War 2018 in Bayern wirklich ein "Sommer des Widerstands",
Ein Spezifikum des bayerischen Protestsommers 2018 verdient besondere Beachtung: Er verortete sich nämlich nicht wie zuvor andernorts "rechts",
Tradition und Moderne
Ist die politische Kultur Bayerns derart eigen und vor allem konservativ, wie gemeinhin unterstellt? Im 19. Jahrhundert sowie im beginnenden 20. Jahrhundert hatte Bayern mit für jene Zeit progressiven Verfassungskonstruktionen keinen geringeren Anteil an den Entwicklungsphasen in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur, Kunst und Wissenschaft als andere Länder. Gleiches gilt auch für krisenhafte Wandlungsprozesse, die sich im Zuge der Industrialisierung im Niedergang der Landwirtschaft bis hin zur Proletarisierung des Dorfes ausdrückten. Ebenso war die Tendenz zur Vergesellschaftung des Staates und damit zur Volkssouveränität seit den 1890er Jahren deutlich zu spüren. In vielem war Bayern fortschrittlicher als Berlin und Wien, sodass die moderne Gesellschaftskritik sich im internationalen München und seiner Kulturszene besonders entfalten konnte.
Nach der Katastrophe des Nationalsozialismus wurde der Freistaat ein wesentlicher Faktor der Demokratieentwicklung im neuen Deutschland: durch die Entwicklung einer demokratischen, durchaus plebiszitär und in Ansätzen ökologisch orientierten Verfassung und Praxis bereits 1946, durch maßgebliche Hilfestellung bei der Schöpfung des Grundgesetzes mit dem Konvent von Herrenchiemsee und durch die konsequent verkörperte Rolle als Anwalt des Föderalismus, die sich in Weimar nicht hatte durchsetzen lassen.
Gerade Föderalismus ist eine Voraussetzung für die Bewahrung von Regional- und Heimatbewusstsein. Allerdings ist es ein Irrtum zu glauben, dieses Bewusstsein beruhe auf der unangreifbaren Fortexistenz eines wie auch immer definierten Status quo – schlimmstenfalls eines folkloristischen. Zwar vermögen neue, verunsichernde Herausforderungen, Orientierung an Bewährtem hervorzurufen. Ungewissheiten der Globalisierung tragen zum Beispiel auch lange nach den Anfangsjahren der Bundesrepublik zur Revitalisierung des Heimatbegriffs als Bindung an Vertrautes, an historisch-kulturelle Fundamente bei. Gleichwohl muss diese Bindung immer wieder neu definiert werden und eine Osmose mit der Aktualität eingehen, wie mittlerweile bundesweit diskutiert wird.
Dass Bayern unter den Flächenstaaten der jungen Bundesrepublik der einzige von historischer Kontinuität war, mag hilfreich und identitätsbildend sein, befreit aber nicht von den Zwängen des Wandels und der Umbrüche. Die Politik hat in Bayern stets beides im Auge gehabt: Tradition und Modernisierung. Seine historischen, folkloristischen und administrativen Besonderheiten, monarchische Tradition und Architektur, Trachten und Gebirgsschützen, die Hundertschaft Bereitschaftspolizei – all dies präsentiert der Freistaat Bayern bei gegebenen Anlässen mit Stolz und Wirkung. Die historische Forschung neigt sich mittlerweile diesem Phänomen regionaler Geschichtspolitik intensiver zu – auch anderswo. Heimat und Identitätsbildung sind ein aktuelles Thema.
Elemente der Veränderung
Allerdings ist die politische Gestaltung nicht zu vernachlässigen. Staatsbewusstsein und seine Symbolik würden ohne substanzielle Untermauerung zweifellos leerlaufen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war weniger die Verteidigung seines Sonderbewusstseins die wesentliche Herausforderung für Bayern, als die wirtschaftliche, infrastrukturelle, modernisierende Entwicklung in Angriff zu nehmen. Als Agrarstaat mit geminderter Industrialisierung, ausblutenden Regionen, hoher Arbeitslosigkeit und niedrigem Steueraufkommen, ausgehalten vom Bund und anderen Ländern, wäre es keine Leuchte, sondern eine Last des Föderalismus gewesen. Dass es diese Herausforderung frühzeitig annahm, begründet seine heutige Führungsposition. Die wichtigsten und nachhaltigsten Veränderungen waren dabei die folgenden:
Die Bevölkerung erfuhr zunächst einen Zustrom von zwei Millionen entwurzelten Heimatvertriebenen, allein die Hälfte davon aus dem Sudetengau. Das bedeutete zusammen mit 576000 Evakuierten und Ausländern ein plötzliches Wachstum von 26,5 Prozent.
Die wirtschaftliche Modernisierung erfolgte konsequent und schonend zugleich, um gesellschaftliche Brüche zu vermeiden. Sie förderte Mittelstand und Regionen. Sie entdeckte frühzeitig auch unter landesplanerischen Aspekten die Umwelt, der das erste entsprechende Ministerium auf deutschem Boden gewidmet wurde. Und sie war ökonomisch zukunftsorientiert: Als Mitte der 1960er Jahre das Beratungsunternehmen Prognos AG erstmals ein Gutachten zu den ökonomischen Chancen und Problemen der Bundesländer vorlegte, folgte Bayern im Wesentlichen dessen Empfehlungen, während andere mit Rücksicht auf ihre Wählerschaft abwirtschaftende Branchen behielten, weiterhin sogar subventionierten und dadurch spätere Krisen heraufbeschworen. Das Agrarland Bayern wandelte sich sukzessive zur Industrie- und Hightech-Region. Jüngst drängt es besonders auf Digitalisierung. Einzigartig war die Auflösung erheblicher Anteile des Staatsbesitzes vor eineinhalb Jahrzehnten und der Einsatz der Mittel für moderne Investitionsförderung. Die Konsequenz für die Menschen liegt im radikalen Wandel der Erwerbsstruktur mit dem rasanten Aufstieg des tertiären Sektors und des produzierenden Gewerbes sowie dem Abstieg des Agrarsektors auf 0,6 Prozent 2017 bei einem Ausgangspunkt von 30 Prozent 1950.
Bildungspolitische Offensiven in den 1960er Jahren begleiteten die wirtschaftlichen: Durch eine flächendeckende Versorgung des gesamten Landes mit weiterführenden Schulen, unter anderem mit der Gründung von 100 Gymnasien und sechs Universitäten sowie 20 Fachhochschulen, wurden Bildungsreserven erschlossen und fand zum Beispiel der Einfluss des bischöflichen Knabenseminars sein Ende.
Hinzu trat der Säkularisierungstrend: Der Anteil der Katholiken an der Gesamtbevölkerung ist allein zwischen 1970 und 2011 von 70 auf 54 Prozent gesunken, der Anteil der Protestanten von 25 auf 20 Prozent, während der Anteil der Bekenntnislosen von 3,5 auf 21 Prozent gestiegen ist. Der Anteil der Muslime liegt bei vier Prozent.
Das Ergebnis dieser Modernisierungsprozesse: Bayern hat eine Zuwanderungs-, Dienstleistungs-, Hochtechnologie-, Bildungs- und säkularisierte Gesellschaft. Identität mit der historischen Ausgangssituation, sei es nach 1918 oder 1946, besteht nicht mehr. Traditionsorientierung nimmt ab, Situationsorientierung zu. Das Lebensgefühl bestimmt, ob Tradition eine Chance hat.
Am beschriebenen Wandel ist bemerkenswert, dass 89 Prozent der Bayern diesen selbst auch wahrnehmen. Immerhin sagen in Bezug auf Bayern 83 Prozent "hier ist meine Heimat", davon in Bayern Aufgewachsene 88 Prozent, aus dem Inland Zugezogene 56 Prozent, aus dem Ausland Zugezogene sogar 69 Prozent. Dieser Befund ist unabhängig vom Alter der Befragten. Erfahrene Veränderungen in Wirtschaft, Bildung und Freizeit werden positiv wahrgenommen, andere wie beim gesellschaftlichen Zusammenhalt und der Landschaftsentwicklung durchaus auch kritisch. Am kritischsten werden die Entwicklungen in der Politik und bei der politischen Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger gesehen: 40 Prozent der Befragten empfanden die Entwicklungen 2015 als negativ, 41 Prozent positiv.
Individualisierung und Pluralisierung
Offensichtlich bestimmt politische Gestaltungsleistung nicht mehr zwingend den Grad der gesellschaftlichen Akzeptanz. Emotionale und normative Themen gewinnen an Bedeutung. Sie begründen Kritik an Parteien und in Ansätzen auch am politischen System.
Vor allem aber steht die technologische, ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung nicht still. Rücksicht auf Politik und Parteien nimmt sie nicht. Nicht die Parteien schaffen sich eine Gesellschaft, sondern die Gesellschaft schafft sich Parteien, die ihre Interessen und Positionen artikulieren sollen, die vor allem ihre wachsende Individualisierung und Pluralisierung zum Ausdruck bringen – mit Folgen für die erodierende Konzentration des Parteiensystems. Lebensstile und Lebensgefühle bilden inzwischen andere politisch relevante Milieus als die überkommenen. Der Klosterbruder auf einer "linken" Demonstration, neben vielen anderen, die man früher dort nicht gesehen hätte, zeigt das beispielhaft: ein Entwicklungsprozess, der auch in Bayern seit Langem unterwegs und am Abwärtstrend der Großparteien wie am Wachstum von kleineren zu mittleren Parteien zu sehen ist. Was die Großdemonstrationen an neuen Tendenzen offenbart haben, hat sich kurz darauf bei der Landtagswahl bestätigt.
Damit sind wir mitten in der Aktualität – bei Wahlergebnissen, die den gesellschaftlichen Wandel, die Veränderung von Lebensgefühlen und normativen Orientierungen sowie die Dynamik und Herausforderung internationaler politischer, ökonomischer und ökologischer Entwicklungen reflektieren. Sie spiegeln auch professionelle Versäumnisse wider, diese Prozesse zur Kenntnis zu nehmen – vielleicht sogar Parteienhybris, politisch über ihnen schweben zu können. Dadurch entstehen Lücken politischer Repräsentation, in die problematische Kräfte einsickern, die aber auch geschlossen werden können – etwa durch aktive Bürgerinnen und Bürger, die demonstrieren, Themen setzen und politisches Handeln provozieren.