitgliedstaaten sowie in der Gemeinschaft und deren Institutionen und Organe im Hinblick auf die Entwicklung des Binnenmarktes und der Wirtschafts- und Währungsunion.
Die Wirtschaftsverfassung für Europa beruht sowohl auf dem Konzept der Integration der Märkte als auch auf dem Prinzip der Integration der Politik. Entsprechend der Methode der funktionellen Integration sind Wirtschaftsverfassungsregeln gesetzt worden, um nach den Grundprinzipien Freiheit und Gleichheit die freie, privatwirtschaftliche Betätigung in einer wettbewerbsgesteuerten europäischen Marktwirtschaft zu ermöglichen und so den Binnenmarkt zu schaffen. Nach dem Ansatz der politikgesteuerten Integration kam es zu Regelungen, um für alle Politikbereiche jeweils die Verantwortung und Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten zu ordnen und Politikinstrumente zu institutionalisieren. Im Folgenden wird dargelegt, wie die in den europäischen Verträgen entwickelten Wirtschaftsverfassungsregeln die Wirtschaftsordnung und die Steuerung des Wirtschaftsprozesses in der Gemeinschaft bestimmen.
Ein konstitutives Merkmal der Europäischen Union ist die Institutionalisierung des Markt- und Wettbewerbsprinzips. In der Europäischen Gemeinschaft als einem der drei Pfeiler der EU wurde ein Regelsystem geschaffen, das als konstitutive Elemente erstens die Gewährung bestimmter wirtschaftlicher Grundfreiheiten und zweitens die Schaffung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs enthält. Die marktwirtschaftliche, wettbewerbliche Orientierung ist seit dem EWG-Vertrag grundlegend für die Integration, auch wenn für die Organisation der Agrarmärkte nicht gemeinsame Wettbewerbsregeln, sondern europäische Marktordnungen ausgewählt wurden und die Agrarpolitik protektionistisch ausgerichtet blieb.
Die europäischen Verträge garantieren vier wirtschaftliche Grundfreiheiten im Binnenmarkt (Art. 23 bis 31 und 39 bis 60 EGV):
Um die Grundfreiheiten im Binnenmarkt seitens der Wirtschaftsteilnehmer effektiv nutzbar zu machen, wurde eine ganze Reihe von Rahmenbedingungen geschaffen, darunter insbesondere:
- Diskriminierungsverbot als tragender Pfeiler des Gemeinschaftsrechts: Der EG-Vertrag verbietet in seinem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 12 EGV). Die unterschiedliche Behandlung in vergleichbaren Situationen ist nicht zulässig. Jeder Unionsbürger muss in jedem Staat des Binnenmarktes wie ein Einheimischer behandelt werden. Das grundsätzliche Diskriminierungsverbot führt auch zum Grundsatz der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen (Art. 141 EGV). Es schließt den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit ein.
- Prinzip der gegenseitigen Anerkennung: Einschlägige Rechtsvorschriften anderer EU-Staaten sind in jedem Mitgliedstaat der Gemeinschaft den inländischen Vorschriften gleichzusetzen. Dieses Prinzip bedeutet, dass die in einem Mitgliedstaat nach dem dort gültigen Recht hergestellten und verkauften Güter im gesamten Binnenmarkt angeboten werden können. Durch die Dassonville-Entscheidung (1974) und das Cassis-de-Dijon-Urteil (1979) des Europäischen Gerichtshofes wurde das Ursprungslandprinzip gegen die regulierungsbedingten Behinderungen des Handels zwischen den Mitgliedstaaten durchgesetzt und damit die Marktfreiheit vergrößert. Auch für berufliche Qualifikationen gilt das Prinzip gegenseitiger Anerkennung.
- Angleichung der Rechtsvorschriften: Da für verschiedene Sachgebiete (z.B. den Verbraucher- und Umweltschutz sowie die Bereiche Sicherheit und Gesundheit) das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nicht immer ausreicht, um die Freiheiten des Binnenmarktes zu ermöglichen, müssen Rechtsvorschriften, die in den Mitgliedstaaten unterschiedlich sind und die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes behindern, harmonisiert, d.h. durch EU-Richtlinien einander angeglichen werden (vgl. Art. 94 - 97 EGV).
Offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb
Das zweite konstitutive Element des Binnenmarktes ist die Errichtung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs. Die Verwirklichung der Grundfreiheiten erfordert einen Markt, in dem der Wettbewerb nicht verhindert, eingeschränkt oder verfälscht werden kann. Die Wirtschaftsaktivitäten unter den Bedingungen der Eigentumsordnung in den Mitgliedstaaten, die der Vertrag unberührt lässt (Art. 295 EGV), sollen durch die Koordination auf Märkten und die Selbstkontrolle durch Wettbewerb geleitet sein. Daher gibt die europäische Wirtschaftsverfassung - im systematischen Zusammenhang mit der Gewährung der Grundfreiheiten und der binnenmarktbezogenen Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten
Die Wettbewerbsregeln für den Binnenmarkt gelten für die Unternehmen und die Mitgliedstaaten (Art. 81 - 89 EGV). Erstens gehören dazu Bestimmungen, die dem Schutz und der Förderung von Wettbewerbshandlungen der privaten Wirtschaftsteilnehmer dienen. Zweitens wird die Wettbewerbsverfassung der EG konstituiert durch Regeln, welche die Mitgliedstaaten disziplinieren. Hier geht es um Bestimmungen, welche die Vereinbarkeit staatlicher oder aus staatlichen Mitteln gewährter Beihilfen an Unternehmen mit den wettbewerblichen Bedingungen des Binnenmarktes sicherstellen und die Anwendung der Wettbewerbsregeln auch auf öffentliche Unternehmen durchsetzen sollen. Mit der Beihilfenkontrolle will man den gemeinschaftsweiten wirtschaftlichen Wettbewerb gegen Verfälschungen durch Subventionen von Seiten der Mitgliedstaaten schützen, ohne legitime Förderungsmaßnahmen auszuschließen. Die Wettbewerbsregeln bewirken also eine Einschränkung des Interventionsspielraumes der Mitgliedstaaten.
Zu den von der Gemeinschaft politisch gewünschten Wettbewerbszielen gehört auch die technologie- und industriepolitische Förderung, die in dem inzwischen umfangreichen Katalog der Tätigkeiten der Gemeinschaft aufgenommen worden ist (Art. 3 EGV). Hier besteht die Gefahr einer Instrumentalisierung der Wettbewerbspolitik, da man durch Veränderung der Wettbewerbsbedingungen eine protektionistische Strukturpolitik für alte und neue Industrien betreiben kann. Die europäische Wettbewerbsverfassung sieht nicht die Institution einer dem Bundeskartellamt vergleichbaren unabhängigen Kartellbehörde vor, zuständig ist die Kommission. Wie jedoch Erfahrungen zeigen, führt ein höherer Grad der Unabhängigkeit einer Wettbewerbsbehörde zu einer größeren Bereitschaft der Verantwortlichen, sich auf die Anwendung der durch das Wettbewerbsrecht vorgegebenen Regeln zu konzentrieren und nach rein wettbewerblichen Kriterien zu entscheiden.
Die Wettbewerbsvorschriften der europäischen Wirtschaftsverfassung betreffen zwar direkt die Regelebene des Binnenmarktes, sie haben aber auch Auswirkungen auf die nationalen Wettbewerbsordnungen und damit die Wirtschaftsverfassungen der Mitgliedstaaten.
Die europäische Wettbewerbsverfassung hat entscheidend dazu beigetragen, die Liberalisierung der Märkte voranzutreiben und das Wettbewerbsprinzip in der Wirtschaft der Mitgliedstaaten zu verstärken. Die Gemeinschaft konnte bei den Mitgliedstaaten Auflagen zur Liberalisierung vieler vormals regulierter staatsnaher Wirtschaftsbereiche und zum Aufbrechen staatlicher Monopole durchsetzen (so in den Märkten für Telekommunikation und Energie). Diese wettbewerbspolitische Aufgabe der wirtschaftlichen Integration ist noch lange nicht vollendet. "Vor allem in den reformschwachen und folglich wettbewerbsarmen Bereichen machen sich die Vorteile des Binnenmarktes noch nicht richtig bemerkbar, dazu zählen der Energie-, Verkehrs- und Dienstleistungssektor."
Wenn auch die europäische Wirtschaftsverfassung die marktwirtschaftliche Ordnung der Gemeinschaft absichert, so haben doch seit dem EWG-Vertrag veränderte und neue Regeln in der Einheitlichen Europäischen Akte und in den Folgeverträgen zur Wirtschaftsunion die liberalen Vertragskomponenten geschwächt und erweiterte Möglichkeiten für Interventionen geschaffen.
Gewährleistung von Preisstabilität
Geldwertstabilität ist eine wesentliche Voraussetzung, um die Funktionsfähigkeit des wettbewerblichen Binnenmarktes zu erhalten und damit die wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele der EU zu erreichen. Nur eine auf die Geldwertstabilität ausgerichtete Geld- und Währungspolitik in der Wirtschafts- und Währungsunion schafft auf Dauer die günstigen Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und sozialen Ausgleich. Die Stabilitätsnorm ist daher ein Kernelement des marktwirtschaftlichen Integrationskonzeptes und der Wirtschaftsverfassung.
Im Maastrichter Vertrag sind das Konzept der Wirtschafts- und Währungsunion und die europäische Währungsverfassung zusammen mit der Institutionalisierung einer unabhängigen Währungsbehörde festgelegt. Die Mitgliedstaaten haben durch politischen Souveränitätsverzicht die nationale Geld- und Währungspolitik auf das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) übertragen, das sich aus der Europäischen Zentralbank (EZB) und den nationalen Notenbanken zusammensetzt. Mit der Einführung der einheitlichen Währung wurde die Verbindung von wirtschaftlich-funktionellen und politisch-institutionellen Elementen in der EU verstärkt. Die EZB hat eine institutionelle Sonderstellung, da sie im Vertrag nicht als ein Organ der Union eingeordnet ist, was ihre politische Unabhängigkeit unterstreicht. Die Absicherung der Unabhängigkeit des ESZB ist für das Verankern der Stabilitätskultur im politischen Leben der Euro-Staaten von herausragender Bedeutung.
Nach der Währungsverfassung ist das vorrangige Ziel bei der Festlegung und Ausführung der europäischen Geldpolitik - und damit das Mandat desESZB -, die Preisstabilität zu gewährleisten (Art. 105 Abs. 1 EGV). Nur soweit es dieses Ziel nicht beeinträchtigt, unterstützt das ESZB auch die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft, um zur Verwirklichung der wirtschaftlichen und sozialen Vertragsziele beizutragen. Die Preisstabilität ist bisher in den allgemeinen Zielen der EU verankert, in Art. 2 EGV ist der Gemeinschaft die Aufgabe übertragen, ein "beständiges, nichtinflationäres Wachstum" zu fördern. Als einen der einzuhaltenden, richtungweisenden Grundsätze für die Tätigkeit der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten nennt Art. 4 Abs. 3 EGV "stabile Preise". Diese Vorgaben machen deutlich, dass die Währungsunion als eine Stabilitätsgemeinschaft konzipiert ist. Sie verpflichtet alle politischen Akteure, in jedem Bereich der nationalen Wirtschaftspolitik, insbesondere in der Finanz- und der Lohnpolitik, zur Stabilität beizutragen. Während die Mitgliedstaaten die Kompetenz für die Geldpolitik vollständig auf das ESZB übertragen haben - die Währungsunion also anders als die Wirtschaftsunion zentral verfasst ist - und das Instrument der Wechselkursanpassung innerhalb der Währungsunion nicht mehr zur Verfügung steht, verbleibt die Finanzpolitik im nationalen Kompetenzbereich. Steuerhoheit und die Bereitstellung öffentlicher Güter liegen in der Verantwortung der Mitgliedstaaten, wodurch auch hier deutlich wird, dass die Wirtschaftsunion bewusst dezentral angelegt ist.
Die Wirtschaftsverfassungsregeln des Maastrichter Vertrages haben im Bereich der Wirtschaftspolitik eine Asymmetrie geschaffen: auf der einen Seite die europäische, supranationale Geldverfassung mit der gemeinsamen Geldpolitik und auf der anderen Seite weitgehend nationale Verantwortung und Kompetenz in der Finanzpolitik. Um bei einer solchen Kompetenzaufteilung zu verhindern, dass mitgliedstaatliches Fehlverhalten in der Haushaltspolitik zur Gefährdung der stabilitätsorientierten Geldpolitik in der Gemeinschaft führt, enthält der Maastrichter Vertrag finanzpolitische Vorschriften zur Disziplinierung der in nationaler Kompetenz verbleibenden Finanzpolitik (Art. 104 EGV). Zur Verschärfung der Budgetbeschränkungen für die Mitgliedstaaten wurde auch die so genannte "No-bail-out"-Klausel eingeführt, nach der kein Mitgliedstaat (oder die Gemeinschaft) für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaates haftet (Art. 103 Abs. 1 EGV).
Wegen der Schwächen der Maastrichter Haushaltsregeln entschloss man sich, gewissermaßen als Nachbesserung, zu einer zusätzlichen stabilitätsorientierten Regelung. Ausgehend von dem Vorschlag der Bundesrepublik Deutschland (1995) für einen "Stabilitätspakt", verabschiedete der Europäische Rat 1997 in Amsterdam den - nach Vorschlägen Frankreichs modifizierten - Stabilitäts- und Wachstumspakt. Der Pakt soll zu einer nachhaltigen Konvergenz der Geld- und Finanzpolitik in der Gemeinschaft beitragen; dieser institutionelle Rahmen schreibt einen finanzpolitischen Grundkonsens zwischen den Mitgliedstaaten fest.
Als institutionelles Arrangement der Währungsunion zur Umsetzung der Vertragsbestimmungen über die Verfahren bei übermäßigen öffentlichen Defiziten (Art. 104 EGV) beinhaltet der Pakt weitreichende politische Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, ist aber in seinem Kern rechtlich unverbindlich. Er enthält Regeln für ein Frühwarn- und Aufsichtsverfahren des Rates der Finanzminister, um die Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft zu sichern. Um einen solchen Pakt durchzusetzen, bedarf es einer glaubwürdigen Sanktionsdrohung. Die konzeptionelle Grundidee war, Entscheidungen im Rat der Finanzminister ausschließlich auf der Grundlage eines sanktionsbewehrten Regelwerkes und nicht nach politischer Dominanz zu treffen, also das Konzept der Per-se Rule statt der Rule of Reason. Jedoch konnte eine Verständigung hinsichtlich des institutionellen und prozeduralen Vorgehens nur für einen Regelansatz erreicht werden, der letztlich potentielle Sünder über tatsächliche Sünder entscheiden lässt, da der Rat der Finanzminister über die Lage befindet.
Sozialer Schutz und Verbesserung der Lebensqualität
Die Frage nach der sozialen Dimension der europäischen Wirtschaftsverfassung berührt alte politische Kontroversen aus der Gründungsphase der EWG und heutige Schwächen im Konzept der Wirtschaftsunion.
Festzuhalten ist zunächst, dass die Entwicklung des wettbewerblichen Binnenmarktes und die Marktdynamik auf eine Angleichung der Produktivitäts- und Einkommensniveaus in der Gemeinschaft hinwirken, also die Wohlstandsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten langsam verringert werden. Inwieweit einzelne soziale Ziele verstärkt durch gemeinschaftliche Sozialpolitik angestrebt werden sollen, ist strittig. Einige sozialpolitische Maßnahmen können zur Förderung der Marktintegration als generell flankierende Gemeinschaftspolitiken erforderlich sein. Eine generelle Verpflichtung der EU zu sozialer Gerechtigkeit findet sich nicht in den Normen der europäischen Wirtschaftsverfassung. Es gibt für die Gemeinschaft keine umfassende Ermächtigung, die Strukturen einer europäischen Sozialordnung im Einzelnen festzulegen.
Allerdings besteht ein Grundkonsens der Mitgliedstaaten darin, die EU als einen Raum sowohl der Freiheit als auch der Solidarität zu sehen. Es ist unstrittig, dass die Gemeinschaft auf Dauer nur Bestand haben kann, wenn in ihr auch Solidarität und sozialer Zusammenhalt zwischen den Mitgliedstaaten gefördert werden. Um der Gemeinschaft in den Bereichen Beschäftigung und Soziales Zuständigkeiten zu übertragen, musste der Gründungsvertrag verändert werden. Im Jahre 1989 wurde die "Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer" als politische Absichtserklärung von allen Mitgliedstaaten außer Großbritannien verabschiedet. Erst im Maastrichter Vertrag von 1993 und dem darin enthaltenen "Abkommen über die Sozialpolitik" erfahren diese sozialpolitischen Erweiterungen eine rechtliche Absicherung; das Ziel ist die Umsetzung der Sozialcharta. In den Amsterdamer Vertrag wurden dann die bisher im so genannten "Sozialprotokoll" zum Maastrichter Vertrag enthaltenen Regeln zur Sozialpolitik der Gemeinschaft vollständig integriert; damit wurde die Grundlage für einzelne, begrenzte Aktivitäten in der europäischen Sozialpolitik geschaffen. Zusätzlich hat der Amsterdamer Vertrag die Bereiche Gesundheits- und Verbraucherschutz sowie die Beschäftigungspolitik in die Zuständigkeit der Gemeinschaft überführt. Insbesondere durch die Aufnahme des Beschäftigungsziels und die damit verbundenen Kompetenzen für eine europäische Beschäftigungspolitik entstehen erhebliche Konfliktfelder für die Wirtschaftspolitikr, da das Ziel der Geldwertstabilität primär in der Verantwortung des unabhängigen ESZB liegt.
Seither wurden in dem Bemühen, Ansätze einer Sozialordnung für die Gemeinschaft zu entwickeln, sowohl der Weg der weiteren sozialpolitischen Regulierung über Verordnungen und Richtlinien - so hinsichtlich des verbesserten sozialen Schutzes von Arbeitnehmern und der Bekämpfung sozialer Ausgrenzungen - als auch der Weg über die Grundrechtepolitik eingeschlagen. Die vier Grundfreiheiten und die durch sie verbürgten subjektiven Rechte berühren auch die zukünftige Ausgestaltung der mitgliedstaatlichen Sozialsysteme. Allerdings wird die Befugnis der Mitgliedstaaten anerkannt, die Grundprinzipien ihres jeweiligen Systems der sozialen Sicherheit selbst festzulegen. Auch dürfen Bestimmungen der Gemeinschaft zur Verwirklichung der Ziele der Sozialpolitik das finanzielle Gleichgewicht der nationalen Systeme nicht erheblich beeinträchtigen (Art. 137 Abs. 4 EGV).
Die unter Ökonomen vorherrschende Meinung ist, das Ziel soziale Sicherheit primär im Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich der Mitgliedstaaten zu belassen und durch deren Sozialpolitik zu gewährleisten.
Insgesamt sind die in der europäischen Wirtschaftsverfassung enthaltenen Regelungen für ein Sozialmodell als ein Ansatz zu beurteilen, der die aus der Marktdynamik zu erwartenden sozialen Leistungen kombiniert mit der Sozialgestaltung über koordinierte Politikinterventionen, die seit einiger Zeit stärker betont werden. Offensichtlich dominiert die Auffassung, dass gewünschte soziale Endergebnisse - wie hohes Beschäftigungsniveau sowie Verbesserung der Lebensqualität - im funktionierenden wettbewerblichen Marktprozess nicht, nicht so sicher oder nicht so schnell wie im politischen Prozess der Intervention erreichbar sind.
Orientierung an Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit
Ein weiterer Regelungsbereich der europäischen Wirtschaftsverfassung betrifft die Steuerung des Wirtschaftsprozesses im Binnenmarkt. Da die hierfür relevanten Regeln sich weitgehend am Konzept der Integration der Politik orientieren, sind ordnungspolitische Konflikte mit den parallel bestehenden Regeln der marktgesteuerten Integration möglich. "Ob die wiederholten Bekenntnisse des Vertrages zu einem System offener Märkte bei freiem Wettbewerb die Wirtschaftsverfassung der Gemeinschaft prägen werden, hängt im Wesentlichen von den Mitteln ab, die der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten zur Verwirklichung ihrer neuen Politiken zu Verfügung stehen."
Eine grundlegende Entscheidung der europäischen Wirtschaftsverfassung hinsichtlich der Steuerung des Wirtschaftsprozesses ist die Einführung des Subsidiaritätsprinzips. Für die gesamte Binnenmarktpolitik sind die Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit bindend. Diese Prinzipien haben durch die Verankerung in Art. 2 EUV und Art. 5 EGV sowie durch das "Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit" zum Amsterdamer Vertrag Verfassungsrang. Sie setzen den Maßstab für die Aufteilung von Verantwortung und Kompetenz zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten und schützen Dezentralisierung und Vielfalt innerhalb der EU.
Das Prinzip der Subsidiarität verlangt für die wirtschaftsrelevanten Politikbereiche den prinzipiellen Vorrang einer dezentralen Kompetenzordnung. Das Prinzip beinhaltet in positiver Abgrenzung eine Kompetenztrennung: Die Gemeinschaft soll handeln, sofern und soweit die Ziele bestimmter Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend und daher besser wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkung auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Dies beinhaltet eine Ausweitung der Kompetenzen. In der negativen, also abwehrenden Abgrenzung sagt das Prinzip, dass die Gemeinschaft nicht tätig werden soll, wenn das Handeln auf der Ebene der Mitgliedstaaten ausreicht, um die Vertragsziele zu erreichen. Insgesamt folgt daraus die Verpflichtung der Gemeinschaftsorgane - insbesondere der Kommission - nachzuweisen, dass es zur Lösung einer Aufgabe einer gemeinschaftlichen Regelung und eines gemeinschaftlichen Handelns bedarf. Außerdem müssen Art und Intensität der Instrumente dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.
Welche wirtschaftspolitischen Kompetenzen die Mitgliedstaaten explizit an die Gemeinschaft übertragen haben, wird am Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung für die Gemeinschaftsorgane deutlich. Die Kompetenzen sind folgendermaßen verteilt:
- gemeinschaftliche Politik: Die Zuständigkeiten liegen ausschließlich bei Organen und Institutionen der EG, so bei der Agrar-, Außenhandels-, Wettbewerbs- und Währungspolitik;
- gemeinsame Politik von Gemeinschaft und nationalen Regierungen: Auf der Grundlage von Vorschlägen der Kommission fassen die Minister der Mitgliedstaaten nach dem Mitentscheidungsverfahren (Art. 251 EGV) zusammen mit dem Europäischen Parlament Beschlüsse - soweit das Subsidiaritätsprinzip dies erlaubt - , die als Richtlinien die Mitgliedstaaten binden, z.B. bei der Umwelt-, Gesundheits-, Verbraucherschutz-, Forschungs- und Technologiepolitik;
- Koordinierung: Die wirtschaftspolitischen Kompetenzen liegen zwar bei den Mitgliedstaaten, aber sie betrachten ihre Wirtschaftspolitik als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse und koordinieren sie im Ministerrat (Art. 99 EGV). Bei den Programmen und Maßnahmen sind die Ziele der Gemeinschaft und der ordnungspolitische Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb zu beachten.
Neben diesen speziellen Handlungsbefugnissen eröffnen die Wirtschaftsverfassungsregeln auch weitere Möglichkeiten zu Aktivitäten der Gemeinschaftsorgane, wenn dies zur Erreichung von Vertragszielen erforderlich erscheint. Diese Befugnisse erlauben allerdings nicht, dass die Gemeinschaftsorgane Aufgaben wahrnehmen, die außerhalb der vom EG-Vertrag vorgegebenen Ziele liegen. Allerdings hat sich in der Praxis gezeigt, dass dringliche Aufgaben gelöst werden mussten, die man bei Vertragsabschluss nicht vorhergesehen hatte und für die entsprechende Einzelermächtigungen fehlten; ein Beispiel ist die Entwicklung des Umwelt- und Verbraucherschutzes.
Spannungsverhältnis zwischen Markt- und Politikintegration
Die Verteilung der wirtschaftspolitischen Aufgaben und Kompetenzen im EG-System ist höchst komplex und unübersichtlich. Eine klare Kompetenzabgrenzung ist bisher für den Bereich des Binnenmarktes und der Wirtschaftspolitik nicht gelungen. Mit der Erweiterung des Zielkatalogs der Gemeinschaft wird der erforderliche Instrumenteneinsatz größer, und die Neigung wächst, in immer mehr Bereichen die Politik der Mitgliedstaaten zu vereinheitlichen oder die Handlungskompetenzen auf die Gemeinschaft zu übertragen. Diese Entwicklung wird zusätzlich durch die Erfolge der Marktintegration gefördert:
Der Konvent hat in seinem Entwurf des Verfassungsvertrages versucht, die vertikale Kompetenzordnung klarer zu fassen.
Die Mitgliedstaaten haben kritisiert, dass die Kommission sich häufig auf den Binnenmarktartikel (Art. 95 EGV) gestützt hat, um ihre Regelungskompetenz zu erweitern und Entscheidungen im Rat mit qualifizierter Mehrheit - statt mit der in den Verträgen vorgesehenen Einstimmigkeit - herbeizuführen. Beispiele sind Maßnahmen in den Bereichen Gesundheit und Umweltschutz. Es fehle also bisher eine ausreichende Begrenzung der Binnenmarktkompetenz auf solche Regelungen, die in erster Linie und direkt für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes notwendig sind. Allerdings haben Entscheidungen auf der Grundlage des Art. 95 EGV die Angleichung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten mit qualifizierter Mehrheit ermöglicht und so den Binnenmarkt weiterentwickelt. Außerdem - so die zusätzliche Kritik - habe die Kommission auch in Bereichen Vorschriften zur Entwicklung des Gemeinsamen Marktes erlassen, in denen sie an sich keine Befugnisse hat. Sie ist hier mit Hilfe der Auffangkompetenz des Art. 308 EGV tätig geworden. In der gegenwärtigen Zuständigkeitsverteilung ist somit durch diesen Artikel die Begrenzungsfunktion der Kompetenzordnung geschwächt.
Um den wachsenden Einfluss des Konzepts der politikgesteuerten Integration zu verdeutlichen, muss auf die neue Methode der offenen Koordinierung eingegangen werden. Sie kommt als Verfahren der mittelbaren Politikabstimmung vermehrt zur Anwendung, ohne dass sie in der bisherigen Kompetenzordnung der europäischen Wirtschaftsverfassung klar eingefügt wäre. Diese Form der Politikkoordinierung wurde zuerst im Beschäftigungskapitel des Vertrages von Amsterdam (Art. 125 bis 130 EGV) festgeschrieben und später in der vom Europäischen Rat im Mai 2000 beschlossenen Lissabon-Strategie, bis 2010 "die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen", zu einem Kernelement der europäischen Modernisierungsstrategie gemacht.
Der Koordinierungsmodus umfasst die Festlegung von Leitlinien der Union mit quantitativen und qualitativen Indikatoren, die Umsetzung der europäischen Leitlinien in die nationale und regionale Politik, die jährliche Berichterstattung der Mitgliedstaaten, die Bewertung und Prüfung seitens Kommission und Rat sowie schließlich die Möglichkeit wirtschaftspolitischer Empfehlungen an die Mitgliedstaaten.
Der Nutzen und die ordnungspolitische Beurteilung dieses Koordinierungsverfahrens sind noch umstritten. In positiver Bewertung erscheint die Methode geeignet, unter Bedingungen, die eine einheitliche Politik nicht möglich machen, Lerneffekte und lokale Experimente unter Einbezug von Dialogen auf verschiedenen Ebenen herbeizuführen.
Die schleichende Ausweitung der "Koordinierungskompetenz" der EU geht zu Lasten der Mitgliedstaaten und deren Untergliederungen. Die bedenklichen Folgen einer verstärkten Einbeziehung der EU-Organe in die Koordinierung von mitgliedstaatlichen Instrumenten der Wirtschaftspolitik - wie Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik - werden in der Schwächung der demokratischen Legitimation und der Kontrolle der Mitgliedstaaten durch deren nationale und regionale Parlamente und durch deren Wähler gesehen.
Abschließend ist auf das durch Regeln der europäischen Wirtschaftsverfassung ausgelöste ordnungspolitische Spannungsverhältnis hinzuweisen: Einerseits werden durch die vier Grundfreiheiten und die Absicherung des freien Wettbewerbs Voraussetzungen für den Systemwettbewerb "als ein dezentrales Korrektur- und Entwicklungsverfahren für institutionelle Arrangements"