Als im Jahr 2010 Essen für das Ruhrgebiet Kulturhauptstadt Europas war, schrieb der Autor und Kabarettist Frank Goosen in der "Zeit": "Herzlich willkommen, Europa! Wir im Ruhrgebiet sind vorbereitet, und wenn nicht, dann wird improvisiert. Kulturhauptstadt. Schöne Sache. Wissen Sie, was Sie erwartet? Macht nichts, wir sind uns auch nicht ganz sicher. Damit Sie aber nicht so völlig ahnungslos hierherkommen, wollen wir mal vorab ein paar Dinge erklären und klarstellen. Wir Einheimischen stehen bisweilen auf unseren Eisenbahnbrücken, schauen auf die halbherzigen Skylines unserer zusammenwuchernden Gemeinden und denken: Boah! Schön is dat nich.Wir im Ruhrgebiet laden Auswärtige gern ein, zu uns zu kommen, um ihren Begriff von Schönheit zu erweitern. Eine mittelalterliche Garnisonsstadt mit Stadtmauer, Fachwerkhäusern und Fürstenresidenzen schön finden, das kann jeder. Aber auf dem Gasometer in Oberhausen stehen, sich umgucken und sagen: Wat ’ne geile Gegend!, das muss man wollen."
Goosens trockener, selbstironischer Humor gilt als typisch für das Ruhrgebiet. In seinen Romanen und Comedy-Shows lässt er keinen Zweifel daran, dass er das Ruhrgebiet liebt – trotz alledem und wegen alledem. In seinem Kultsong "Bochum" singt eine weitere Ikone des Ruhrgebiets, Herbert Grönemeyer: "Du bist keine Schönheit/Von Arbeit ganz grau/Du liebst Dich ohne Schminke/Bist ’ne ehrliche Haut." Bei Goosen wie bei Grönemeyer ist das Ruhrgebiet geprägt vom Industriezeitalter – Grönemeyer spricht vom "Pulsschlag aus Stahl". Es ist gezeichnet von der Geschichte der Schwerindustrie, die die Landschaft in der Region, die man heute Ruhrgebiet nennt, grundlegend verändern sollte. Auch in seinen weitgehend postindustriellen Landschaften bleibt die Region über die in ihr so reichhaltig erhaltene Industriekultur in ihren Erinnerungshorizonten dieser Zeitschicht seiner Entwicklung verhaftet.
Dabei gibt es im Ruhrgebiet durchaus eine weiter zurückreichende Geschichte. Die Hellwegstädte
Der "rheinisch-westfälische Kohlenbezirk" in der Industrialisierungsgeschichte des langen 19. Jahrhunderts
In den südlichen Regionen des Ruhrgebiets, im Ruhrtal, kam die Kohle fast bis an die Oberfläche, und hier konnte man bereits vor dem 19. Jahrhundert Kohle gewinnen. Lange Zeit gab es aber keinen rechten Bedarf für das "schwarze Gold", denn als Heiz- und Brennstoff konnte man sich des reichlich vorhandenen Holzes bedienen. Erst als im Zuge der Industrialisierung die Kohle zur Energieerzeugung unbedingt benötigt wurde, bekam sie ihren unermesslichen Wert als zentrale Antriebskraft der Industriellen Revolution. Die Dampfmaschine machte es möglich, die Mergeldecke zu durchbrechen und in tiefere Erdregionen vorzudringen, um Kohle zu fördern. In der zweiten Jahrhunderthälfte entwickelte sich der Steinkohlenbergbau in der Region rasend schnell. 1845 wurden gut eine Million Tonnen Steinkohle gefördert; 1914 waren es über hundert Millionen Tonnen. Die Ansiedlung einer Eisen- und Stahlindustrie nach 1850 machte die Region zu einem Pionier der Industrialisierung in den deutschen Landen und zum Motor des Aufstiegs des Deutschen Reiches nach 1871 zur wichtigsten Industrienation Europas, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg sogar das Mutterland der Industriellen Revolution, Großbritannien, als Wirtschaftsmacht überholte.
Die Bedeutung der Kohle für die Region macht sich auch im Namen bemerkbar, der sich für die Region in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend einbürgerte. Sie wurde am häufigsten als "rheinisch-westfälischer Kohlenbezirk" bezeichnet. Besonders die nördlichen Teile des Ruhrgebiets an Lippe und Emscher entwickelten sich nach 1860 von ländlichen, landwirtschaftlich geprägten Regionen zu Industriedörfern, die innerhalb von 20 Jahren von hundert auf hunderttausend Einwohner wuchsen. Die entstehende Industriegesellschaft war eine Migrationsgesellschaft, die Zehntausende von Migranten aus allen Teilen des Deutschen Reiches anzog, insbesondere polnischsprachige Migranten aus den Ostprovinzen des Reiches, die im Ruhrgebiet ihr eigenes Milieu bildeten. Einige Zechen waren bald als "Polenzechen" bekannt. Die polnischsprechenden Bergarbeiter verlangten, sofern sie Katholiken waren, Gottesdienste in ihrer eigenen Sprache, und sie gründeten eigene Gewerkschaften, eigene Sportvereine, eigene Sparkassen und eigene soziale Netzwerke, die sich von ihrer deutschsprachigen Umgebung absetzten. Die Diskriminierung der polnischsprachigen Bevölkerung und Versuche im Kaiserreich, sie zu "germanisieren", stärkten nur ihren Widerstand und die nationalpolnische Agitation unter ihnen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schien vielen Beobachtern die Region durch eine überbordende Proletarität gekennzeichnet, die Vertretern bürgerlicher Schichten durchaus bedrohlich erschien. Bald hatte das Revier einen Ruf als der "wilde Westen" des Kaiserreichs, in dem bürgerliche moralische Werte nicht galten und ein oftmals von Alkohol, Prostitution and anderen Lastern geprägter Alltag herrschte. Aber das Ruhrgebiet war nicht nur in moralischer Hinsicht ein Schreckgespenst des deutschen Bürgertums. Es wurde auch politisch als Hort von Unruhe und potenziellem Umstürzlertum gesehen. Bereits 1889 erschütterte ein bis dahin in dieser Größe noch nicht gekannter Bergarbeiterstreik das Revier. Auch wenn die meisten Forderungen der Bergarbeiter, trotz Einmischung des jungen Kaisers, Wilhelm II., von den selbstherrlichen Unternehmern nicht erfüllt wurden, gründete sich infolge des Streiks doch eine dauerhafte Gewerkschaft, der sozialdemokratische Alte Verband, der nach 1889 die Interessen der Bergarbeiter vertrat – gegenüber renitenten Unternehmern, die einer Ideologie des "Herr-im-Hause"-Standpunkts huldigten. In weiteren großen Streikwellen 1905 und 1912 forderten die Bergarbeiter die Anerkennung ihrer Gewerkschaften, höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Dabei waren sich die Proletarier der Region durchaus nicht einig in ihrer sozialen Position als Arbeiter. Sie waren ethnisch, religiös und politisch gespalten. Am wichtigsten in der Region waren die christlichen Gewerkschaften, die die katholischen Arbeiter mobilisierten. Politisch unterstützten sie die Zentrumspartei. Erst mit einigem Abstand kamen die sozialdemokratischen Arbeiter, die den Kirchen eher skeptisch gegenüberstanden. Die polnischsprachigen Arbeiter hatten, wie bereits angedeutet, ihre eigenen Gewerkschaften und ihr eigenes Milieu.
Die Erfindung des Ruhrgebiets in der Zwischenkriegszeit
War vor dem Ersten Weltkrieg das Ruhrgebiet (schwer)industrielle Herzkammer des Deutschen Reichs, das so manchem braven Bürger ein Schaudern abverlangte, so wurde das Ruhrgebiet nach dem verlorenen Weltkrieg und der Revolution von 1918/19 auch politisch immer bedeutender. Gegen den antirepublikanischen Kapp-Lüttwitz-Putsch von rechts formierte sich 1920 im Ruhrgebiet eine Rote Ruhrarmee, die für einige Wochen die Region weitgehend kontrollierte, bevor sie von rechtsgerichteten Freikorps und regulären Armeeeinheiten im Auftrag der Reichsregierung militärisch besiegt wurde. Die Rote Ruhrarmee stand für das revolutionäre Ruhrgebiet der Arbeiter – immerhin wurde die Region in der Weimarer Republik zu einer Hochburg der Anarchosyndikalisten (in dem kurzen Zeitraum zwischen 1920 und 1922) und der Kommunisten, auch wenn während der gesamten Weimarer Zeit das Zentrum die stärkste Partei im Ruhrgebiet blieb. Ihr gaben die meisten katholischen Arbeiter ihre Stimme.
1920 war nicht nur das Jahr der Roten Ruhrarmee, sondern auch das Jahr der Gründung des Siedlungsverbands Ruhrgebiet (SVR), der ins Leben gerufen wurde, um die Reparationsforderungen der Alliierten über eine Steigerung der Kohleproduktion besser erfüllen zu können. Da zu diesem Zweck weitere 600.000 Menschen im Ruhrgebiet beheimatet werden sollten, bedurfte es eines zentralen administrativen Koordinationsapparates. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte es erste Ansätze zu solch überkommunaler, regionaler Koordination gegeben, vor allem bei der Wasserhaltung. Die Emschergenossenschaft, 1889 gegründet, sollte für Unternehmen und Kommunen die Abwasserregelungen im Emschergebiet kontrollieren, um der Entstehung von Seuchen entgegenzuwirken.Wie wichtig das war, zeigte die Typhusepidemie in Gelsenkirchen 1901. Nach 1901 stellte die Emschergenossenschaft Pläne zur Abwasserreinigung im Emschergebiet auf.
In der Zwischenkriegszeit kamen einige der innovativsten und interessantesten Ideen zur Stadtplanung aus dem Ruhrgebiet. Stadtplaner wie Robert Schmidt gelten heute als Pioniere einer modernen Regionalplanung. Mit dem SVR als eigene regionale Administration war die Region auch zum ersten Mal territorial definiert. Denn wo genau das Ruhrgebiet begann und wo es endete, war von Anbeginn bis heute durchaus umstritten. Welche Stadt und welche Gemeinde gehört noch dazu, welche nicht? In der Zuständigkeit des SVR und seiner Nachfolgeorganisationen bestand und besteht bis heute die Möglichkeit, das Ruhrgebiet territorial abzugrenzen, auch wenn sich dadurch eine gewisse Unschärfe der territorialen Zugehörigkeiten nicht gänzlich vermeiden lässt.
1923 rückte das Ruhrgebiet erneut ins Blickfeld der Nation, als französische und belgische Truppen die Region besetzten, um die stockenden Reparationen des Reiches über eine direkte Kontrolle der Kohleförderung zu kompensieren.
In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre gab es bedeutende Sozialreportagen, die eine Art von Entdeckungsreisen in einen im übrigen Deutschland wenig bekannten industriellen Raum darstellten. Heinrich Hausers mit zahlreichen Fotografien versehene Ruhrgebietsreportage "Schwarzes Revier", 1928 entstanden, zeichnete eine Region, die in ihrem städtischen Alltagsleben ganz von der Schwerindustrie beherrscht war.
Für die Nationalsozialisten war das Ruhrgebiet eher feindliches Terrain. Hier hatten diejenigen Milieus das Sagen, die sich den braunen Horden gegenüber am resistentesten zeigten – das katholische, sozialdemokratische und kommunistische Arbeitermilieu. Nach 1933 unterdrückten die Nationalsozialisten brutal diejenigen, die sich ihnen in den Weg gestellt hatten. Viele Arbeiterführer kamen entweder in den Konzentrationslagern um, oder sie wurden gefoltert und gedemütigt und mussten Deutschland verlassen. Aber die Nationalsozialisten bemühten sich auch, die Arbeiter mit positiven Angeboten für sich zu gewinnen. "Ehre der Arbeit" und "Schönheit der Arbeit" wurden gepriesen, die "Kraft durch Freude"-Gemeinschaft machte Freizeitangebote für junge Arbeiter, all dies gepaart mit den Versprechungen eines rassistischen Sozialstaates. Sie blieben zwar zu einem Gutteil ideologisches Blendwerk, aber sie waren für manche Arbeiter auch Verlockungen und Versprechungen auf eine bessere Zukunft. Im Zweiten Weltkrieg, als auch im Ruhrgebiet ein Heer von Zwangsarbeitern die Rüstungs- und Schwerindustrie am Laufen hielt, konnten viele deutsche Arbeiter einen sozialen Aufstieg verbuchen, der sie zutiefst in die rassistische und unmenschliche nazistische Diktatur verwickelte.
Auferstanden aus Ruinen – das Ruhrgebiet im Wirtschaftswunder und die europäische Einigung
Nach 1945 wollte daran niemand mehr erinnert werden. Es fiel leicht, die Erinnerung an die eigene Verstricktheit in das nationalsozialistische Unrechtsregime abzustreifen, konnte man sich doch als Opfer der Nationalsozialisten und des Krieges neu erfinden. War das Ruhrgebiet, wie andere deutsche Städte, nicht weitgehend unter dem Bombenhagel der alliierten Kriegsgegner in Schutt und Asche versunken? Hatte man nicht zahlreiche Familienangehörige im Krieg verloren? Waren nicht Millionen Deutsche am Ende des Krieges aus Ostmitteleuropa vertrieben worden und mussten nun mühsam in westdeutschen Regionen, wie dem Ruhrgebiet, integriert werden? Hatte sich nicht der sowjetische "Untermensch" bei seinem Vormarsch in Deutschland bestialisch und barbarisch ausgelebt? War die nationalsozialistische Ideologie nicht zumindest im Hinblick auf den sowjetischen Kommunismus gerechtfertigt? Wie sich deutsche Soldaten in Russland verhalten hatten, danach wurde ebensowenig gefragt wie nach den Millionen und Abermillionen toten russischen Zivilisten im Zweiten Weltkrieg.
Im Ruhrgebiet, wie andernorts in Deutschland, konzentrierte man sich auf den Wiederaufbau. Mit alliierter Hilfe wurde das Ruhrgebiet bald zum Zentrum des bundesrepublikanischen "Wirtschaftswunders". Mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, dem Vorläufer der Europäischen Union, avancierte die Region auch zum Schrittmacher der europäischen Einigung in der zweiten Jahrhunderthälfte. Wie bereits um 1900 wurde das Ruhrgebiet erneut zum Synonym einer Migrationsgesellschaft. Zunächst wurden viele der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten integriert, danach kamen viele Wirtschaftsflüchtlinge aus der DDR und schließlich viele "Gastarbeiter" aus Südeuropa und der Türkei. Bei allen Gruppen gab es zunächst große Probleme mit dem Zusammenleben – ähnlich wie bei den Ruhrpolen um 1900 –, aber dennoch entwickelte sich insgesamt über eine lange Zeit ein Mit- und Nebeneinander, das die multikulturelle Gesellschaft des Ruhrgebiets bis heute prägt und auch zu einer Kultur des "Leben und leben lassen" beigetragen hat, die die Menschen in der Region bis heute kennzeichnet.
Die nach 1945 neu gegründeten Einheitsgewerkschaften waren im Ruhrgebiet stark – besonders die Gewerkschaft der Bergarbeiter. Ihr Organisationsgrad lag bei über 90 Prozent, da das Formular für die Mitgliedschaft de facto häufig mit der Einstellung unterzeichnet wurde. Aber auch die IG Metall verzeichnete im Ruhrgebiet hohe Mitgliedszahlen. Politisch zeichnete sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein Wandel im Ruhrgebiet ab. War die Region noch in der Weimarer Republik mitnichten eine Hochburg der Sozialdemokratie, gelang es der SPD nach 1949 zur klassischen "Kümmererpartei" vor Ort zu werden. "Geh mal zu Hermann [dem lokalen Parteisekretär], der macht das schon", wurde zum geflügelten Wort in der Region, und die starken Einheitsgewerkschaften, die eng mit der Sozialdemokratie verbündet waren, taten das ihrige, um ihre Mitglieder auf die SPD zu norden. So wurden im Verlauf der 1950er und 1960er Jahre die meisten Städte und Kommunen sozialdemokratisch, und die Region trug zur Formierung der ersten sozialdemokratisch geführten Landesregierung unter Fritz Steinhoff im Jahre 1956 bei. Zwischen 1966 und 2005 stellte die SPD kontinuierlich die Ministerpräsidenten in Düsseldorf. Daran hatte das Ruhrgebiet einen wichtigen Anteil.
Das Ruhrgebiet in der Deindustrialisierung – Weltmeister der Industriekultur
Das Ende des wirtschaftlichen Booms nach dem Zweiten Weltkrieg wird in der Regel auf das Jahr 1973 datiert. Doch im Ruhrgebiet kam die Krise bereits mit der sogenannten Kohlenkrise Ende der 1950er Jahre. Viele Wirtschaftsfachleute sahen zum damaligen Zeitpunkt darin noch eine zyklische Krise, die sicher bald wieder überwunden war. Im Verlauf der 1960er Jahre zeigte sich allerdings immer deutlicher, dass der Industriezweig trotz erhöhter Modernisierungsanstrengungen nicht von allein den Weg aus der Krise finden würde. Es kam zu ersten Zechenschließungen, und die mächtige Bergarbeitergewerkschaft organisierte Massendemonstrationen unter schwarzen Fahnen. Die schwarzen Fahnen an der Ruhr regten bei einigen Politikern Erinnerungen an die militanten Kämpfe der Zwischenkriegszeit. Doch die industriellen Beziehungen und die politische Kultur in der Region hatten sich massiv gewandelt. Die starke Versäulung in politische Milieus hatte sich aufgelöst, und die konfrontative Haltung der schwerindustriellen Unternehmer gegenüber den Gewerkschaften war einer kooperativen korporatistischen Haltung gewichen. Der "rheinische Kapitalismus" hatte sich im Ruhrgebiet nahezu in Reinform ausgeprägt, sodass Unternehmer, Gewerkschaften und staatliche Institutionen gemeinsam überlegten, wie man mit der Krise umgehen wollte. Das Resultat war die Zusammmenführung aller Steinkohlezechen in der 1969 gegründeten Ruhrkohle AG (RAG), die mithilfe einer auf Jahrzehnte angelegten Subventionspolitik für die deutsche Steinkohle weiterexistieren konnte. So erfolgte ein geregelter Stellenabbau und die zunehmende Schließung von Zechen, ohne dass ein einziger Bergarbeiter "ins Bergfreie" gefallen wäre.
Als die Stahlindustrie in den 1970er Jahren in die Krise rutschte, hatten sich die wirtschaftlichen Bedingungen für eine solche korporatistische Lösung bereits wesentlich verschlechtert. Aber auch hier endeten ikonische Arbeitskämpfe, wie in Hattingen 1986/87 oder in Duisburg-Rheinhausen ab 1987, mit generösen Sozialplänen und politisch abgefederten Versuchen, den Arbeitern zu helfen, neue Arbeit zu finden, nicht zuletzt dadurch, dass neue Industrien im Ruhrgebiet angesiedelt wurden. Ein starker Sozialstaat und starke Gewerkschaften planten einen wirtschaftlichen Strukturwandel, der die Region, anders als andere schwerindustrielle Ballungsräume in der westlichen Welt, nicht zu einer postindustriellen Wüstenlandschaft mit schweren sozialen Verwerfungen abrutschen ließ. Vergleicht man das Ruhrgebiet mit dem rust belt der USA oder mit den zahlreichen schwerindustriellen Ballungsräumen Großbritanniens, wird der Erfolg des Strukturwandels im Ruhrgebiet sehr deutlich.
Die Kohle- und Stahlindustrie hatten das Antlitz der Region seit der Mitte des 19. Jahrhunderts dominiert. Mit der Schließung von Zechen und Stahlwerken wurden nun riesige Flächen in der Region frei, die zudem oftmals mitten in den städtischen Ballungsgebieten lagen. Wie sollte man damit umgehen? Auf einigen dieser Flächen zogen neue Industrien ein. So siedelte sich bereits in den 1960er Jahren das Bochumer Opel-Werk, 2014 wieder geschlossen, auf einem ehemaligen Zechenstandort an. Doch der Abrisshammer wurde nicht überall willkommen geheißen. Massiver Protest formierte sich Ende der 1960er Jahre gegen den Abriss der Maschinenhalle auf Zeche Zollern in Dortmund – einem Juwel des Jugendstils. Es waren in der Tat Kunsthistoriker, die gemeinsam mit Stadtplanern, Konservatoren, Hochschullehrern und Intellektuellen erfolgreich gegen den Abriss zu Felde zogen. Vielerorts gründeten sich Geschichtsbewegungen von unten, die sich für den Erhalt industriekultureller Landschaften einsetzten. Der Kampf um den Erhalt der Arbeitersiedlung Eisenheim in Oberhausen war ein wichtiger Meilenstein dieser Bewegung. Eine Allianz aus Intellektuellen und linken Stadtplanern, allen voran Roland Günter, mit den in der Arbeitersiedlung ansässigen Arbeitern konnte schließlich die lokale Politik davon überzeugen, dass eine Modernisierung und Erhaltung der Siedlung einem Abriss vorzuziehen sei.
Diese Überzeugungsarbeit war oftmals schwierig. Noch bei der Schließung der Zeche Zollverein in Essen 1986 wollte die RAG den möglichst schnellen Abriss und die Sanierung des Geländes, um Kosten zu senken und Neues zu planen. Auch die Gewerkschaften waren in den 1970er und 1980er Jahren kaum Freunde der Industriekultur, ging es ihnen doch vorrangig um den Erhalt von Arbeitsplätzen, nicht um ihre Musealisierung. Doch die soziale Bewegung von unten fand mächtige politische Verbündete, vor allem in der Sozialdemokratie. Der sozialdemokratische Bauminister Christoph Zöpel integrierte die Idee des Erhalts industriekultureller Landschaften in eine moderne Konzeption von Stadtplanung, die vom Betonbrutalismus der 1960er Jahre Abschied nahm. Auf ihn geht unter anderem die Entscheidung zurück, Zollverein unter Denkmalschutz zu stellen und damit die Zerstörung des heutigen Weltkulturerbes zu verhindern. Unter der sozialdemokratischen Regierung von Johannes Rau Ende der 1970er Jahre avancierte die Industriekultur zur Leitkultur des Ruhrgebiets. Sie konnte konstruiert werden als die Kultur "des kleinen Mannes", des "aufrechten Arbeiters" und der "einfachen Leute", unter denen die Sozialdemokratie im Ruhrgebiet die meisten Wähler hatte. Die Sozialdemokratie profilierte sich als erfolgreicher Gestalter des Strukturwandels unter Beibehaltung vieler industriekultureller Standorte, die zu Museen und Landschaftsparks transformiert oder anderen Neunutzungen zugeführt wurden.
Besonders das Dekadenprojekt der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park in den 1990er Jahren etablierte die Industriekultur im Erinnerungshaushalt der Region. Der Gasometer in Oberhausen, der Landschaftspark Nord in Duisburg, die Jahrhunderthalle in Bochum – sie alle und viele andere industriekulturelle Ikonen des Reviers haben ihren Ursprung in der IBA. Ihr Konstrukteur, Karl Ganser, hatte die Fähigkeit, Bündnisse zu schließen und Gelder aufzutreiben für Dutzende von industriekulturellen Projekten, die auch die Ästhetik der Industriekultur in der Region verankerte. Es gab wichtige Vorläufer, etwa die Fotografien von Bernd und Hilla Becher, von Chargesheimer und von Albert Renger-Patzsch, auf deren Visualisierungen Ganser ebenso aufbauen konnte wie auf der starken Geschichtskulturbewegung von unten. Der IBA gelang es auch, die Unternehmer und die Gewerkschaften von der Industriekultur zu überzeugen. So formierte sich in und seit den 1990er Jahren eine überaus einheitliche Erinnerungslandschaft mit mächtigen Erinnerungsakteuren in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Industriekultur wurde zur Sache des rheinischen Kapitalismus.
Startete die Industriekultur in den 1970er Jahren als sozialdemokratisches Projekt, so ist sie spätestens seit den 1990er Jahren zu einem überparteilichen Interesse geworden. Christdemokratisch geführte Landesregierungen sind ihr ebenso verbunden wie sozialdemokratische. Die RAG und die RAG-Stiftung haben sich zu wichtigen Förderern einer vor allem dem Erbe des Bergbaus verpflichteten Industriekultur enwickelt. Die Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur, die auf Initiative der RAG und des Landes NRW 1995 gegründet wurde, vereint unter ihrem Dach wichtige denkmalgeschützte Industrieanlagen des Bergbaus. Das Ruhrmuseum in Essen ist seit seinem Einzug auf der einstigen Kohlenwaschanlage auf Zeche Zollverein zu einem der besten Regionalmuseen der Bundesrepublik geworden, das den industriekulturellen Konsens in seiner Dauerausstellung ebenso nach- wie eindrücklich inszeniert. Die Industriemuseen der Landschaftsverbände Westfalen-Lippe und Rheinland sind auch international außergewöhnlich beeindruckende Museen, die wesentlich zur Institutionalisierung der kulturellen Industrie-Erinnerungslandschaft Ruhrgebiet beigetragen haben. Nach wie vor gibt es in der Region eine der lebendigsten Geschichtskulturen der Bundesrepublik, in der sich Engagement "von unten" verbindet mit zahlreichen Fördermöglichkeiten von oben und einer kooperativen Kultur des Miteinanders.
Mittlerweile kommen Delegationen nicht nur aus anderen europäischen postindustriellen Ballungsräumen, sondern aus der ganzen Welt, besonders viele derzeit aus China, um sich über Strukturwandel und Industriekultur im Ruhrgebiet zu informieren und zu lernen von einem weit über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus so wahrgenommen Erfolgsmodell.
Die Zukunft des Ruhrgebiets
Liegt die Zukunft des Ruhrgebiets also in einem industriellen theme park? Erschöpft sich die Industriekultur in einem cleveren region branding, das neue Touristenströme in die Region bringt? Ist die Ästethisierung von Kohle und Stahl nicht auch eine Verhöhnung derjenigen, die im Bergwerk und auf der Hütte eine äußerst dreckige, gesundheitsgefährdende, gefährliche und oftmals ungeliebte Arbeit machen mussten? Ist die Kommerzialisierung und Kommodifizierung von Industriekultur eine neoliberale Strategie der Enteignung derjenigen, die diese Kultur hervorgebracht haben?
Im nördlichen Ruhrgebiet wählen in einigen Regionen heute bis zu 17 Prozent die rechtspopulistische AfD. Es sind dies die Regionen, die die höchsten Arbeitslosenzahlen aufweisen, in denen die meisten Hartz IV-Empfänger wohnen, wo beinahe jedes zweite Kind in relativer Armut aufwächst. Hier gibt es viele, die am erfolgreichen Strukturwandel nicht partizipiert haben oder zumindest diesen Eindruck haben. Die AfD ist in ihren Hochburgen, ebenso wie Donald Trump im rust belt der USA oder die Rassemblement (bis Juni 2018: Front) National im Nord-Pas-de-Calais in Frankreich, Hoffnungsträger von sozial abgehängten Schichten. Die etablierten Parteien stehen hier vor einer politischen Herausforderung: Es gilt, einen neuen Solidarpakt zu schmieden, der die Schere zwischen Arm und Reich nicht immer breiter werden lässt. Die industriekulturelle Verankerung der kollektiven Erinnerung in der Region bietet hier wichtige Ressourcen, steht sie doch für eine positive Erinnerung an Solidarität und die Werte sozialer Demokratie, die weit über die Sozialdemokratische Partei hinausreichen, auch wenn die SPD historisch die vielleicht beste Inkarnation dieser Idee war. Nicht umsonst warb die AfD im Ruhrgebiet mit einem Plakat eines ehemaligen sozialdemokratischen Stadtverordneten, der zur AfD übergelaufen war, im Kittel des Bergmanns, mit den Worten: "Im Herzen Sozi. Deshalb bei der AfD".
Doch der Rechtspopulismus ist nicht die einzige Herausforderung für das heutige Ruhrgebiet.
Allerdings wäre zu fragen: Wessen regionale Identität? Die meisten Personen, die sich hier angesprochen fühlen, inklusive des Autors, gehören wohl mittlerweile zum neuen Bürgertum, dass die Region mental dominiert. Ausgebildet weitgehend an der diversifizierten Hochschullandschaft der Region, die sich seit Gründung der Ruhr-Universität Bochum 1965 herausgebildet hat und die wohl die mit Abstand größte Erfolgsgeschichte des Strukturwandels darstellt, muss dieses neue Funktionsbürgertum nicht weit schauen, um in der eigenen Familie Berg- und Stahlarbeiter zu entdecken. Hier mischt sich das Familiengedächtnis mit dem regionalen Gedächtnis, wie es in der Industriekultur verankert ist. So ist es nicht überraschend, wenn die Industriekultur ihre begeistertsten Verfechter in den Reihen dieses Bürgertums findet. Sie pilgern zu den Klavier- und Theaterfestivals, die in den industriekulturellen Stätten behaust sind, und sie nutzen die Radfahrschnellwege auf ehemaligen Erzbahntrassen und ergötzen sich an der auf ehemaligen Halden prominent ausgestellten Skulpturen. Sie können sich abends in ihre Designermöbel sinken lassen und bei einem guten Glas Wein, wo die Flasche nicht unter fünf Euro kosten darf, gegenseitig beteuern, wie weit man in der Region und mit der Region gekommen sei.
In ihrem mentalen Horizont wird Industriekultur so zur depolitisierten Selbstbestätigung. Das wird allerdings für die Zukunft kaum ausreichen. Vielleicht ist es an der Zeit, die überbordende Industriekultur der Region wieder zu politisieren und sie zu einer agonalen Erinnerungskultur zu formen,