Neue Herausforderungen an Europa
Die Diskussion um die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union (EU) zeigt: Niemand weiß dieser Tage so recht, was Europa eigentlich ist, wo seine Grenzen liegen und welche Themenfelder nach europäischer Steuerung verlangen. Gleichzeitig soll die EU im beginnenden 21. Jahrhundert weltweit Verantwortung übernehmen, ohne über die geeigneten institutionellen, finanziellen oder militärischen Mittel zu verfügen. Vor allem aber muss die EU wirtschaftlich leistungsfähig und innovativ bleiben, um überhaupt auf Augenhöhe mit anderen internationalen Akteuren (USA, China) operieren zu können. Die EU muss sich also selbst definieren und reformieren und zur selben Zeit eine strategische Antwort auf neue internationale Konflikte finden. Gelingt dies nicht, schnell und abgestimmt, läuft sie doppelt Gefahr: Einerseits verliert die EU die Steuerungsfähigkeit über interne wie externe Prozesse, die ihre eigene Sicherheit berühren. Andererseits erlaubt sie anderen internationalen Akteuren - allen voran den USA -, Steuerung zu übernehmen, ohne dass europäische Ziele und Wertvorstellungen garantiert wären.
Die Lösung bietet nur ein Konzept, das über eine Neubestimmung der Außen- und Sicherheitspolitik hinausgeht und innere Effizienz, Transparenz und demokratische Strukturen, eine innovative und wissensbasierte europäische Volkswirtschaft und den europäischen Wertekanon aus Frieden und Multilateralismus einbindet. Mit anderen Worten: Es ist Zeit, dass die EU über eine europäische Geostrategie nachdenkt, und zwar ganz Europa. Ein Kerneuropa ist institutionell nicht in der Lage, eine nachhaltige Geostrategie auszuarbeiten und kann die nachfolgenden internationalen Verpflichtungen nicht erfüllen. Politisch haben die vergangenen zwölf Monate und der Beinahe-Bruch mit den Vereinigten Staaten gezeigt: Europa muss als strategischer Partner der USA aufgebaut werden und nicht als "multipolarer" Gegenspieler unter deutsch-französischer Führung - womöglich in Umarmung Moskaus. Heute, an der Schwelle zur Mitgliedschaft der 25, muss die Frage beantwortet werden, ob Europa im Jahr 2015 neben den USA, Indien und China auf der Weltbühne eine Rolle spielen will, und wenn ja, welche. Ähnlich formulierte es Außenminister Joschka Fischer im Februar dieses Jahres: Die globalen Bedrohungen verlangten nach einer strategischen Dimension mit Zwang zur Integration, der weit über das bisher Versuchte hinausgehe. "Klein-europäische Vorstellungen funktionieren nicht mehr."
Über eine europäische Geostrategie nachzudenken bedeutet, Neuland zu betreten. Offen ist, ob es der EU gelingen kann, genuin europäische Interessen zu formulieren. Dies stößt auf zwei Hindernisse: Zum einem muss die EU vermeintlich "nationale" Interessen überwinden und diese europäisch definieren. Zum anderen muss die EU bereit sein, interessenpolitisch zu denken und gemeinsame außenpolitische Interessen durchzusetzen. Damit verließe die EU endgültig ihre Nische als "Zivilmacht", um zum machtpolitisch bewussten Akteur mit internationaler Verantwortung zu werden.
Die Bedeutung von Geopolitik und -strategie für die EU
Die bisherige europäische Integration der 15 Mitgliedstaaten kennt keine offizielle Geostrategie. Der ihr übergeordnete Begriff der Geopolitik ist in Europa, besonders in Deutschland, zu Recht problematisch.
Im 21. Jahrhundert dürfen Geopolitik und die hierauf aufbauende Geostrategie jedoch nicht mehr mit der fehlgeleiteten Ideologie von Großraumstreben und Imperialismus gleichgesetzt werden. Vielmehr gilt Christian Hackes Botschaft auch für die Europäische Union: Zivilisatorisches Vorbild und Sinn für militärische Sicherheitspolitik schließen sich nicht aus, sondern bedingen sich gegenseitig im Primat der Selbstbehauptung.
Die tektonischen Verschiebungen der Nachkriegsgeschichte durch die Umbrüche 1989 und den Untergang der Sowjetunion läuteten die endgültige Renaissance des geopolitischen Denkens ein. Die Auflösung der Blöcke des Kalten Krieges und der Schub staatlicher Neugründungen in Osteuropa und im Balkan machten die EU zum Stabilitätsanker, der gleichzeitig Demokratie und wirtschaftliche Prosperität nach Osten tragen sollte. Noch bevor die EU im Vertrag von Maastricht 1992 ihre politische Integration abschließen konnte, wurde die Dynamik der EU-Erweiterung zum beherrschenden Thema. "Stabilisierung durch Mitgliedschaft" war das Leitmotiv mit stärker werdendem geostrategischen Klang. Eine weitere Beschleunigung erfuhr diese Dynamik durch die zweite tektonische Verschiebung der internationalen Sicherheitsarchitektur, den Angriff auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001. Auf einmal standen sicherheitspolitische Themen auf der Agenda, um die sich Europa zuvor kaum gekümmert hatte: internationaler Terrorismus, mögliche Bedrohung durch einen radikalisierten Islam, Proliferation von Massenvernichtungswaffen. Diese Probleme als negative Konsequenzen der Globalisierung heben die Grenze zwischen innerer und äußerer Sicherheit endgültig auf und verlangen nach abgestimmten politischen Lösungen. Schlagartig und unvorbereitet wurde die EU in Räume und internationale Krisengebiete katapultiert, in denen sie nie Akteur war - der Irak, der Mittlere Osten, der kaspische und der kaukasische Raum -, deren Entwicklungen aber entscheidend für die zukünftige Sicherheit der EU sind.
Festzuhalten bleibt: Im 21. Jahrhundert haben sich zwar Inhalte und Ziele der Geopolitik verändert, diese hat aber nicht ihre Relevanz für das internationale politische Handeln verloren. Laut Felix Bruck hat seit "eh und je die Gestaltung, die Beeinflussung, vornehmlich aber die Beherrschung von Räumen eine Faszination auf die Handlungsentscheidungen der Völker und ihrer Führungen ausgeübt. In allen geschichtlichen Epochen gab es Wechselbeziehungen von Raum (Geographie), politischem Willen (Staaten und Reichen) und Handlungsabläufen (Geschichte)"
In größerem Kontext muss entschieden werden, welche Verantwortung die EU in internationalen Konflikten übernimmt bzw. wie sie sich in Krisenregionen wie dem Mittleren Osten engagiert. Auch hier gilt die Wechselbeziehung zwischen Raum und Handlungsabläufen. Sind die Mehrzahl der gegenwärtigen internationalen Konflikte einerseits grenzenlos, da künstlich gezogene Demarkationslinien keinen Schutz bieten? Haben sie andererseits klare räumliche Dimension? Sowohl die zu erwartenden Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen wie Wasser als auch der internationale Terrorismus sind in ihrem Ursprung territorial ungleich verteilt. Nach Hacke führen Konflikte wie der internationale Terrorismus zu neuen Dynamiken in den Ost-West- und den Nord-Süd-Beziehungen. Als Konsequenz entstehen nicht nur neue Nord-Süd-Probleme, auch die West-Ost- sowie die West-West-Beziehungen im Rahmen der transatlantischen Beziehungen werden belastet.
Geopolitische Überlegungen basieren naturgemäß auf eigenen Interessen und Zielen. Daher muss eine moderne europäische Geostrategie über die Reaktion auf militärische Konflikte hinausgehen. Der europäische Wertekanon verlangt nach Lösungen für internationale Bedrohungen wie Armut, organisierte Kriminalität oder Umweltschädigungen. Hier können die bewährten "soft powers" der EU von Bedeutung sein, da sie einer Geostrategie internationale Glaubwürdigkeit verleihen. Oder, um es in Anlehnung an Timothy Garton Ash, Michael Mertes und Dominique Moïsi zu formulieren:
Ist die Bedeutung der Geopolitik also konstant, so hat ihr Instrument, die Geostrategie, seit dem 11. September 2001 an Zuspruch gewonnen. Rudolf Maresch nennt es den Sieg der Raummächte (Hard Power) über die Zeitmächte (Soft Power), die durch Werte und Ideen alleine überzeugen wollten.
GASP und ESVP: Sisyphus mit Erfolgsaussichten?
Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) sind die wertvollsten, zugleich aber schwierigsten Elemente einer europäischen Geostrategie. Außen- und Verteidigungspolitik sind Politikbereiche, in denen nationalstaatliche Souveränitätstraditionen einer euro-päischen Vergemeinschaftung entgegenstehen. Die GASP existiert seit dem Vertrag von Maastricht und hat eine zähe Entwicklung hinter sich: Das Prinzip der Mehrheitsentscheidungen konnte bis heute nicht eingeführt werden. Die ESVP hat indes seit Ende der neunziger Jahre eine beachtliche Dynamik entwickelt.
Doch für den großen Wurf reicht dies nicht. Um eine glaubwürdige geostrategische Dimension zu entwickeln, muss die GASP/ESVP institutionell weiter verbessert und müssen die militärischen Fähigkeiten verstärkt werden. Institutionell bedeutet dies, die Ämter des EU-Kommissars für Außenpolitik und des Hohen Vertreters für die GASP zusammenzulegen und ein europäisches Außenministeramt zu schaffen. Erst diese im Verfassungsentwurf
Die EU verfügt über eine Fülle außenpolitischer Instrumente im Bereich "soft power". Diese werden bisher jedoch gar nicht oder nur sporadisch mit außenpolitischen Zielen zusammengeführt. Das EU-Budget für Außenbeziehungen umfasst derzeit ca. zehn Milliarden Euro. Damit werden rund 55 Prozent aller internationalen Entwicklungshilfe weltweit, über 50 Prozent der Hilfe für die palästinensischen Autonomiegebiete, über 60 Prozent aller Finanzhilfen für Russland und über 85 Prozent aller Finanzhilfen für den Balkan von der EU finanziert.
Eine europäische Geostrategie muss zudem auf die Vermischung innen- und außenpolitischer Bedrohungen reagieren, die seit den Anschlägen auf das World Trade Center offensichtlich geworden ist. Institutionell müsste die EU dieser Entwicklung durch die Verknüpfung ihres zweiten Pfeilers (GASP/ESVP) und ihres dritten Pfeilers (Innen- und Justizpolitik) Rechnung tragen, wie im Verfassungsentwurf vorgesehen. Mit der Verabschiedung einer ersten gemeinsamen Sicherheitsstrategie
Damit will die EU globale Probleme (Terrorismus, aber auch Migration und Armut) in einen sicherheitspolitischen Kontext stellen. Erstmals werden soft power-Fähigkeiten in die sicherheitspolitische Strategie einbezogen. Die europäische Sicherheitsstrategie ist Grundlage für eine europäische Geostrategie, in der militärische, ökonomische und institutionelle Fähigkeiten zusammengeführt werden, um der EU ein schärferes Profil als sicherheitspolitischer Akteur zu geben.
Die zukünftige Verfasstheit der EU
Eine geostrategische Dimension verlangt nach internationalem Einfluss. Wenn die EU ihre Meinungen in internationalen Organisationen bündelte und dort geschlossen aufträte, würde sie mehr Gewicht und Stimme erlangen. Ein gemeinsamer EU-Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN) mag als Utopie abgetan werden und wird sich sicherlich nicht sofort realisieren lassen. Eingepasst in eine umfassende Reform der VN, würde dies jedoch Sinn ergeben und Glaubwürdigkeit wie Legitimität der VN erhöhen, an der die meisten europäischen Staaten sehr interessiert sind. Gleiches gilt für das Auftreten der EU im Internationalen Währungsfonds (IWF), dessen Politikziele und Prioritäten derzeit von den USA dominiert werden, welche die Organisation als geostrategisches Instrument nutzen. Inzwischen wird eine Zusammenlegung der europäischen Anteile im IWF offen thematisiert,
Außenpolitik und Geostrategie haben nicht nur institutionelle, sondern auch ökonomische Komponenten. Nur wenn sich die EU weltweit als wirtschaftliches Machtzentrum behauptet, wird sie auf Augenhöhe mit Staaten wie den USA und China agieren können. Die so genannte Lissaboner Agenda,
Wie groß ist Europa?
Die EU wird sehr schnell entscheiden müssen, wer zukünftig zu Europa gehört: Erweiterung und Vertiefung bilden eine Dichotomie. Der Vertiefungsprozess - auch in der GASP und der ESVP - kann nicht abgeschlossen werden, solange nicht klar ist, wer in Zukunft zur EU gehören wird. Die Mitgliedschaft in der EU sollte an zwei Bedingungen geknüpft sein: Erstens müssen Beitrittskandidaten die zukünftige Verfassung anerkennen, und zweitens müssen sie die Zustimmung aller Mitglieder haben. Zu Letzterem gehört die legitime Frage, inwieweit weitere Beitritte der Union als Ganzes nutzen oder schaden. Gerade wenn die EU als Stabilitätsanker für Regionen im Osten (Schwarzmeer-Raum, Kaukasus) und Süden Europas (Maghreb) agieren soll, hat sie nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, an ihre eigene Überlebensfähigkeit zu denken. Eine institutionelle oder finanzielle Überdehnung muss vermieden werden. Die Erweiterungsagenda kann daher nicht ausschließlich durch Erwartungshaltungen von außen bestimmt werden.
Wirft man einen Blick auf den Ist-Zustand, so ergibt sich folgendes realistische Szenario: Nach dem am 1. Mai 2004 bevorstehenden Erweiterungsschub
Für die genannten Staaten dürfte die politische Dynamik eines Beitrittes trotz großer Herausforderungen (z.B. demokratischer Aufbau) nicht mehr aufzuhalten sein.
Klar ist indes, dass nur eine nachhaltig reformierte Türkei einer ebenso nachhaltig reformierten EU beitreten kann. Eine Mitgliedschaft zu gegenwärtigen Bedingungen würde im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik ca. 20 Millionen Euro kosten, etwa soviel, wie der Beitritt der jetzigen zehn Staaten die gesamte EU zwischen 2007 und 2013 pro Jahr kosten wird. Dieses Geld kann die EU nicht aufbringen. Im derzeitigen EU-Haushalt von rund 100 Milliarden Euro machen Agrar- und Strukturpolitik ca. 80 Prozent aus, d.h. knapp 80 Milliarden Euro. Dies bedeutet, dass sich die EU zwischen einer Weiterführung redistributiver Politiken und einer Geostrategie entscheiden muss - entweder weiter Agrar- und Strukturpolitiken zu finanzieren oder den EU-Haushalt auf moderne, geostrategische Politikziele zuzuschneiden (gemeinsamer Grenzschutz, militärische Fähigkeiten, Innovation, Infrastruktur, Wider Europe). Allein Letzteres wäre ein realistisches Szenario für eine türkische EU-Mitgliedschaft um 2013. Mit der Aufnahme der Türkei darf die EU jedoch nicht in eine Beitrittsfalle hinsichtlich anderer benachbarter Staaten tappen. Die EU befindet sich dabei in einer Zwickmühle: Der geostrategische Ansatz Stabilisierung durch Mitgliedschaft wird nach den nächsten, skizzierten Beitrittsrunden seine Grenzen erreicht haben. Gleichzeitig muss die EU ihren dann neuen Nachbarn etwas anbieten, um einen Hebel für Reformen zur politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung der Region zu haben.
Im März 2003 hat die EU-Kommission in einem ersten geostrategischen Dokument die gewünschten Beziehungen zu den zukünftigen EU-Anrainerstaaten skizziert.
Fazit
Um morgen von einer geostrategischen Vision Europas zu sprechen, muss die erweiterte EU angesichts der weltwirtschaftlichen Entwicklung - von China oder Indien war hier noch gar nicht die Rede - ihre Ressourcen und Kapazitäten bündeln und die geeigneten institutionellen Strukturen schaffen. Europa muss aufhören, sich vornehmlich mit sich selbst zu beschäftigen, will es als internationaler Akteur ernst genommen werden. In Regionen wie dem Nahen und Mittleren Osten ist europäische Hilfe dringend notwendig. Europa wird diese jedoch nur dann souverän leisten und eigene Vorstellungen von Staatenbildung und Demokratisierung einbringen können, wenn sich die Mitgliedsstaaten jenseits von vermeintlich nationalen Interessen endlich gemeinsam der Welt zuwenden. Will Europa 2010 oder 2015 in der Welt noch etwas zu sagen haben, braucht man heute mehr Europa und nicht weniger. Es ist Zeit für eine umfassende europäische Geopolitik.