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Die Pluralisierung partnerschaftlicher Lebensformen in Westdeutschland und Europa | Familiale Lebensformen im Wandel | bpb.de

Familiale Lebensformen im Wandel Editorial Die Pluralisierung partnerschaftlicher Lebensformen in Westdeutschland und Europa Geschlechterdemokratie leben. Junge Eltern zwischen Familienpolitik und Alltagserfahrungen Väterlichkeit, Scheidung und Geschlechterkampf Familienbiografien und Schulerfolg von Kindern Partner- und Eltern-Kind-Beziehung in der DDR und nach der Wende

Die Pluralisierung partnerschaftlicher Lebensformen in Westdeutschland und Europa

Josef Brüderl

/ 17 Minuten zu lesen

In Europa hat eine Pluralisierung der partnerschaftlichen Lebensformen stattgefunden, die Lebensverläufe sind vielfältiger geworden. Es wird ein deutlicher Trend weg von der Ehe festgestellt.

Einleitung

Seit etwa 20 Jahren wird in der deutschen Familienforschung eine "Pluralisierung der Lebensformen" konstatiert. Zwar ist die Verwendung dieser Begrifflichkeit nicht ganz eindeutig, aber die meisten Autoren verbinden damit die Vorstellung, dass es einen Trend weg von der "Parsons'schen Normalfamilie" der fünfziger und sechziger Jahre (Mutter, Vater, zwei Kinder) hin zu einer höheren Vielfalt der Lebensformen gegeben hat. Diese Behauptung gilt inzwischen im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs als "wahr". Das geht so weit, dass die entsprechende Begrifflichkeit Eingang in die Programmatik der meisten Parteien gefunden hat.

Die wissenschaftlichen Belege für diesen Trend sind jedoch eher dünn. Niemand bestreitet, dass die Normalfamilie auf dem Rückzug ist. Viele Studien belegen, dass sich in den meisten westlichen Industrieländern die demographischen Prozesse zum Teil dramatisch verändert haben: Die Heiratsrate ist gesunken und die Scheidungsrate gestiegen. Gesunken sind ebenfalls die Wiederverheiratungs- und die Fertilitätsrate. Dafür haben ehemals seltene Lebensformen wie nichteheliche Lebensgemeinschaften und Alleinerziehende an Bedeutung gewonnen. Diese Veränderungen werden heute von vielen Demographen als "zweiter demographischer Übergang" bezeichnet.

Es ist offensichtlich, dass der zweite demographische Übergang einen Trend weg von der Normalfamilie erzeugt. Aber er hat nicht notwendigerweise einen Anstieg der Vielfalt der Lebensformen zur Folge. So könnte der Anstieg der Scheidungsrate durch den Rückgang der Heiratsneigung kompensiert werden, so dass sich in der Bevölkerung kein höherer Anteil an Geschiedenen findet. Der Rückgang der Heiratsneigung könnte weiterhin dazu führen, dass sich ein neues "Normalmodell" herausbildet (nämlich ledig zu bleiben oder nichtehelich zusammenzuleben). Man hüte sich also davor, vom zweiten demographischen Übergang vorschnell auf eine Pluralisierung zu schließen!

Eine Pluralisierung kann nur von Studien belegt werden, welche die Vielfalt der Lebensformen direkt in den Blick nehmen. Überraschenderweise kommen entsprechende Studien aber teilweise zu dem Schluss, dass keine Pluralisierung stattgefunden hat. Sie basieren jedoch auf amtlichen Querschnittsdaten. Dies hat zwei Probleme zur Folge: Erstens ist durch die Vorgaben der amtlichen Statistik die Zahl der unterscheidbaren Lebensformen erheblich beschränkt. Zweitens betrachten diese Studien nur die aggregierten Lebensformverteilungen zu zwei Zeitpunkten. Damit gerät die Dynamik individueller Lebensverläufe aus dem Blick.

Deshalb sind Studien nötig, die individuelle Lebensverläufe untersuchen und deren Vielfalt beurteilen. Die Pluralisierungsthese kann mit diesem Untersuchungsansatz folgendermaßen präzisiert werden: Die Vielfalt bzw. die Heterogenität der familialen bzw. partnerschaftlichen Lebensverläufe hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Im Folgenden sollen die wichtigsten Ergebnisse einer solchen Studie vorgestellt werden.

Die Ausführungen stützen sich auf die Daten des Familiensurveys 2000 des Deutschen Jugendinstituts (DJI). In die Analysen gehen 5 192 Lebensverläufe von in den alten Bundesländern lebenden Deutschen ein. Von diesen Personen wurde rückblickend eine Partnerschaftsbiografie erhoben, welche die Grundlage der folgenden Analysen ist. Infolgedessen beschränkt sich die Studie auf partnerschaftliche Lebensformen. Die Partnerschaftsbiografie des Familiensurveys ermöglicht die Unterscheidung folgender Lebensformen (im Folgenden synonym "Zustände" genannt): ledig (partnerlos vor einer ersten Ehe), nichteheliche Lebensgemeinschaft (vor einer ersten Ehe; NEL), verheiratet (erste Ehe), getrennt (partnerlos nach einer Ehe, die durch Trennung/Scheidung beendet wurde), verwitwet (partnerlos nach einer Ehe, die durch Tod des Ehepartners beendet wurde), nacheheliche NEL, wiederverheiratet. Zwischen den ersten beiden Zuständen kann man wechseln, solange man nicht geheiratet hat, zwischen den letzten vier Zuständen, nachdem die erste Ehe beendet ist. Von jeder Person ist das Alter bekannt, in dem sie in diese Lebensformen eintrat bzw. sie diese wieder verließ.

Veränderungen der Lebensverläufe

Zuerst sollen einige deskriptive Einblicke in die Veränderungen der Lebensverläufe gegeben werden. Diese sind eine notwendige (aber keine hinreichende) Bedingung für Pluralisierung. Veränderungen versuchen wir im Folgenden durch den Vergleich der Lebensverläufe von Jahrgangsgruppen bzw. Geburtskohorten nachzuweisen. Der Familiensurvey 2000 enthält Befragte der Geburtsjahrgänge 1944 - 1982. Wir fassen sie zusammen zu den Geburtskohorten 1944 - 1957, 1958 - 1967 und 1968 - 1982.

Im Kontext der Pluralisierungsdiskussion wird häufig behauptet, dass es zu einer zunehmenden Bindungslosigkeit kommt. So besagt die Singularisierungsthese, dass ein immer höherer Anteil von Personen ohne Partner lebt, sich also in den Zuständen "ledig", "getrennt" und "verwitwet" (Singles) befindet. Um die Gültigkeit der These zu überprüfen, addieren wir die Anteile dieser drei Zustände.
Abbildung 1 (s. PDF-Version) zeigt das Ergebnis.

In der Jahrgangsgruppe 1944 bis 1957 sinkt der Anteil der Singles auf 16 Prozent. Danach steigt er erstaunlicherweise nur wenig an. Eigentlich würde man aufgrund von Scheidungen und Verwitwungen einen stärkeren Anstieg erwarten, dieser wird aber offensichtlich durch nacheheliche Lebensgemeinschaften und Wiederverheiratungen kompensiert. Bei den beiden jüngeren Kohorten ist der Anteil der Singles höher. In der Kohorte 1944 - 1957 leben mit 30 Jahren 21 Prozent ohne einen Partner in einer gemeinsamen Wohnung, in der Kohorte 1958 - 1967 sogar 32 und in der Kohorte 1968 - 1982 38 Prozent: Das ist ein Anstieg von 17 Prozentpunkten. Eine Tendenz zur Singularisierung ist also durchaus erkennbar. Dies bedeutet umgekehrt, dass die Lebensformen mit Partner abgenommen haben.

Die folgenden Analysen beziehen sich auf Merkmale der Lebensverläufe an sich. Deshalb müssen wir diese vergleichbar machen. Wir tun dies, indem wir uns auf die Altersspanne von 14 bis 35 Jahren beschränken. Damit können in den Analysen nur die Geburtsjahrgänge 1944 - 1965 berücksichtigt werden (2 959 Befragte). Wir vergleichen jeweils die fünf Geburtskohorten 1944 - 1949, 1950 - 1953, 1954 - 1957, 1958 - 1961 und 1962 - 1965.

Die zunehmende Singularisierung ist insbesondere auf den Rückgang der Dominanz der Ehe zurückzuführen, der nicht von einer Zunahme der NELs kompensiert wird. Dies kann man besonders eindrucksvoll anhand der in den sieben Zuständen verbrachten Zeit festmachen (s. Abbildung 2, PDF-Version). Die bis zum Alter von 35 Jahren in einer Erstehe verbrachte Zeit hat über die fünf Geburtskohorten monoton von 10,0 auf 5,9 Jahre abgenommen. Monoton angestiegen ist dagegen die Zeit in den Zuständen "ledig" (von 10,1 auf 12,7) und "NEL" (von 0,5 auf 1,9). Der Rückgang der "Ehezeit" wurde somit nicht von der Zunahme der "Zeit in NEL" kompensiert. Die Westdeutschen verbringen eine immer längere Phase ihres Lebensverlaufs in der Lebensform "ledig". Dieses Ergebnis unterstreicht noch einmal die in Abbildung 1 (s.PDF-Version) beobachtete Singularisierungstendenz.

Eine weitere Veränderung in den partnerschaftlichen Lebensverläufen, die zu einer Pluralisierung führen könnte, ist ein Anstieg der Zahl der Lebensformwechsel (bzw. in der Anzahl der Partner). Mit unseren Daten können wir diese Zahl für jede Person bis zum Alter von 35 Jahren berechnen. Für unsere fünf Geburtskohorten ergibt sich ein Anstieg der mittleren Zahl der Lebensformwechsel. Während die Kohorte 1944 - 1949 im Mittel nur 1,30 Lebensformwechsel hatte, liegt das Mittel in den Kohorten 1950 - 1953, 1954 - 1957, und 1958 - 1961 höher: Es steigt von 1,35 über 1,55 auf 1,67. In der letzten Kohorte sinkt das Mittel allerdings wieder ein wenig (auf 1,58). Den Grund für diese Entwicklung der mittleren Zahl der Lebensformwechsel erkennt man, wenn man sich die Häufigkeit der Zahl der Lebensformwechsel anschaut (vgl. Abbildung 3, PDF-Version). Lebensläufe mit nur einem Ereignis (meist: Heirat) gehen drastisch zurück, entsprechend steigt der Anteil mit zwei Ereignissen. Diese Veränderung ist zum Großteil darauf zurückzuführen, dass immer häufiger eine NEL vor die Heirat tritt. In der jüngsten Kohorte sind Lebensverläufe mit einem bzw. zwei Wechseln in etwa gleich häufig vertreten. Aber auch der Anteil der "bunten" Lebensverläufe (mit vier bis sieben Ereignissen) steigt kontinuierlich an. Zugleich erhöht sich der Anteil der Lebensverläufe ohne Lebensformwechsel, also der Anteil derer, die bis zum 35. Lebensjahr ledig blieben. Es deutet sich eine "Polarisierung" der Lebensverläufe an.

Gibt es eine Pluralisierung individueller Partnerschaftsverläufe?

Diese drei exemplarischen Auswertungen belegen, dass es zu deutlichen Veränderungen in den Lebensverläufen gekommen ist. Es wäre allerdings voreilig, dies als Beleg für eine Pluralisierung der Lebensverläufe zu betrachten. Denn es sind auch Tendenzen erkennbar, die in die entgegengesetzte Richtung weisen. So könnte etwa der deutliche Anstieg der im Zustand "ledig" verbrachten Zeit und der korrespondierende Anstieg der durchgehend Ledigen in der jüngsten Kohorte die Vielfalt in dieser Kohorte wieder reduziert haben. Weiterhin lassen diese Analysen weitgehend offen, ob sich eventuell ein neues dominantes Muster herausgebildet hat. Um zu einer fundierten Aussage kommen zu können, muss man die Vielfalt der Lebensverläufe als Ganzes untersuchen.

Wie aber lässt sich messen, ob es zu einer Zunahme der Vielfalt der Lebensverläufe - zu einer Pluralisierung - gekommen ist? Eine alte Idee, kombiniert mit modernen statistischen Techniken, hilft hier weiter. Sie besteht darin, Lebensverlaufstypen zu bilden. Da aber Lebensverläufe oft komplex sind, lässt sich dies nicht so leicht realisieren. Die moderne Statistik hilft hier weiter. Die Sequenzdatenanalyse ermöglicht eine Bestimmung der Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit (Distanz) von Lebensverläufen. Auf der Basis eines Distanzmaßes kann man in einem zweiten Schritt mittels Clusteranalyse Lebensverlaufstypen bestimmen. Pluralisierung würde dann bedeuten, dass die Verteilung der Befragten auf die Lebensverlaufstypen immer heterogener wird (die "qualitative Varianz" nimmt zu).

Es erwies sich als sinnvoll (inhaltlich wie statistisch), acht verschiedene Lebensverlaufstypen zu unterscheiden: Der erste Typ umfasst Personen, die bis 35 (überwiegend) ledig blieben (also auch keine NEL eingingen), der zweite und dritte Typ Personen, die eine NEL eingingen, aber keine Ehe. Beim zweiten Typ sind dies kürzere Phasen von nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Personen des dritten Typs weisen dagegen (meist) eine längere NEL-Phase auf. Als Nächstes werden vier Ehetypen unterschieden. Typ vier hat vor der Eheschließung eine längere NEL-Phase. Die Typen fünf, sechs und sieben unterscheiden sich hauptsächlich durch den Zeitpunkt der Eheschließung: Heirat mit etwa 20, 25 bzw. 30. Schließlich gibt es noch einen achten Lebensverlaufstypus, der bis zum Alter von 35 Jahren längere Phasen in nachehelichen Lebensformen verbringt (meist nach einer Trennung/Scheidung).

Abbildung 4 (s.PDF-Version) zeigt die so bestimmten Verteilungen der Lebensverlaufstypen für die fünf Geburtskohorten. Man erkennt deutliche Veränderungen in den Verteilungen: Drastisch ist der Rückgang der drei "reinen" Ehetypen fünf, sechs und sieben von 75 Prozent in der ältesten auf 45 Prozent in der jüngsten Kohorte. Zählt man den Typ "voreheliche NEL" - der zugenommen hat - hinzu, so fallen diese Ehetypen immer noch von 79 Prozent auf 52 Prozent. Gestiegen ist dagegen der Anteil der beiden NEL-Typen: von 3 auf 13 Prozent. Dieser Anstieg reicht allerdings nicht aus, um den Rückgang der "reinen" Ehetypen zu kompensieren. In der Folge stieg der Typus "ledig" von 13 auf 28 Prozent. Überraschend mag die Entwicklung der Lebensverläufe mit nachehelichen Lebensformen erscheinen: Sie stiegen von 5 auf 8 Prozent (Kohorte 54 - 57), gingen dann aber wieder auf 6 Prozent zurück. Dies belegt, dass es einem Kurzschluss gleichkommt, vom Anstieg der Scheidungsraten auf einen Anstieg der Geschiedenen in der Bevölkerung zu schließen.

Kann man unter diesen Bedingungen von einer "Pluralisierung" sprechen? Die Verteilungen sind "bunter" geworden (dies zeigt auch die Abbildung 4, PDF-Version), aber ob die Heterogenität tatsächlich zugenommen hat, kann nur eine geeignete statistische Maßzahl sagen. Die "qualitative Varianz" dieser Verteilungen messen wir mit dem so genannten Entropiemaß, einem speziellen Varianzmaß (s. Abbildung 5, PDF-Version). Die Varianz der Verteilungen steigt von 1,63 in der ältesten auf 1,98 in der zweitjüngsten Kohorte. Das Entropiemaß kann bei acht Typen maximal den Wert 2,08 erreichen (wenn jeder Typ gleich häufig vorkommt). Standardisiert man auf diesen Maximalwert (indem man obige Werte durch 2,08 dividiert), so beobachten wir einen Anstieg der Varianz von 0,78 auf 0,95. Der hohe Ausgangswert zeigt, dass es bereits in der ältesten Kohorte eine hohe Vielfalt der Lebensverlaufstypen gab. Es ist also eine Fehlwahrnehmung, wenn man älteren Kohorten eine völlige Homogenität unterstellt. Aber dennoch kam es zu einem weiteren Anstieg der Heterogenität und mithin zu einer Pluralisierung!

In der jüngsten Kohorte beobachten wir allerdings einen Rückgang der Entropie, sie fällt auf 1,93. Dieses Ergebnis mag unerwartet sein. Aber es ist erklärbar. Wie aus Abbildung 4 hervorgeht, wird in der jüngsten Kohorte der Typus "ledig" (in den verschiedenen Spielarten) dominant! Deshalb sinkt die Varianz, der Pluralisierungstrend kehrt sich um. Dies belegt die Problematik eines zweiten Kurzschlusses: Der Trend weg von der Normalfamilie führt nicht notwendigerweise zu einer Pluralisierung. Ein neuer "Standardlebensverlauf" - ledig bleiben bis in die Dreißiger - zeichnet sich ab: Ein Befund, den wir allerdings noch mit einem Fragezeichen versehen möchten. Die aufgrund der Datenlage notwendige Begrenzung der Lebensverläufe auf das Alter 35 könnte für dieses Ergebnis ausschlaggebend sein. Sollte die jüngste Kohorte zu einem erheblichen Teil erst im Alter von etwa vierzig Jahren heiraten, verlöre der Typus "ledig" seine Dominanz, die Verteilung in der jüngsten Kohorte würde "bunter". Ob es tatsächlich eine Trendumkehr im Pluralisierungsprozess gibt, können wir erst in einigen Jahren sicher sagen.

Warum kam es zur Pluralisierung?

Die Standarderklärung für die Pluralisierung ist die zunehmende Individualisierung. Leider ist der Begriff sehr verschwommen. Viele verstehen darunter eine abnehmende Orientierung der Individuen an gesellschaftlich vorgegebenen Werten und Normen. Demnach hätten sich die Entscheidungsspielräume erweitert, es käme zu einer Pluralisierung. In direkter Konkurrenz dazu steht die These des Wertewandels: Die Individuen orientierten sich zwar nach wie vor an Werten, aber deren Inhalt habe sich geändert. Beide Erklärungen können schon allein deshalb nicht zufrieden stellen, weil das Problem nur verschoben wird. Die Fragen, warum die Menschen plötzlich nicht mehr die vorgegebenen Werte befolgen, warum sich diese gewandelt haben, bleiben unbeantwortet.

Eine alternative Erklärung - die hier nur kurz angedeutet werden kann - verweist auf den steigenden Wohlstand in westlichen Gesellschaften. Mit der Wohlstandsentwicklung sind viele ehedem bindende Restriktionen entfallen: Die (rationalen) Individuen können in der Wohlstandsgesellschaft eine Wahl treffen und tun dies auch. Beispielsweise werden "neue" Lebensformen oft erst dann möglich, wenn man sich eine eigene Wohnung leisten kann. Die gestiegene Erwerbsbeteiligung der Frauen macht diese materiell unabhängiger, Alternativen zur Ehe werden möglich. Schließlich geht mit steigendem Wohlstand eine "Konkurrenz der Genüsse" einher, was ebenfalls die Neigung verringern kann, eine Ehe oder Familie zu gründen. Folge der veränderten bisheriger Restriktionen und des daraus resultierenden Verhaltens ist eine Veränderung der Werte und Normen: Der Prozess der Pluralisierung wird nochmals verstärkt.

Welche Veränderungen innerhalb welcher Restriktionen welche Rolle gespielt haben, ist vom Autor dieses Beitrages und Thomas Klein für den Bildungsbereich herausgearbeitet worden. Eine nahe liegende Erklärung der Pluralisierung liegt in der Bildungsexpansion: Zunehmende Bildung eröffnet größere Möglichkeiten; Menschen mit höherer Bildung haben vielfältigere Lebensverläufe. Dies belegen die Daten des Familiensurveys 2000. Aber überraschenderweise weichen auch die Gruppen mit geringerer Bildung vom Normallebensverlauf der fünfziger Jahre stark ab. Die standardisiertesten Lebensverläufe zeigen sich in den mittleren Bildungsgruppen. Der Effekt der Bildung auf die Destandardisierung von Lebensverläufen ist also U-förmig. Folglich kann die Bildungsexpansion den Pluralisierungstrend nicht erklären. Andere Veränderungen im Zuge der säkularen Wohlstandssteigerung scheinen relevanter, was aber noch genauer zu untersuchen wäre.

Pluralisierung in Europa?

Der zweite demographische Übergang lässt sich in allen europäischen Ländern beobachten, allerdings mit großer Variation was Timing und Verlauf betrifft. Er setzte in den sechziger Jahren in den skandinavischen und westeuropäischen Ländern ein. 10 bis 20 Jahre später folgten die südeuropäischen Länder. Mit der Transformation Ende der achtziger Jahre erfasste der Trend schließlich auch die osteuropäischen Länder. Auch der Verlauf des zweiten demographischen Übergangs fällt durchaus unterschiedlich aus. Dies kann hier allerdings aus Platzgründen nicht ausführlich dargelegt werden.

Stattdessen seien einige spezifischere Punkte behandelt. Der für Westdeutschland berichtete Singularisierungstrend ist auch in vielen anderen europäischen Ländern zu beobachten, allerdings mit erheblichen Unterschieden. Für Ostdeutschland lässt sich seit Anfang der neunziger Jahre ein Rückgang der Bindungsquote (Lebensformen "Ehe" und "NEL" zusammen) feststellen, wobei der besonders rasante Rückgang der Ehe durch einen Anstieg der NEL teilweise kompensiert wurde. Die Entwicklung in den neunziger Jahren unterscheidet sich von jener in Westdeutschland (stärkerer Rückgang der Ehe, stärkerer Anstieg der NEL). In einigen Ländern (Frankreich, skandinavische Länder) gab es einen deutlichen Rückgang der Lebensform "Ehe", der aber durch einen ebenso starken Anstieg der Lebensform "NEL" kompensiert wurde. Ganz anders wiederum verlief die Entwicklung in den südeuropäischen Ländern (Italien, Spanien, Portugal). Hier gibt es bis in die jüngste Zeit nur wenige nichteheliche Lebensgemeinschaften. Deshalb konnte der ebenfalls zu beobachtende Rückgang der Ehe nicht kompensiert werden: Die Bindungsquote sank. Besonders stark ist der Singularisierungstrend in Italien. Hier verringerte sich die Bindungsquote (im Alter von 24 Jahren) von 50 Prozent (Kohorte 1944 - 1957) auf 20 Prozent (Kohorte 1968 - 1975). Allerdings handelt es sich nicht um eine "Vereinzelung" im strengen Sinne, denn viele dieser ungebundenen 24-Jährigen wohnen bei den Eltern.

Diese Veränderungen auf europäischer Ebene sind aber nicht notwendigerweise gleichbedeutend damit, dass eine Pluralisierung der Lebensformen stattgefunden hat. Für alle europäischen Länder gilt zwar, dass sie sich weg von der "Normalfamilie" bewegen, ob aber die Vielfalt der Lebensformen zugenommen hat, ist unklar. Bisher existiert keine Studie, wie wir sie für Westdeutschland vorgestellt haben. Aber einige Indizien sprechen dafür, dass in manchen Ländern die Vielfalt der Lebensformen inzwischen sogar wieder abnimmt (wie wir es für Westdeutschland gezeigt haben). In Italien scheint die Lebensform "ledig" eine Dominanz erlangt zu haben. In der Folge dürfte die Pluralität gesunken sein. Ähnliches gilt für die skandinavischen Länder, mit dem Unterschied, dass in diesen (Schweden insbesondere) die Lebensform "NEL" dominant wurde.

Wie lassen sich diese erheblichen Unterschiede in den partnerschaftlichen Lebensformen erklären? Die Erklärung des allgemeinen Trends - weg von der Normalfamilie - folgt dem für Westdeutschland skizzierten Muster, denn alle europäischen Länder haben in den letzten Jahrzehnten eine signifikante Wohlstandssteigerung erfahren. Um die unterschiedliche Richtung des Trends verstehen zu können, muss das Erklärungsmodell allerdings um eine Komponente erweitern werden: um die für demographisches Verhalten bedeutsamen Institutionen. Hier gibt es in den europäischen Ländern erhebliche Unterschiede. Ein in der Literatur besonders häufig diskutiertes Beispiel sind die unterschiedlichen Ausprägungen des Wohlfahrtsstaates.

Diskussion

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Ergebnisse der vorliegenden Analysen auf eine Zunahme der Heterogenität partnerschaftlicher Lebensformen in Westdeutschland hindeuten. Eine Pluralisierung partnerschaftlicher Lebensverläufe hat stattgefunden. Allerdings zeigen sich für die Geburtsjahrgänge ab Mitte der sechziger Jahre Tendenzen einer wieder abnehmenden Pluralisierung. Ähnliches gilt für einige europäische Länder. Ob sich diese Tendenzen bewahrheiten, muss zukünftigen Studien überlassen bleiben.

Zum Schluss sei noch auf einige Argumente eingegangen, welche die Bedeutsamkeit von Pluralisierungsbefunden in Frage stellen. Ein Argument in diesem Zusammenhang lautet, dass die Vielfalt der Lebensformen bereits in früheren Jahrhunderten sehr hoch war. Sie verringerte sich bis in die fünziger und sechziger Jahre und nimmt nun wieder zu. Dies, so heißt es, relativiere die Bedeutsamkeit der "modernen" Pluralisierung. Die historische Familienforschung liefert zwar tatsächlich Indizien dafür, dass die Vielfalt in früheren Zeiten sehr hoch war. Aber das relativiert keineswegs die "moderne" Pluralisierung. Der Anstieg der letzten Jahrzehnte ist real und bedeutsam; er sollte beschrieben und erklären werden.

Schließlich wollen wir noch einen alternativen "Erklärungsversuch" referieren. Das hier präsentierte Material legt die Vermutung nahe, dass die Pluralisierung zu einem Großteil (wenn nicht gar zur Gänze) auf die zunehmende Verbreitung der nichtehelichen Lebensgemeinschaften zurückzuführen ist. Wenn man unterstellt, dass NEL und Ehe "äquivalent" sind, wäre die Pluralisierung nur durch eine "bedeutungslose" legale Differenzierung zweier Lebensformen zustande gekommen. Wir können diese "These" leicht überprüfen, indem wir unsere Lebensformen entsprechend umdefinieren: "NEL" wird "verheiratet", "nacheheliche NEL" wird "wiederverheiratet". Mit der so reduzierten Zahl der Lebensformen kommt es allerdings nach wie vor zu einem Anstieg der Vielfalt. Zwar fällt dieser geringer aus, als oben berichtet, aber das ist zu erwarten, wenn man Lebensformen als äquivalent definiert. Die zunehmende Verbreitung der nichtehelichen Lebensgemeinschaften trägt zum Pluralisierungstrend bei, aber dies kann nicht als alleinige Ursache der Pluralisierung angesehen werden. Die Verschiebung bzw. das Vermeiden der Eheschließung - ohne eine NEL einzugehen - trägt mindestens genauso zur Pluralisierung bei.

Beide Argumente sind Beleg für eine unproduktive Tendenz in der deutschen Familienforschung: Es wird versucht, die Pluralisierung "wegzudiskutieren", was von der eigentlichen Arbeit ablenkt: Die Beschreibung des Phänomens sollte verbessert werden. Die vorliegende Studie beschränkte sich auf partnerschaftliche Lebensverläufe bis zum Alter von 35 Jahren. Eine Erweiterung auf familiale Lebensverläufe bis - sagen wir - 45 wäre wünschenswert. Ähnliche Studien für andere europäische Länder fehlen noch völlig. Schließlich dürfte nach obiger Skizze klar sein, dass die Erklärung der Pluralisierung noch in den Kinderschuhen steckt.

Internetadressen Wissenschaftliche Literatur Einen Überblick zur Familie in Europa gibt das CHANGEQUAL-Projekt:

Externer Link: für Demographie in Rostock:

Externer Link: für Bevölkerungsforschung:

Externer Link: Familienhandbuch:

Externer Link:

Externer Link: System of Social Indicators:

Externer Link:

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur Begriffsgeschichte vgl. Michael Wagner/Gabriele Franzmann, Die Pluralisierung der Lebensformen, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 25 (2000), S. 151 - 173.

  2. Vgl. Norbert Schneider, Pluralisierung der Lebensformen: Fakt oder Fiktion?, in: Zeitschrift für Familienforschung, 13 (2001), S. 85 - 90.

  3. Einen Überblick gibt Rüdiger Peukert, Familienformen im sozialen Wandel, Opladen 20024.

  4. Z.B. Klaus Peter Strohmeier, Pluralisierung und Polarisierung der Lebensformen in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 17/93, S. 11 - 22; M. Wagner/G. Franzmann (Anm. 1).

  5. Weitere Ergebnisse dieser Studie findet man in Josef Brüderl/Thomas Klein, Die Pluralisierung partnerschaftlicher Lebensformen in Westdeutschland, 1960 - 2000, in: Walter Bien/Jan Marbach (Hrsg.), Partnerschaft und Familiengründung, Opladen 2003, S. 189 - 217.

  6. Die Lebensverläufe in der DDR waren in hohem Maße standardisiert. Mit der Wiedervereinigung begannen auch in Ostdeutschland gravierende Veränderungen. Vgl. Abschnitt 5 unten und Karl-Ulrich Mayer, Lebensverlauf, in: Bernhard Schäfers/Wolfgang Zapf (Hrsg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Opladen 20012, S. 446 - 460.

  7. Technisch kann man Lebensverläufe als eine Sequenz von Lebensformen ansehen. Die Distanz von Sequenzen wird mittels der Optimal-Matching-Analyse (OMA) bestimmt. Vgl. Silke Aisenbrey, Optimal Matching Analyse: Anwendungen in den Sozialwissenschaften, Opladen 2000.

  8. Auf der Basis der Lebensverlaufsdistanzen bildet die Clusteranalyse Gruppen (Cluster) von Lebensverläufen, so dass sich die Lebensverläufe innerhalb einer Gruppe möglichst ähnlich, die Gruppen selbst aber möglichst unähnlich sind.

  9. Die Lebensverläufe der drei "reinen" Ehetypen weisen teilweise ebenfalls eine voreheliche NEL auf. Allerdings ist diese NEL von relativ kurzer Dauer. Beim Typ vier dauert die voreheliche NEL im Schnitt drei Jahre.

  10. Eine kritische Diskussion dieser "Erklärung" findet man bei Johannes Huinink/Michael Wagner, Individualisierung und Pluralisierung von Lebensformen, in: Jürgen Friedrichs (Hrsg.), Die Individualisierungsthese, Opladen 1998, S. 85 - 106.

  11. Vgl. Wolfgang Jagodzinski/Markus Klein, Individualisierungskonzepte aus individualistischer Perspektive, in: J. Friedrichs, ebd., S. 13 - 31.

  12. Vgl. J. Brüderl/T. Klein (Anm. 5).

  13. Überblicke findet man z.B. bei Josef Brüderl, Family Change and Family Patterns in Europe, Mannheim 2003 (http://www.nuff.ox.ac.uk/projects/changequal/); Europäische Kommission, Beschreibung der sozialen Lage in Europa 2001, Luxemburg 2001; M. Macura/G. Beets (Hrsg.), Dynamics of Fertility and Partnership in Europe, United Nations 2002; R.C. Schoenmaeckers/E. Lodewijckx, Demographic Behavior in Europe: Some Results from FFS Country Reports and Suggestions for Further Research, in: European Journal of Population, 15 (1999), S. 207 - 240.

  14. Vgl. Thomas Klein/Andrea Lengerer/Michaela Uzelac, Partnerschaftliche Lebensformen im internationalen Vergleich, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 27 (2002), S. 359 - 379.

  15. Konkrete Hinweise hierfür findet man bei Francesco Billari/Chris Wilson, Convergence Towards Diversity? Cohort Dynamics in the Transition to Adulthood in Contemporary Western Europe (MPIDR Working Paper 2001 - 039), Rostock 2001.

  16. Konkretere Ausführungen müssen an dieser Stelle unterbleiben. Vgl. aber Klaus Peter Strohmeier, Familienpolitik und Familienleben in Europa, in: Jürgen Dorbritz/Johannes Otto (Hrsg.), Familienpolitik und Familienstrukturen (BiB-Materialien zur Bevölkerungswissenschaft 108), Wiesbaden 2002, S. 109 - 120.

  17. An dieser Stelle zeigt sich besonders deutlich die Begrenztheit der Individualisierungsthese. Man müsste unterschiedliche "Individualisierungen" postulieren, um die unterschiedlichen Pluralisierungsmuster erklären zu können. Die Unbrauchbarkeit der Individualisierungserklärung wird offensichtlich, sobald man seinen Blick über die Grenzen Deutschlands hinaus bewegt!

  18. "Im 16. Jahrhundert gab es nebeneinander eine bunte Vielfalt von sehr unterschiedlichen Familientypen, in ihrer Verschiedenheit wohl viel differenzierter als in der Gegenwart." Michael Mitterauer, Entwicklungstrends der Familie in der europäischen Neuzeit, in: Rosemarie Nave-Herz/Manfred Markefka (Hrsg.), Handbuch der Familien- und Jugendforschung, Band 1, Neuwied 1989, S. 179 - 194, hier: S. 179. Zum Rückgang der Vielfalt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert vgl. J. Huinink/M. Wagner (Anm. 10).

  19. Vgl. Thomas Klein, Pluralisierung versus Umstrukturierung am Beispiel partnerschaftlicher Lebensformen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 51 (1999), S. 469 - 490, kritisch hierzu N. Schneider (Anm. 2).

Dr. rer. pol., geb. 1960; Professor für Statistik und sozialwissenschaftliche Methodenlehre an der Universität Mannheim.
Anschrift: Universität Mannheim, Fakultät für Sozialwissenschaften, A 5, 68131 Mannheim.
E-Mail: E-Mail Link: jbruederl@sowi.uni-mannheim.de

Veröffentlichungen in den Gebieten Familien- und Gründungsforschung sowie Statistik.