Die Christlich-Soziale Union in Bayern (CSU) gibt es seit 73 Jahren. Davon war sie 70 Jahre Regierungspartei und führte den Freistaat 50 Jahre lang mit absoluter Mehrheit. In der Geschichte demokratischer Staaten werden sich nur wenige vergleichbare Beispiele finden lassen. Auch Wahlergebnisse jenseits der Marke von 60 Prozent wie bei den Landtagswahlen 1974 und 2003 sind rekordverdächtig. Größer noch als der Erfolg der Partei war stets das Selbstbewusstsein führender CSU-Politiker. Als der damalige Generalsekretär Erwin Huber im Herbst 1994 nach den politischen Perspektiven der CSU befragt wurde, erklärte er: "In Bayern haben die Wittelsbacher 800 Jahre regiert. Wir erst 37. Da is’ noch viel drin."
Wer hoch greift, kann tief fallen: Bei der Landtagswahl im Oktober 2018 verlor die CSU im Vergleich zu 2013 10,5 Prozent der Stimmen und verfehlte mit 37,2 Prozent – dem zweitschlechtesten Ergebnis ihrer Geschichte – die absolute Mehrheit deutlich. Je nach politischer Couleur kennzeichneten Entsetzen, Erstaunen, Schadenfreude oder offene Häme die Berichterstattung. "Bayern aus den Fugen", titelte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", ein "politisches Erdbeben" erkannte die spanische Zeitung "El Mundo", während "Dagens Nyheter" aus Stockholm eine "historische Niederlage" konstatierte. Die "Westfalenpost" sprach sogar von einer "Zeitenwende im Freistaat".
Steht Bayern wirklich vor einer "Zeitenwende"? Es ist Zeit, eine kurze Bilanz zu ziehen,
Letzte ihrer Art?
Die Gründung der CSU 1945/46 als autonome Landespartei entsprach "der konfessionellen, sozialen und regionalen Zerklüftung" der deutschen Nachkriegsgesellschaft"
Der CSU war ihr Charakter als Regionalpartei also gleichsam in die Wiege gelegt, das heißt, sie "verlieh der Identität" Bayerns "politischen Ausdruck" und bediente mit starken Worten das "Narrativ der Legitimation regionaler Differenz".
Die Bayernpartei hatte ihre politische Bedeutung allerdings bereits nahezu vollständig eingebüßt, als die Ära Adenauer 1963 zu Ende ging – und damit war sie nicht allein. Die Bundesrepublik war noch keine 20 Jahre alt, als fast alle Parteien, die sich überwiegend über spezifisch territoriale Faktoren definierten, von der parlamentarischen Bildfläche verschwunden waren. Die Gründe dafür lagen in der Integrationskraft des "Wirtschaftswunders" und in der erfolgreichen Politik der Westintegration, also in dem doppelten Versprechen von Wohlstand und Sicherheit, welches das Provisorium Bundesrepublik und die sie tragenden Parteien zunehmend attraktiv erscheinen ließ. Zu diesen Parteien gehörte auch die CSU – paradoxerweise, hatten doch ihre Vertreter im Parlamentarischen Rat und im Bayerischen Landtag das Grundgesetz 1949 mit großer Mehrheit abgelehnt. Dieses Paradoxon ergab sich zum einen aus der Aktionseinheit mit der CDU, mit der die CSU im Bundestag von Anfang an durch eine Fraktionsgemeinschaft verbunden war, in der sie durch ihre meist sehr selbstbewusste Landesgruppe aber stets als eigene Kraft sichtbar blieb;
Das bayerische Bedürfnis nach Autonomie hatte freilich noch eine andere, europäische Dimension. Die CSU erweiterte nämlich ihre "einzigartige institutionelle Doppelrolle"
Dazu passt die Aussage, der Freistaat sei ein besonderes Stück Deutschland und gleiche Schottland, wo die Scottish National Party für sich beansprucht, eine Nation ohne Staat zu vertreten. Während die Frage nach dem Verhältnis von Region und Nation in Europa aber in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen hat und die Rufe nach mehr Autonomie, sogar nach Unabhängigkeit lauter geworden sind, ist der Föderalismus in Deutschland als Ausdruck von rückwärtsgewandter Kleinstaaterei unter Druck geraten.
Alles auf Anfang?
Wer von der CSU spricht, dachte bis vor Kurzem meist an einen schier unverrückbaren schwarzen Monolithen. Doch dieses Bild verstellt den Blick darauf, dass der Erfolg der bayerischen Unionspartei aus dem Zusammenwirken von ebenso günstigen wie langfristig wirksamen strukturellen Voraussetzungen, politisch-organisatorischen Weichenstellungen und den Fehlern der Mitbewerber um die Wählergunst resultierte. Ebenso ist der jüngste Misserfolg auf die Interdependenz von längerfristigen, schwer beeinflussbaren Prozessen und aktuellen Entwicklungen zurückzuführen. Ein kurzer Blick auf die vier formativen Phasen in der Geschichte der CSU soll dies verdeutlichen.
1945 bis 1966
Die ersten zwei Jahrzehnte ihres Bestehens lassen sich mit "Aufbruch, Krise und Erneuerung" zusammenfassen. 1946 gewann die CSU alle Wahlen mehr oder weniger deutlich und erzielte bei der Wahl zur Verfassunggebenden Landesversammlung sogar 58,3 Prozent der Stimmen. Als "Milieupartei des Katholizismus einerseits" und als interkonfessionelle "Sammlungsbewegung rechts von der SPD andererseits",
Der Sturz in die Opposition war für die CSU ein Trauma, das bis heute nachwirkt. Doch gerade dadurch fand die Partei die Kraft, sich zu erneuern: Personell traten verbrauchte Führungsfiguren von der politischen Bühne ab, programmatisch verschoben sich die Gewichte vom prononciert bayerisch-katholischen zum liberal-konservativen, interkonfessionellen Flügel der Partei, und organisatorisch unternahm eine neue Parteiführung energische Schritte zur Werbung neuer Mitglieder und zum Aufbau eines modernen Parteiapparats. Die CSU profitierte dabei vom Ausbau der öffentlichen Parteienfinanzierung ebenso wie von einem allgemeinen Prozess der Konzentration, der das bundesdeutsche Parteiensystem unter den Bedingungen von wachsendem Wohlstand und Stabilität erfasst hatte. 1962 setzte sich der Bayerische Landtag nur noch aus Vertretern von vier Parteien zusammen. Wie die CSU an der Wende von den 1940er zu den 1950er Jahren unter sozialen Spannungen und politischen Gegensätzen gelitten hatte, kam ihr jetzt die zunehmende Integration der Gesellschaft zugute. 1966 gewann die CSU bei der Landtagswahl mit 48,1 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit der Mandate zurück und regierte erstmals seit 1950 wieder ohne Koalitionspartner.
1966 bis 1978
Diese Erfolge sind umso bemerkenswerter, als sie vor dem Hintergrund eines dramatischen Strukturwandels in der Wirtschaft und Gesellschaft Bayerns gesehen werden müssen.
Anfang der 1970er Jahre begann die CSU, staatliche Symbole wie Löwe und Raute zu besetzen. Damit profilierte sie sich als angeblich einzig legitime Vertreterin bayerischer Interessen. Zugleich führten der sozioökonomische Strukturwandel und der Ausbau der Infrastruktur auch in den ausgedehnten ländlichen Regionen Bayerns zu einer Verbesserung des Lebensstandards und der Lebenschancen für breite Bevölkerungsschichten, deren politische Früchte die CSU ernten konnte. Bei der Landtagswahl 1970 gewann sie 56,4 Prozent der Stimmen, vier Jahre später sogar 62,1 Prozent. Bis Ende der 1960er Jahre hatte es gedauert, das bürgerlich-konservative Lager fast vollständig in der CSU zu sammeln. Bei den Wahlen 1970 und 1974 gelangen der CSU zudem große Gewinne unter der traditionellen SPD-Wählerschaft.
1978 bis 1994
Im letzten Jahrzehnt der "Bonner Republik" war die Dominanz der CSU in Bayern am größten. Mit Franz Josef Strauß als Parteichef und Ministerpräsident verfügte sie bis 1988 über eine international bekannte Führungsfigur, die polarisierend und integrierend zugleich wirkte.
Allerdings sah sich die CSU ab Ende der 1980er Jahre mit drei Herausforderungen konfrontiert. Das erste dieser Probleme betraf die Auseinandersetzung mit dem Erbe, das der 1988 unerwartet verstorbene Franz Josef Strauß hinterlassen hatte: ungelöste Führungsfragen, zu lange aufgeschobene programmatische Diskussionen und vor allem ein zunehmend skandalisiertes System gegenseitiger Gefälligkeiten.
1994 bis 2018
Die Republikaner verschwanden in Bayern nicht zuletzt deshalb wieder, weil die CSU sich auf die Doppelstrategie verlegte, die Partei als rechtsextrem zu brandmarken sowie gleichzeitig ihre Themen zu besetzen und ihre Wählerschaft zu umwerben. Doch das wachsende Integrationsproblem der CSU war unverkennbar: Selbst bei der Landtagswahl 2003, als die CSU mit 60,7 Prozent der Stimmen noch einmal einen glänzenden Erfolg feiern konnte, kam die Konkurrenz von FDP, Republikanern, Freien Wählern und Ökologisch-Demokratischer Partei auf fast elf Prozent der Stimmen.
Neben einer geschickten Identitäts- und Heimatpolitik waren es vor allem die Wohlstandsgewinne, die bei Wahlen lange Zeit der Regierungspartei zugutekamen, sodass es der CSU gelang, ein glaubwürdiges Narrativ der Einheit von Land und Partei zu schmieden. Im Lichte der spürbar gesunkenen Mobilisierungsfähigkeit der CSU und des abnehmenden Konzentrationsgrades des bayerischen Parteiensystems scheint diese Erzählung freilich an Integrationskraft verloren zu haben.
Ausblick
Vergleicht man Fragmentierung und Polarisierung des bayerischen Parteiensystems nach den Landtagswahlen von 1950 und 2018, fallen tatsächlich bestimmte Parallelen auf. Beides lässt auf eine von mehr oder weniger tiefen Spannungs- und Spaltungslinien durchzogene Gesellschaft schließen. Aber schon auf den ersten Blick zeigt sich, dass sich diese erheblich verschoben haben.
Wie ein Blick auf die Wahlergebnisse 2013, 2017 und 2018 zeigt, sind die Konsequenzen dieser Veränderungen nicht so spektakulär, wie es zunächst den Anschein hat – sieht man davon ab, dass mit der SPD eine tragende Säule des bayerischen Parteiensystems bedrohlich ins Wanken gekommen ist. Verglichen mit der Bundestagswahl 2017 verlor die CSU zuletzt nur etwas mehr als ein Prozent der Stimmen. Der eindeutige Wahlsieger waren die Grünen, die mit 17,6 Prozent das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte im Freistaat einfuhren. Die Gewichte zwischen den politischen Lagern haben sich kaum verschoben, wenn man bedenkt, dass die Stimmen der Alternative für Deutschland zu einem erheblichen Teil von ehemaligen Wählerinnen und Wählern der CSU kamen. Hatten CSU, Freie Wähler und FDP 2013 zusammen noch 60 Prozent der Stimmen gewinnen können, so waren es der schweren Verluste der CSU zum Trotz fünf Jahre später noch immer fast 54 Prozent. SPD, Grüne und Linke kamen dagegen zusammen auf 30,5 Prozent der Stimmen, nach 31,3 bei der Landtagswahl 2013. Dazu passt die Beobachtung, dass zwar auch in Bayern "die Zahl der Wechselwähler steigt", aber die "Richtung weiterhin in beachtlichem Maße strukturell mitbestimmt ist". Die Bindungen an sozialmoralische Milieus, "wie locker oder auch nurmehr latent sie vorhanden sein mögen", präformieren also die "politisch-ideologischen Grundorientierungen".
Dennoch dürften die Zeiten einer sicheren Stammwählerschaft und struktureller Mehrheiten ohne große Anstrengungen auf absehbare Zeit vorbei sein. Die CSU wird sich an einen Wählermarkt gewöhnen müssen, der auch in Bayern zunehmend volatil wird.
Der Abschied von strukturellen Mehrheiten muss also nicht bedeuten, dass sich keine situativen Mehrheiten organisieren lassen. Dafür kann die CSU vor allem zwischen drei strategischen Varianten wählen: Die erste steht im Zeichen der Kontinuität, das heißt sie spielt ihre Rolle als verdeckte Bundespartei mit europapolitischem Anspruch weiter. Die zweite würde einen Rückzug auf die Rolle einer bloßen Regionalpartei bedeuten, um die bayerische Bastion auf jeden Fall zu halten. Die dritte käme einem Sprung ins Ungewisse gleich: die Umgründung der CSU zu einer echten Bundespartei, um mit neuen Wählerschichten außerhalb Bayerns ihren politischen Einfluss in Berlin zu sichern und von dort aus auch für den Freistaat Politik zu machen. Überlegungen in diese Richtung hat es immer wieder gegeben.