"Förderturm? Dat issen Fördergerüst!" Günter Stoppas Stimme dröhnt über den Ehrenhof von Zollverein, der einst modernsten und leistungsfähigsten Steinkohlenzeche der Welt und seit 2001 UNESCO-Welterbe. "Und zwar ist datt ein Doppelstrebengerüst!"
Stoppa, erkennbar an seiner Bergmannskluft mit Helm, weißem Fahrmantel und Sicherheitsschuhen, ist einer der letzten seiner Art. Einer der wenigen "Ehemaligen" oder auch "Zollvereiner", wie sie sich untereinander nennen, die selbst noch auf der Zeche beziehungsweise Kokerei Zollverein gearbeitet haben, bevor sie sich mit der kreativen Umwidmung dieses herausragenden Monuments des Industriezeitalters anfreundeten und Gästeführer wurden. 150.000 zahlende Besucher aus aller Welt führen die mehr als 120 Guides pro Jahr über den "Weg der Kohle", geben Auskunft über die Produktionsabläufe der gigantischen Anlage, über Arbeits- und Lebensbedingungen.
2018, im Jahr des endgültigen Ausstiegs aus der Steinkohlenförderung in Deutschland, war Stoppa besonders gefragt, als stolzer Zeit- und Kronzeuge einer Epoche, in der die Kohle aus dem Ruhrgebiet Treibstoff der Moderne war, Motor für den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und für das westdeutsche "Wirtschaftswunder". Von diesem Mythos zehrt das Ruhrgebiet bis heute.
Alle wissen es, aber keiner spricht wirklich gerne darüber: Der Abbau konnte seit der Bergbaukrise Ende der 1950er Jahre nur mit massiven Subventionen am Leben gehalten werden – zuletzt mit über 100 Euro pro Tonne. Nach Expertenschätzungen flossen bis zu 200 Milliarden Euro Subventionen in die Branche, ehe sie einen würdevollen Tod sterben durfte. Dazwischen liegt nach Ansicht von Kritikern jede Menge verlorene Zeit, die die Region kaum noch aufholen kann, da durch die jahrzehntelange Subventionierung der Steinkohle mit Blick auf die Zukunft des Ruhrgebiets falsche Weichenstellungen erfolgten.
Die spinnen: ein Pütt als Denkmal!
Der heute 86-jährige Stoppa arbeitete seit 1955 im Bergbau und hat das Auf und Ab und "alles wieder anders" des Ruhrgebiets hautnah erlebt. Nach Stationen auf kleineren Zechen fing er Mitte der 1960er Jahre auf der Zeche Zollverein an, erst als Bauführer, später wurde er Leiter der Abteilung Baubetrieb. Eine sichere Bank, wie er damals glaubte. Als Zollverein 1986 als letzte Zeche der früheren Kohle- und Stahlstadt Essen stillgelegt wurde und 1300 Kumpel zur letzten Schicht ausgefahren waren, blieb er einfach da und gehörte zu den allerersten Gästeführern im Industriedenkmal Zollverein. Anders übrigens als die meisten Kumpel, die die Schließung des Bergwerks als schwere Niederlage erlebten und jahrelang keinen Schritt mehr auf dieses Gelände taten, das sich langsam von der "verbotenen Stadt" in einen öffentlichen Raum für Jedermann wandelte. "Die Kumpel haben sich schlapp gelacht, als sie von den Plänen hörten", erinnert sich Stoppa. "Alle sagten, die spinnen doch. Das hat es noch nie gegeben. Ein Pütt als Denkmal!"
Den meisten Bergmännern war nicht bewusst, dass die riesige Steinkohlenförderanlage Zollverein mit ihren harten und früher teilweise menschenverachtenden Arbeitsbedingungen eben nicht nur ein Arbeitsplatz war, sondern ein bedeutendes Kulturgut mit universellem Wert. Durchgestaltet bis in die Details der Lampen, Treppengeländer und Türgriffe, ist der komplett erhaltene Komplex von Zeche und Kokerei Zollverein ein Gesamtkunstwerk und repräsentiert exemplarisch die soziale und ökonomische Geschichte des Kohle- und Stahlzeitalters sowie ihre spezielle Ästhetik.
Geschaffen von 1927 bis 1932 von den visionären Architekten Fritz Schupp und Martin Kremmer, ist die Zeche Zollverein Schacht XII ein Meisterwerk der Bergbauarchitektur und sozusagen gebautes Design. Noch heute besticht die symmetrische Anordnung der Gebäude auf zwei Blickachsen. Die 20 Einzelgebäude bilden die technischen Arbeits- und Produktionsabläufe der Kohleförderung ab, und zwar nach der Bauhaus-Maxime, dass sich die Form an der Funktion (form follows function) orientieren soll. Dieses funktionale Prinzip verbindet Zollverein mit den zukunftsweisenden Visionen der Bauhauszeit in den 1920er Jahren, die schließlich auch im Ruhrgebiet, dem industriellen Westen, zum Nährboden für die Moderne wurden.
Als die Zeche und Kokerei Zollverein am 14. Dezember 2001 als "Industriekomplex Zeche Zollverein" den Welterbe-Status erhielt und erste Pläne für die künftige Entwicklung die Runde machten, gab es in den umliegenden Quartieren viel Kopfschütteln. Kultur? Das ist doch Killefitt, hieß es. Viele verstanden die Pläne als Entwertung der harten Arbeit im Bergbau. Doch wenn der Steinkohlenbergbau 2019 endgültig Geschichte ist und die Branche sozusagen für immer ins Museum wechselt, hat die ehemalige Industrieanlage längst die Metamorphose geschafft und präsentiert sich als ein internationales Best-Practice-Modell für den Umgang mit industriellem Erbe. Heute ist Zollverein neben dem Kölner Dom die am zweithäufigsten besuchte kulturtouristische Sehenswürdigkeit in Nordrhein-Westfalen mit rund 1,5 Millionen Besuchern jährlich. Der berühmte Doppelbock der Zeche Zollverein gilt als der "Eiffelturm des Ruhrgebiets" und ist zum Symbol für den Wandel der gesamten Region avanciert.
Watt? Tourismus?
Belächelt wird das Thema Fremdenverkehr von einigen Einheimischen und Auswärtigen noch immer. Die Region mit dem nur bedingt werbewirksamen Namen Ruhrgebiet galt ohnehin jahrzehntelang als Zumutung – da hat es das kleine zarte Pflänzchen Tourismus, das viel Fingerspitzengefühl bei der Vermarktung der vermeintlichen postindustriellen Provinz braucht, besonders schwer. Zumal die Agglomeration an der Ruhr mit mehr als fünf Millionen Bewohnern ein einzigartiges baulich-ästhetisches Gebilde ist: Viele Städte sind hier nämlich nicht entstanden wie anderswo – von der Mitte aus wachsend. Im Ruhrgebiet sind sie um die Fabriken und Hochöfen, Schachtanlagen und Fördertürme herum gewachsen – mit unzähligen Kolonien und Kiezen. Und wenn man mal von den Hellwegstädten Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund absieht, scheint das Ruhrgebiet kaum mehr als eine Ansammlung von Zechensiedlungen zu sein, die von einem Netz von Schnellstraßen und Autobahnen zusammengehalten werden – so jedenfalls das gängige Klischee.
Es musste erst ein Schwabe kommen, um den Einheimischen den Wert und das Potenzial der Relikte des Industriezeitalters klarzumachen. Karl Ganser, legendärer Direktor der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park, machte von 1989 bis 1999 im Auftrag des Landes Nordrhein-Westfalen im Rahmen eines städtebaulichen Erneuerungsprogramms für das geschundene nördliche Ruhrgebiet das Thema Industriekultur zum Programm und startete damit einen Bewusstseinswandel in den Köpfen. Bis dahin regierte in den Revierkommunen nämlich die Abrissbirne: Nahezu alles, was nach Kohle roch, wurde jahrzehntelang mit großem Eifer plattgemacht, um Platz für den Strukturwandel zu schaffen – mit der kohlenstaubigen Vergangenheit sollte ein für alle Mal Schluss sein. Ganser machte die baulichen Hinterlassenschaften aus der prägenden Epoche der Industrialisierung des Ruhrgebiets zum großen Thema: Malakoff-Türme und Maschinenhallen, Kokereien und Zechen, Halden und Fördergerüste.
Selbst die Zeche Zollverein – die bereits bei Inbetriebnahme der neuen, modernen Schachtanlage XII im Jahr 1932 als "schönste Zeche der Welt" galt – sollte dem Abrissbagger zum Opfer fallen. 1986, kurz vor der Stilllegung, hatte die Ruhrkohle AG (RAG) als damaliger Bergwerksbetreiber einen bereits unterschriebenen Abrissantrag in der Tasche, bevor der oberste Denkmalschützer des Landes Nordrhein-Westfalen die Anlage sozusagen in letzter Minute, nämlich wenige Tage vor der Schließung am 23. Dezember 1986, unter Denkmalschutz stellte und auf diese Weise rettete.
Manche halten es übrigens für eine Ironie der Geschichte, dass die RAG seit Kurzem zusammen mit der RAG-Stiftung, die sich ab 2019 um die Ewigkeitslasten des Bergbaus kümmern, in einem schicken Green-Building-Neubau unter der Adresse "Im Welterbe 10" auf eben diesem Bergwerk Zollverein firmiert. Andererseits könnte man auch diese Kehrtwendung als erfolgreichen Bewusstseinswandel bezeichnen: Kurz bevor die Grubengold-Ära endet, kehrt das Unternehmen zurück zu seinen Wurzeln.
Jedenfalls wurden die Relikte der Industrialisierung allmählich zu positiven Imageträgern – und der Doppelbock zu einer Art trotzigem Markenzeichen einer Region, die sich neu erfindet. Oder besser gesagt: neu definiert. 2018 hat das Ruhrgebiet ein ganzes Jahr lang unter dem Motto "Glückauf Zukunft!" seine große Vergangenheit gefeiert und mit vielen Veranstaltungen von der Bergparade bis zum spartenübergreifenden Ausstellungsprojekt "Kunst & Kohle" all das beschworen, was die Region geprägt und groß gemacht hat: vom Stolz auf Herkunft und Traditionen, den sprichwörtlichen Zusammenhalt der Kumpel bis zu ausgefeilten technischen Leistungen. "Wir wollen den Steinkohlenbergbau und seine Errungenschaften für die Region würdigen und zugleich Zeichen des Aufbruchs setzen", betonte Werner Müller Anfang 2018 als scheidender Vorsitzender des Vorstands der RAG-Stiftung, die die Festivitäten steuerte und finanzierte.
Die zentrale kulturhistorische Ausstellung zeigte das Ruhr Museum in der ehemaligen Mischanlage auf der Kokerei Zollverein in Essen – ein spektakulärer Ort, der selbst ein Exponat ist und wie kein anderer für den Titel der Schau stand: "Das Zeitalter der Kohle. Eine europäische Geschichte". Auch Stoppa und viele andere "Ehemalige" waren mit ihren Familien, Freunden und mit vor Stolz geschwellter Brust bei der offiziellen Ausstellungseröffnung dabei, die in der ehemaligen Sauger- und Kompressorenhalle auf der Kokerei stattfand. An dem Abend hatte mindestens jeder zweite "Pippi inne Augen", wie es im Ruhrgebiet heißt, und endgültig seinen Frieden mit Kultur und Kreativwirtschaft auf Zollverein gemacht – mit Killefitt halt.
Europas erste Adresse für Gigantomanie und Sprücheklopfen
Allerdings hatten die Regionalstrategen in kluger Voraussicht geahnt, dass bei all dem Kohle-Abschied und dem sentimental-schluchzenden Blick zurück der langsam entstehende Ruf des Ruhrgebiets, eine Hochburg für Zukunftstechnologien zu sein, wohl ziemlich leiden würde. Deshalb lief parallel zum Kohle-Abschied 2018 eine millionenschwere Standortkampagne unter dem Motto "Metropole Ruhr: Stadt der Städte" an – eine konzertierte Aktion, um den Blick nach vorne zu richten und die wirtschaftlichen Stärken des Ruhrgebiets offensiv zu verkaufen.
Ein wenig zu breitbeinig, wie man es von den Entscheidern in der traditionell männlichen Ruhrwirtschaft gewohnt ist, wurde mit der Erinnerung an den Bergbau also gleichzeitig die #ZukunftsMetropoleRuhr beschworen, gekoppelt mit starken Bekenntnissen zur Region. Und aus dem "starken Stück Deutschland", dem Werbeslogan der 1980er Jahre, wurde flugs der "Weltmarktführer des Wandels". Günter Stoppa, das Doppelbock-Fördergerüst, überhaupt das schwerindustrielle Erbe fehlten in dieser Kampagne komplett. Das dürfte damit zusammenhängen, dass man die kohlenstaubigen Vorurteile endgültig abstreifen will, um die Attraktivität des Unternehmensstandortes Ruhrgebiet für eine Zielgruppe aus Entscheidern und jungen Arbeitnehmern nicht zu gefährden.
Für das Ruhrgebiet jedenfalls bedeutet das Ende des Steinkohlenbergbaus eine Zäsur, ein Schlussstrich unter 200 Jahre Industriegeschichte. Schicht im Schacht. Für immer. Und eine Zeitenwende, die von einer breiten Allianz aus Ruhrwirtschaft, Landes-, Kommunal- und Stadtpolitik, Wirtschaftsförderungen bis hin zum Ruhrbischof flankiert wird. Im Sommer 2018 fiel der Startschuss für die sogenannte Ruhr-Konferenz der Landesregierung, die als Signal gesehen wird, um die Zukunft des Ruhrgebiets aktiv zu gestalten. Erklärtes Ziel ist es, die Region Ruhr zu einer erfolgreichen, wettbewerbsfähigen und lebenswerten Metropolregion im digitalen Zeitalter zu entwickeln – mit neuen Perspektiven für die gesamte Region und begleitet von Appellen an den legendären Gründergeist der Industriepioniere, der das Revier einst groß, reich, wirtschaftlich wie politisch bedeutend gemacht hat. Symbolträchtig hatte man auch den NRW-Tag nach Essen gelegt, der an die Gründung des Landes am 23. August 1946 erinnert. Auch diese Eröffnung fand auf Zollverein statt, dem neuen Symbolort des Ruhrgebiets.
Die breite Allianz der Ruhr-Konferenz erinnerte in Vielem an die Gründung des Initiativkreises Ruhrgebiet im Jahr 1989. Seinerzeit hatte eine Runde um den damaligen Ruhrbischof Kardinal Franz Hengsbach, Alfred Herrhausen, Sprecher des Vorstands der Deutschen Bank AG, und Adolf Schmidt, ehemals Vorsitzender der IG Bergbau und Energie, sowie anderen Vertretern aus Unternehmen und Institutionen den Entschluss gefasst, als starker Zusammenschluss der dramatischen Strukturkrise in der Region ein positives Signal entgegenzusetzen und aus dem sterbenden Ruhrgebiet einen starken, vitalen Wirtschaftsstandort und ein attraktives Lebensumfeld zu gestalten. Vieles ist seitdem geschafft, aber erreicht eben noch längst nicht alles.
Glückauf Zukunft?
Während man im Süden des Ruhrgebiets das Thema Kohle schon lange gar nicht mehr auf dem Schirm hat, ächzt der Norden des Reviers nach wie vor unter den Folgelasten der schwerindustriellen Ära. In den ehemaligen Arbeitervierteln fühlen sich viele Menschen zunehmend abgehängt, Arbeitslosenquoten im zweistelligen Bereich sind hier nach wie vor die Regel. Verrückt: Jetzt, wo der Himmel über der Ruhr wieder blau ist, die Stadt Essen 2017 sogar Grüne Hauptstadt Europas war, gibt es für die einfachen Leute keine Arbeit mehr. Die SPD als einstige Partei der Kümmerer und Kohlekumpel verliert in der "Herzkammer der Sozialdemokratie" seit Jahren an Zuspruch. Zuwächse hingegen verzeichnet hier überdurchschnittlich die AfD.
Woher aber sollen neue Arbeitsplätze kommen? Viele Hoffnungen im Ruhrgebiet ruhen derzeit auf einem Zukunftscampus, den der Berliner Investor und Projektentwickler Reinhard Müller rund um den ehemaligen Gasometer der Kokerei Zollverein errichten möchte. Ziel ist es, das Areal als bevorzugten Standort für Unternehmen aus den Bereichen Nachhaltigkeit, Umweltschutz und Energie zu etablieren. 50 Millionen Euro will Müller investieren, 2.000 Arbeitsplätze sollen in dem Gründerzentrum entstehen – nach Berliner Vorbild, wo Müller bereits vor zehn Jahren mit dem Aufbau eines Reallabors für Unternehmen und Startups begonnen hat. Im Zentrum der Ansiedlung auf Zollverein sollen wie in Berlin die Zukunftsthemen Klimawandel, Energiewende und intelligente Mobilität der Stadt stehen.
Ein Vorhaben mit starker Symbolkraft. Und die Schlagzeilen sind ihm gewiss, wenn Zollverein demnächst eine Hochburg für Zukunftstechnologien ist und Start-Ups die Energiewende auf einer Welterbe-Zeche gestalten. Glückauf Zukunft eben. Und Günter Stoppa wird ihnen ganz bestimmt einen Besuch abstatten und erzählen, wie das noch vor 25 Jahren so funktionierte mit der Energie. Als in den 306 Kokskohleöfen auf der einst größten Kokerei Europas 20 Stunden lang die Kokskohle zu Koks gebacken wurde, bevor sie ausgedrückt und dann gelöscht wurde, um in das nächste Stahlwerk transportiert zu werden.