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Die Verteidigung europäischer Menschlichkeit | 60 Jahre 20. Juli 1944 | bpb.de

60 Jahre 20. Juli 1944 Editorial Die Verteidigung europäischer Menschlichkeit Der 20. Juli 1944 - mehr als ein Tag der Besinnung und Verpflichtung Die geschichtspolitische Verortung des 20. Juli 1944 Auf dem Weg zum 20. Juli 1944 "Nicht alle Deutschen haben ein Herz aus Stein" Der 20. Juli 1944 im deutschen Film

Die Verteidigung europäischer Menschlichkeit

Freya von Moltke

/ 6 Minuten zu lesen

Der deutsche Widerstand erscheint in der Rückschau schwach, und politisch verändert hat er nichts. Doch jede Handlung gegen das Unrecht der nationalsozialistischen Diktatur hat sich gelohnt, weil sie die europäische Menschlichkeit in Deutschland lebendig gehalten hat.

Einleitung

Hochzeitsbild von Freya Deichmann (links) mit Helmuth James Graf von Moltke vom 18. Oktober 1931. Rechts die beiden Mütter. Quelle: commons.wikimedia.org (© Dieses Bild wurde durch den Autor, HopsonRoad auf wikipedia, in die Gemeinfreiheit übergeben. Dies gilt weltweit.)

Am 20. Juli 2004 jährt es sich zum sechzigsten Mal, dass Claus Schenk von Stauffenbergs Attentat auf Hitler und damit der Staatsstreich gegen die nationalsozialistische Diktatur misslang. Es war der Tag, an dem für alle Deutschen und für die Welt zum ersten Mal deutlich sichtbar wurde, dass es in Deutschland Widerstand gegen den Nationalsozialismus gab. Der 20. Juli ist der Tag im Jahr geworden, an dem in Deutschland öffentlich des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus gedacht wird; er ist zum Tag seines Erinnerns geworden.

Ja, es hat deutschen Widerstand gegeben, aber zurückschauend erscheint er schwach. Er blieb erfolglos, und politisch verändert hat er nichts. Die Opfer, die er verlangte, scheinen vergeblich. Das "Dritte Reich" nahm im Namen der Deutschen seinen langen, Menschenleben vernichtenden Lauf bis zu seinem Zusammenbruch. Die Bundesrepublik und die DDR entstanden unter der Obhut und Führung der siegreichen alliierten Mächte.

Was kann ich heute als eine Frau, die die Zeit des Widerstandes von innen miterlebt hat, was muss ich heute noch sagen? Es ist doch schon so lange her. Die Welt sieht ganz anders aus und hat neue Probleme. Aber auch heute noch muss ich klar und deutlich feststellen: Jede Form und jeder Akt des Widerstands gegen den Nationalsozialismus hat sich gelohnt. Nichts davon war vergeblich. Jede Handlung gegen das schreiende Unrecht der nationalsozialistischen Diktatur hat Bedeutung. Es hat sich gelohnt, weil der deutsche Widerstand die europäische Menschlichkeit in Deutschland lebendig gehalten hat.

Mit diesem Satz möchte ich nicht nur die inzwischen bekannten, viel beschriebenen, sowohl gelobten als auch in vielem kritisierten, verschiedenen Gruppen des Widerstands umfassen: den Versuch des Staatsstreichs vom 20. Juli 1944, die Weiße Rose, die Rote Kapelle, die Freiburger Gruppe, den Kreisauer Kreis, Widerstand in den Kirchen und bei den Soldaten, die Zeugen Jehovahs, den Widerstand von Einzelnen wie dem einsamen Johann Georg Elser. Ich möchte auch den Widerstand von Einzelnen oder von kleinen Netzen von Einzelnen einschließen, die nie bekannt geworden sind, die aus Menschlichkeit den Geboten und der Praxis der Nationalsozialisten von Gewalt, Rassenwahnsinn und Lüge entgegengetreten sind. Denn ich möchte behaupten, dass es letzten Endes diese Menschlichkeit ist, die dem gesamten deutschen Widerstand zu Grunde liegt. Gewiss gab es daneben auch andere starke Motive und Inhalte, gab es verschiedene Formen im Widerstand, aber das alles lässt sich auf die Verteidigung der Menschlichkeit zurückführen. Das ist seine Grundlage.

Was wir heute Menschlichkeit nennen, ist in der Geschichte Europas langsam gewachsen. Europa, so reich und wunderbar verschieden es in seinen vielen Ländern geworden ist, hat trotz seiner zahllosen Kriege, Kämpfe und Krisen über die Jahrhunderte hinweg doch ein gemeinsames Fundament der Menschlichkeit entwickelt. In den einzelnen Ländern und Sprachen haben das entsprechende Wort und die entsprechende Vorstellung einen von der jeweils eigenen Geschichte geprägten, besonderen Klang, wie das französische humanité und das englische humanity.

Der Inhalt dieser Menschlichkeit hat sich im Lauf der Geschichte immer wieder verändert. Das Christentum hat den Prozess in Gang gesetzt, aber dieses Fundament hat auch sehr starke, rein säkulare Elemente in seiner Geschichte: Ich nenne nur die Früchte der Französischen Revolution von 1789 und die große Lehre der Solidarität, die der Sozialismus, was immer man von seiner ökonomischen oder politischen Seite denken mag, in der europäischen Welt gestiftet hat. Zu dem, was Menschlichkeit heute bedeutet, konnte es nur kommen, weil ihr Inhalt sich immer wieder gewandelt, verändert und erweitert hat. Es ist das Wesen dieser Menschlichkeit, dass sie sich selbst treu bleibt, indem sie sich verändert. So muss es auch in der Zukunft bleiben. Diese Menschlichkeit hat viele Gesichter, und es gehört dazu, gegen erkanntes Unrecht zu stehen und sich dagegen aufzulehnen. Immer muss die Menschlichkeit gegen den Ansturm ihrer Feinde verteidigt und den Anforderungen einer neuen Zeit entsprechend erweitert werden.

Der Nationalsozialismus war von vornherein und ganz bewusst darauf aus, dieses gewachsene Fundament europäischer Menschlichkeit zu zerstören und an dessen Stelle imperialistischen Rassenwahn zu setzen. Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus hat sich dem widersetzt, hat in seinen Handlungen versucht, das Fundament unserer Menschlichkeit zu erhalten. Es war die Überzeugung, in dieser Richtung tätig zu sein, welche die Grundstimmung innerhalb unserer Gruppe, des Kreisauer Kreises, so positiv machte. Wenn ich auf jene Zeit zurückblicke, dann erscheint sie mir, wie wir sie damals erlebt haben, durchaus nicht düster. Es war eine große Zeit von neuen Freundschaften, von gegenseitigem Vertrauen und einer intensiven, selbstvergessenen Tätigkeit. Die Beschäftigung mit der Zukunft Deutschlands nach dem Fall des "Dritten Reichs", sei es durch Staatsstreich von innen oder durch den Sieg der Alliierten von außen, gab allen Beteiligten neuen Aufschwung. Es war ja politisch eine heterogene Gruppe und sie wollte das auch sein. Sie suchten Kompromisse, wie es die Demokratie verlangt. Aber darin waren sie alle einig: Der Einsatz lohnte sich - sowohl sein Inhalt wie sein Risiko. Und beides - das möchte ich betonen - trugen auch die Frauen mit, ob sie nun an der Tätigkeit der Gruppe unmittelbar beteiligt waren oder nicht. Die Frauen sind nach dem Tod ihrer Männer in ihren langen weiteren Leben dem damaligen Einsatz - jede auf ihre Art - auch treu geblieben.

Mit seiner Verteidigung europäischer Menschlichkeit hat der deutsche Widerstand einen entscheidenden Beitrag zur geschichtlichen Kontinuität geleistet. Er hat die Brücke gebaut, über welche die Deutschen nach dem Fall der nationalsozialistischen Diktatur langsam sich selbst und den Anschluss an Europa wiederfinden konnten. Diese Kontinuität ist ein kostbarer Besitz; dank ihrer werden für uns Deutsche die Zeiten über die Jahre des Nationalsozialismus hinweg verbunden und wird die Zukunft gestiftet.

Um in die Zukunft wirken zu können, bedarf es des Erinnerns und des Weitersagens. Das ist eine wichtige soziale, menschliche Funktion. Vieles liegt da bei den Eltern und Großeltern, liegt in den Familien. Es geschieht aber auch in den Schulen und durch öffentliches Gedenken. Dann kommen die Historiker: Sie sind die Handwerker des Gedenkens. Die Historiker und die historisch Interessierten vermögen durch Wieder-Hervorholen des Vergangenen in Lesern, Lehrern und Beschauern neue Gegenwart und damit Einfluss auf die Zukunft zu erwirken. Auch der kritische Blick ist dazu notwendig, und Kontroversen sind nützlich. Der deutsche Widerstand hat eine ganze Reihe von gewichtigen Historikern gefunden, die sich mit ihm befasst haben. Das hat seinen hilfreichen Einfluss nicht verfehlt.

Ein praktische Beispiel führt wieder in mein eigenes Leben. Im heute polnischen Schlesien hat der Historiker Karol Jonca, der an der Universität von Breslau/Wroclaw lehrt, schon vor der großen Wende im Osten durch Reden und Veröffentlichungen energisch und erfolgreich auf den deutschen Widerstand und auf Kreisau/Krzyzowa als seinen Ort und Namensgeber hingewiesen. Das förderte das neue Projekt in Kreisau, das eine Frucht des deutschen Widerstands wurde. Es ist zunächst nur eine Bürgerinitiative gewesen: Einige Polen, einige Deutsche aus Ost und West, ein Holländer und ein Amerikaner, die sich alle dem Widerstand des Kreisauer Kreises verbunden fühlten, gründeten die polnische "Stiftung Kreisau für europäische Verständigung". Um einen Treffpunkt zwischen Ost und West auf dem Boden von Widerstand gegen die Diktaturen zu schaffen, erwarben sie gleich nach der Wende den Gutskomplex in Kreisau von dem dortigen polnischen Staatsgut. Erst dann nutzten auch die beiden Regierungschefs die Geschichte des Widerstands in Kreisau, um eine bessere Zukunft der Beziehungen zwischen Polen und Deutschland auf dem Gutshof in Kreisau feierlich zu besiegeln. Darum flossen Mittel für den großzügigen Wiederaufbau. Jetzt hat Kreisau Platz für 120 junge Menschen und ein bequemes Gästehaus für 40 Personen, das zu Tagungen und Seminaren einlädt. Im früheren großen, von Säulen getragenen Stall - viel zu schön für Kühe - gibt es eine Cafeteria. Durch die Hilfe junger, tüchtiger pädagogischer Leiter ist ein gutes Programm entstanden. Kreisau lebt.

Kreisau zeigt in einer Ausstellung Bilder und Aussagen aus dem Widerstand gegen die Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Sie zeigt polnischen, tschechischen, ukrainischen, lettischen, russischen Widerstand zusammen mit dem deutschen. Diese Bewegungen entstanden zu verschiedenen Zeiten und hatten verschiedene Ziele. Hat es Sinn, sie nebeneinander zu zeigen? Die Kreisauer Stiftung bejaht das - mit Recht. Sie sind verwandt, weil sich alle diese Bewegungen schließlich auf das menschliche Element, den menschlichen Impuls, die Verteidigung der Menschlichkeit zurückführen lassen.

Zu Ehren des 60. Jahrestages des 20. Juli 1944 und um der Zukunft zu dienen, habe ich hier von der Vergangenheit erzählt. Die Anforderungen der explosiven Welt von heute sind andere, aber sie sind nicht geringer. Ich habe das Vertrauen und die Erwartung, dass in den kommenden Generationen die europäische Menschlichkeit sich neuen Aufgaben öffnet und weiter wirken wird.

Freya von Moltke wurde am 29. März 1911 in Köln geboren. 1931 Heirat mit Helmuth James von Moltke. Gemeinsam mit ihrem Mann war sie Mitglied des Kreisauer Kreis – einer Widerstandsgruppe während der NS-Zeit. 1944 wird ihr Mann verhaftet und ein Jahr später hingerichtet. Freya von Moltke flüchtet mit ihren beiden Kindern. Seit 1960 lebte sie in den USA und verfasste mehrere Bücher (u.a.: Briefe an Freya 1939 - 1945 von Helmuth James Graf von Moltke, München 1991; Erinnerungen an Kreisau, München 1997). Am 1. Januar 2010 verstarb Freya von Moltke.