Einleitung
Anfang August 2004 jährt sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum neunzigsten Mal. Das historische Interesse an der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" (George F. Kennan) ist unverändert groß. Neue oder wieder aufgelegte Bücher, Zeitungsartikel und Magazinserien, Ausstellungen und Fernsehdokumentationen sowie eine steigende Zahl von Internetadressen deuten darauf hin, dass für Historiker, Journalisten, Ausstellungs- und Medienmacher die Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg noch lange nicht abgeschlossen ist.
Dass das sogar wachsende Interesse keineswegs nur medial aufbereiteten "Erinnerungsjahren" geschuldet ist, darauf weisen steigende Besucherzahlen der einschlägigen Museen hin, so etwa das 1992 im nordfranzösischen Péronne an der Somme eröffnete, vorbildlich international konzipierte "Historial de la Grande Guerre" oder die mit modernster musealer Technik inszenierte Dauerausstellung des Weltkriegsmuseums von Ypern (Belgien) "In Flanders Fields". Für Belgier, Briten und Franzosen bleibt der Erste Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis dieser Länder schon aufgrund der immens hohen Zahlen ihrer gefallenen, vermissten und verwundeten Soldaten stets der "Große Krieg" ("De Groote Oorlog", "The Great War", "La Grande Guerre"). Demgegenüber scheint in der Erinnerung der meisten Deutschen der Zweite Weltkrieg die Ereignisse des Ersten inzwischen überlagert zu haben - ähnlich wie das in Russland und anderen Ländern Ost- und Ostmitteleuropas der Fall ist, wo der "Große Vaterländische Krieg" schon durch die unermessliche Zahl der Opfer die Erinnerung an den Ersten weithin verdrängt hat. Inzwischen allerdings beginnt sich in Deutschland das "historische Gedächtnis" beider Weltkriege zu verändern: Mit der zunehmenden Historisierung der Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden beide Weltkriege stärker aufeinander bezogen und gemeinsam "erinnert". Das von General Charles de Gaulle in seinem Londoner Exil geprägte, in den 1950er Jahren von Raymond Aron verwandte und jüngst von Hans-Ulrich Wehler aufgegriffene Schlagwort vom "zweiten Dreißigjährigen Krieg" 1914 bis 1945 macht die Runde.
Für die deutschen Historiker hatte der Erste Weltkrieg nie seine zentrale Rolle in der modernen deutschen und europäischen Geschichte verloren. Natürlich gab es Phasen unterschiedlicher Intensität bei der Beschäftigung der "Zunft" mit diesem Krieg. Der Düsseldorfer Weltkriegsforscher Gerd Krumeich hat von einem historiographischen Paradigma gesprochen, das sich in der Regel etwa alle zehn Jahre verändert habe.
Die Weltkriegshistoriographie 1919 bis 1945
Die Geschichtsschreibung nach dem Ersten Weltkrieg war wie die historisch-politische Debatte in der Weimarer Republik vor allem durch die so genannte "Kriegsschuldfrage" geprägt: Welches Land trug die Verantwortung für den Ausbruch des Krieges? Zur berüchtigten "Dolchstoßlegende" von Rechts gesellte sich bereits unmittelbar nach dem Ende des Krieges eine verhängnisvolle "Kriegsunschuldlegende", an deren Zustandekommen auch Repräsentanten der linken und liberalen Parteien beteiligt waren. Die "Kriegsunschuldlegende" sollte nach dem Willen zahlreicher Weimarer Demokraten als gleichsam emotionale Klammer für die auseinander strebenden politischen und gesellschaftlichen Kräfte der jungen Republik wirken. Damit erwies sich die Ablehnung des Friedensvertrages von Versailles (insbesondere die in Artikel 231 festgelegte Verantwortung für den Weltkrieg) einmal mehr als das einzige "emotional wirksame Integrationsmittel" (Hagen Schulze), über das die Republik gebot. Der Kampf gegen die alliierte "Kriegsschuldlüge" verhinderte aber zugleich den notwendigen historischen Bruch mit der Vergangenheit und trug entscheidend zur politischen wie zur "moralischen Kontinuität" (Heinrich-August Winkler) zwischen dem wilhelminischen Kaiserreich und der Weimarer Republik bei.
Die von Seiten der Regierungen geforderte oder verantwortete Widerlegung der Versailler "Kriegsschuldlüge" überschattete alle anderen historiographischen Fragen. Vor allem dem eigens eingerichteten Kriegsschuldreferat des Auswärtigen Amtes oblag die Aufgabe, wenn schon nicht die vollständige, so doch die relative Unschuld Deutschlands nachzuweisen. Überraschenderweise spielten Universitätshistoriker bei dieser "wissenschaftlichen" Aufarbeitung der Kriegsschuldfrage nur eine untergeordnete Rolle. Zu der professoralen Minderheit, welche die Kampagne mittrug, gehörten die Tübinger bzw. Stuttgarter Historiker Dietrich Schäfer und Johannes Haller. Wenngleich die meisten Historiker, die fast ausnahmslos einen so genannten "nationalen" Standpunkt einnahmen, sich nach 1919 tagespolitisch abseits hielten, blieben doch die politischen Erfahrungen und der "Interpretationsrahmen" (Christoph Cornelißen) des Ersten Weltkriegs prägend. Als engagierte Befürworter der Idee eines historischen deutschen Sonderwegs - selbst der "Vernunftrepublikaner" Friedrich Meinecke sprach von der "Singularität des deutschen Problems" - lehnte die Mehrheit der Historiker die Weimarer Republik als Ausdruck westlichen Staatsdenkens und aufgezwungener politischer Ideen ab. So wurde in vielerlei Hinsicht die 1914 begonnene Kriegsdebatte über "Kultur und Zivilisation" fortgeführt. Was den Ausgang des Ersten Weltkriegs anging, so galt dieser als nicht abgeschlossene Vergangenheit.
Weder in Deutschland noch in Frankreich oder Großbritannien fand der Erste Weltkrieg in den 1920er und 1930er Jahren eine historiographische Darstellung, die jenseits eng gefasster militärgeschichtlicher Fragestellungen wissenschaftlichen Ansprüchen genügt hätte. Das lange Zeit - eigentlich bis in die 1960er Jahre - vorherrschende Thema blieb die unmittelbare Vorgeschichte des Krieges und die alles dominierende Frage nach den politischen Ursachen und Verantwortlichkeiten. Da das Verhalten der deutschen Regierung in der Julikrise 1914 im Nachhinein auch von den engagiertesten Verfechtern deutscher Unschuld als zumindest ungeschickt angesehen wurde, war diedeutsche Geschichtswissenschaft bemüht, die gesamte Zeit "von Bismarck zum Weltkrieg" (Erich Brandenburg) als "Vorgeschichte" des Krieges darzustellen. Dabei suchte sie nachzuweisen, dass sich im Zeitalter des europäischen Imperialismus eine Mächtekonstellation herausgebildet habe, in der das spät erwachte, dann aber gleichsam riesenhaft wachsende Deutschland an der natürlichen Entfaltung seiner Kräfte gehindert worden sei. Deutschland habe sich vor 1914 - so die überwiegende Auffassung der deutschen Historiker - in einem Zustand notwendiger "Verteidigung" nicht allein seiner Interessen, sondern geradezu seiner Existenz befunden. Immer wieder verwiesen sie darauf, dass diese gegen Deutschland gerichtete Konstellation auch in der Julikrise wirksam gewesen sei, symbolisiert etwa in dem Bemühen der späteren Kriegsgegner, die deutschen Anstrengungen zur "Lokalisierung" des Konflikts auf einen "Kleinkrieg" Österreich-Ungarns gegen Serbien zu hintertreiben.
Die vom Reichsarchiv zwischen 1925 und 1944 erarbeitete kriegsgeschichtliche Bilanz "Der Weltkrieg 1914 - 1918" stand ganz in der Tradition preußischer Generalstabswerke des 19. Jahrhunderts. Sie war geprägt vom Bemühen, die "Ehre des deutschen Heeres" (bzw. seiner Generalität) zu wahren und sie gegen jegliche "zivilistische" Kritik abzuschirmen. Die letzten beiden Bände wurden elf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nun vom westdeutschen Bundesarchiv, veröffentlicht. Allerdings lassen sich beim militärgeschichtlichen "Weltkriegswerk" durchaus innovative methodische Ansätze feststellen, etwa mit der Befragung von Zeitzeugen bei fehlenden Primärquellen.
Auch die Historiker der "Siegermächte" unternahmen zunächst keinen Versuch, eine Gesamtdarstellung zu schreiben. Auch bei ihnen dominierte die"Generalstabshistoriographie" (Markus Pöhlmann) sowie eine grundsätzliche Trennung von militärischer und politischer Geschichte. Dies gilt etwa für das große offizielle Werk des französischen Kriegsministeriums "Les armées françaises dans la Grande Guerre", das von Aufbau und Struktur her verblüffende Ähnlichkeiten mit dem 14-bändigen "Weltkriegswerk" des Reichsarchivs aufweist. Allerdings war die der französischen Darstellung zugrunde liegende Argumentation nicht annähernd so defensiv-militaristisch wie die der deutschen.
Die auffällige Zurückhaltung hing mit der weit verbreiteten Scheu vieler Historiker vor der "Zeitgeschichte" zusammen, die quellenmäßig noch weithin als ungesichert galt. Für die deutschen Historiker mag auch die Überzeugung ausschlaggebend gewesen sein, dass der Krieg mit dem Frieden von Versailles nicht aufgehört hatte. Angesichts der fortdauernden Auseinandersetzungen um die neuen nationalen Grenzen in Europa, unter dem Eindruck der Freikorpskämpfe im Baltikum und in Oberschlesien, der Rheinlandbesetzung und des "Kampfes um die Ruhr" sowie geprägt von der in der Gesellschaft der Weimarer Republik vorhandenen allgemeinen Gewaltbereitschaft setzte sich "der Krieg in den Köpfen" (Jost Dülffer) gleichsam als "Krieg nach dem Krieg" fort.
Einen bemerkenswerten Kontrapunkt bildeten die bis heute von der Weltkriegsforschung weithin übersehenen Länderstudien der amerikanischen Stiftung Carnegie Endowment for International Peace. Auch wenn der wissenschaftliche Ertrag der in 18 nationalen Serien (von 1911 bis 1941) versammelten Studien sehr unterschiedlich ausfällt, so enthalten doch etliche der Forschungsarbeiten interessantes Material. Dies gilt für die Untersuchungen sowohl zu den ökonomischen Entwicklungen und staatlichen Maßnahmen während des Krieges wie zu den sozialen und mentalen Kriegsfolgen, beispielsweise Moritz Liepmanns wichtige Studie über "Krieg und Kriminalität in Deutschland" von 1930.
In den ersten Jahren der nationalsozialistischen Diktatur änderten viele deutsche Historiker nur ihre Fragestellung. Statt "Wer war für den Ausbruch verantwortlich?" lautete nun das verbreitete Leitmotiv: "Was ging schief, und wie können wir verhindern, dass sich ähnliche Fehler künftig wiederholen?" Auf der Basis historischer Stereotypen und gleichsam mythischer Beschwörungen von Schlachtenorten wie Tannenberg, Langemarck und Verdun vollzog sich die "Wehrhaftmachung" der deutschen Geschichtsschreibung.
Im Herbst 1940 fanden in Verdun und auf dem Soldatenfriedhof von Langemarck militärische Gedenkfeiern statt, die das Ende des Ersten Weltkriegs symbolisieren sollten. Bereits am 12. Juni 1940 war im "Völkischen Beobachter" ein Bild erschienen, auf dem ein Wehrmachtsoldat zu sehen war, der die Reichskriegsflagge (mit Hakenkreuz) in französischen Boden pflanzte. Darunter stand der Satz, den der Wehrmachtsoldat den imaginierten Kameraden des Ersten Weltkriegs zurief: "Und Ihr habt doch gesiegt."
Die Weltkriegshistoriographie nach 1945
Die westdeutsche Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg während der späten 1940er und in den 1950er Jahren knüpfte nahtlos an die Geschichtsdeutungen in der Weimarer Republik an. Neue Forschungen fanden so gut wie nicht statt; sie wurden auch nicht als notwendig empfunden. Stattdessen wurden ältere Interpretationen neu formuliert, die als Variationen des berühmten Lloyd-George-Verdikts gelten können: "All powers slithered over the brink into the boiling cauldron of war", zumeist übersetzt: "Wir sind alle hineingeschlittert." Bereits die ersten Schriften der beiden bedeutendsten deutschen Historiker nach Kriegsende, Gerhard Ritters "Dämonie der Macht" und Friedrich Meineckes "Deutsche Katastrophe", wiesen jeden Gedanken an eine veränderte Sicht des Ersten Weltkriegs weit von sich.
Aus eben dieser "Burgsicherungs-Mentalität" (Wolfgang Jäger) heraus erklärt sich auch die Heftigkeit der Reaktion auf Fritz Fischers Darstellung und seine Beurteilung der deutschen Verantwortung für den Kriegsausbruch, die dieser 1961 in seinem berühmten Buch "Griff nach der Weltmacht" präsentierte. Die Fischer-Kontroverse wurde zum ersten "Historikerstreit" der deutschen Nachkriegsgeschichte; seine Auswirkungen gingen weit über die historische Zunft hinaus. Publizisten und Politiker, unter ihnen Bundeskanzler Ludwig Erhard und Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß, aber auch große Teile des Bildungsbürgertums reagierten irritiert, teilweise auch aggressiv auf die von Fischer konstatierte Verantwortung der deutschen Eliten für den Kriegsausbruch. Die Reaktionen der meisten Historiker, insbesondere der älteren Generation, reichten von Ungläubigkeit und Schock bis hin zu offener Feindseligkeit.
Zu Recht ist betont worden, dass ohne Fritz Fischers Forschungen und die sich anschließenden deutschen wie internationalen Debatten die moderne Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg nicht nur einen anderen Verlauf genommen, sondern dass es sie in dieser Intensität nicht gegeben hätte. Fischers Thesen und Schlussfolgerungen, die er in einer Reihe von Punkten revidiert und ergänzt hat, stellen heute keine Herausforderung für die Geschichtswissenschaft mehr dar. An der erheblichen Verantwortung des Deutschen Reiches für den Kriegsausbruch zweifelt kaum noch ein seriöser Historiker, wie andererseits Fischers These von der Kontinuität der deutschen Eliten und Kriegsziele ("von Wilhelm II. bis Hitler") inzwischen entschiedenen und substantiellen Widerspruch erfahren hat. Zu ihrer Zeit halfen Fischers Arbeiten und die seiner Schüler dabei, die tradierte nationalkonservative Sicht einer deutschen "Kriegsunschuld" zu überwinden und die Voraussetzungen für einen neuen Blick auf das Kaiserreich wie die Geschichte des Ersten Weltkriegs zu schaffen.
Die Ironie der Fischer-Debatte lag darin, dass Fischer selbst den konventionellen methodischen Ansatz einer klassischen Politik- bzw. Diplomatiegeschichte präsentierte. Seine Darlegungen basierten fast ausschließlich auf regierungsamtlichen und anderen offiziellen Quellen. Fischer lehnte es ab, die Erinnerungsliteratur zum Weltkrieg oder auch Autobiographien der Protagonisten als Primärquellen heranzuziehen. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Fragestellungen waren weitgehend ausgeklammert oder blieben den politischen Entscheidungen untergeordnet. Erst allmählich - gleichsam mit jeder Neuauflage seiner Weltkriegsstudien - erweiterte sich Fischers politik- und diplomatiegeschichtlicher Horizont durch die Einbeziehung sozioökonomischer Faktoren über die Ursachen des Krieges ebenso wie die von ihm propagierte Kontinuität zwischen dem wilhelminischen und dem nationalsozialistischen Deutschland. In dieser Hinsicht trug Fischer nicht wenig zum Theorem eines deutschen "Sonderwegs" (insbesondere Bielefelder Provenienz) bei.
In den 1970er Jahren erschienen eine Reihe grundlegender Studien aus dem Umkreis der Hamburger Schule Fritz Fischers, aber auch von anderen Historikern, die verstärkt sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen aufgriffen. Naturgemäß stand die Organisation der Kriegswirtschaft im Zentrum, aber auch Ursache und Auswirkung der kriegsbedingten Inflation, der Beziehungen auf dem Arbeitssektor sowie allgemein die politischen und ökonomischen Verwerfungen innerhalb der deutschen Gesellschaft als Folge des Krieges.
Die beiden wichtigsten und zugleich einflussreichsten Arbeiten dieser Forschungsperiode waren die Arbeit des amerikanischen Historikers Gerald D. Feldman über "Army, Industry and Labor" sowie Jürgen Kockas Studie über die deutsche "Klassengesellschaft im Krieg". Insbesondere Kockas Anregung, die Ursachen der Novemberrevolution aus den gesellschaftlichen Verteilungskonflikten der Kriegsjahre zu erklären, stieß auf große Resonanz. Kockas Studie ist ein treffendes Beispiel für die in den 1970er Jahren dominante "historische Sozialwissenschaft" mit ihrer vielleicht notwendigen Einseitigkeit in Bezug auf die von ihr aufgeworfenen sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Fragen.
Die neue Weltkriegsforschung: Alltags- und Mentalitätsgeschichte
Seit Mitte der 1980er Jahre beobachten wir eine sehr unterschiedliche Herangehensweise der Historiker an die Geschichte des Ersten Weltkriegs. Es begann die Rückkehr des Individuums auf die historische Bühne und die Entdeckung des methodischen Ansatzes der so genannten "Alltagsgeschichte". "Alltag" ist kein exakter wissenschaftlicher Begriff, eher handelt es sich um einen "Sammelbegriff für unterschiedliche Formen und Annäherungen an die Alltagserfahrungen von Menschen" (Detlev Peukert).
Trotz der zweifellos vorhandenen Wertschätzung sozialhistorischer Konzepte und Ansätze lautete der Haupteinwand, den die Alltags- und Mentalitätshistoriker gegenüber einer reinen Strukturgeschichte erhoben, dass diese weithin eine "Geschichte des Krieges ohne den Krieg" sei.
Besonders in Großbritannien bestand schon immer ein ausgeprägtes Interesse an dem unbekannten Krieger, den "nur Gott kennt" (wie es in Rudyard Kiplings Formulierung "known only unto God" auf englischen Soldatengräbern eingemeißelt steht). Die Bedeutung des gemeinen Soldaten unterliegt zwar Schwankungen der historischen Konjunktur, doch in den Büchern von John Keegan, Denis Winter, Martin Middlebrook und Lyn Macdonald - um nur einige zu nennen - war die Figur des "Tommy Atkins" - wie man den gemeinen Soldaten in Großbritannien zu nennen pflegt - stets vorhanden.
Verglichen mit Großbritannien und Frankreich war das Interesse der deutschen Historiker am "kleinen Mann" (oder der "kleinen Frau") nur wenig ausgeprägt. Die Quellenedition der deutsch-amerikanischen Historikerin Hanna Hafkesbrink, die diese 1948 unter dem Titel "Unknown Germany. An inner chronicle of the First World War based on letters and diaries" veröffentlichte, blieb in Deutschland weithin unbekannt.
Mit dem Paradigmenwechsel in der Weltkriegsforschung hin zu einer Geschichte des Alltags im Krieg richtete sich das Interesse der Historiker verstärkt auf das "Kriegserlebnis": Wie erlebten Menschen aller Schichten - die Soldaten an der Front wie auch Frauen, Männer und Kinder in der Heimat - den Krieg? Hat der Krieg neue soziale Gegensätze geschaffen, oder bestätigte er nur den bestehenden gesellschaftlichen Status? Was bedeutete die Trennung der Soldaten von ihren Familien? Welche Rollen wurden den Frauen innerhalb und außerhalb der Familie zugewiesen? Brachte der Krieg für sie - wie gerne behauptet wird - einen Zugewinn an gesellschaftlicher und politischer Emanzipation? Welches Bild von den Weltkriegsfeinden existierte in der Bevölkerung und welche Mechanismen zu seiner Stabilisierung waren notwendig? An welche Ereignisse erinnerten sich die Menschen nach 1918, und wie gingen sie mit dieser Erinnerung unter den Bedingungen der Nachkriegsgesellschaft um?
Diese Art des "Kriegserlebnisses", die sowohl die Erfahrungen der Schützengräben als auch die der "Heimatfront" darzustellen trachtete, hatte wenig mit jenem soldatischen Blick gemein, der vor allem die nationalistische Erinnerungsliteratur der Weimarer Zeit beherrscht hatte. Zwischen Ernst Jüngers Tagebuchbeschreibungen des "stahlgewitternden" Krieges und seiner literarischen Schöpfung eines "Neuen Menschen" (des kämpfenden Mannes) auf dem Schlachtfeld und der empirischen Rekonstruktion der Kriegswirklichkeit durch die Alltagshistoriker liegen Welten - einmal abgesehen von Jüngers radikal-ästhetischen und auch politischen Auffassungen. Die Mehrheit der Kriegsteilnehmer konnte sich wohl kaum mit demvon ihm propagierten Draufgängertum der "Fürsten des Grabens mit den harten, entschlossenen Gesichtern (...) mit scharfen blutdürstigen Augen" identifizieren, wie Jünger die Soldaten an der Westfront in seinem frühen Werk "In Stahlgewittern" zu charakterisieren suchte.
Die zu Beginn des Krieges propagierten Ideale der individuellen Tapferkeit und des selbstlosen Einsatzes für das Vaterland wurden rasch obsolet; gefragt waren Leidensfähigkeit und Durchhaltevermögen unter widrigsten Verhältnissen. Der heldenhafte Kampf unter den Bedingungen des Stellungskriegs reduzierte sich auf die Erfahrung von Kälte, Schlamm und Nässe, auf das Ertragen von Ungeziefer und Krankheiten und die verzweifelten Versuche, dem Artillerie- und Schrapnellbeschuss zu entkommen. Angesichts des anonymen Massensterbens verlor der Tod des Einzelnen seine Sinnhaftigkeit, nicht nur deshalb, weil die Körper der Gefallenen häufig bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt waren.
Entscheidend für die Beschäftigung mit Kriegsalltag, Mentalitäten und den Erlebnissen der Menschen im Krieg war nicht zuletzt ein erweiterter Umgang mit den Quellen: mit Tagebüchern und Erinnerungen, mit Front- und Soldatenzeitungen, mit Bildern und Fotografien sowie vor allem mit den Kriegsbriefen, die in beide Richtungen zwischen der Front und der Heimat versandt wurden, der so genannten Feldpost. Vor allem die Entdeckung der Soldatenbriefe als einer bis vor kurzem noch weithin ungesicherten "popularen" Quelle erwies sich als wichtige Informationsgrundlage.
Die Heranziehung privater Briefe zur Rekonstruktion des "Kriegsalltags" (Peter Knoch) ist unerlässlich, um jene Menschen zum Sprechen zu bringen, die sonst stumm geblieben wären. Einfache Soldaten, Bauern, Arbeiter und Angestellte wurden im Krieg angehalten - die Soldaten in regelmäßigen Abständen durch die so genannte "Schreibstunde" an der Front oder in der Etappe-, über ihre Erlebnisse Rechenschaft abzulegen. Natürlich gab es eine militärische Zensur, aber diese hatte auf die Art und Weise, wie Soldaten mit der Heimat kommunizierten, geringe Auswirkungen.
Auf dem Weg zu einer Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges
Die Vielfalt der Quellen und die offene Herangehensweise bei der Suche nach dem Alltagsleben im Krieg verweisen auf eine historiographische Tradition, die sich in Frankreich als "Annales-Schule" etabliert hat. Obgleich die "histoire des mentalités", wie sie von den Straßburger Historikern Marc Bloch und Lucien Febvre in den späten 1920er Jahren begründet wurde, über keine verbindliche Theorie verfügt, hat sie Wege aufgezeichnet, wie sich Mentalitäten, kollektive Wahrnehmungen und Erfahrungen "einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zu einer bestimmten Zeit", erforschen lassen.
Der amerikanische Historiker Jay Winter unterstreicht den Einfluss der Annales-Schule auch für die britische Weltkriegsforschung. Er attestiert ihr, dass sie "zahlreiche Elemente der Kulturgeschichte des Großen Kriegs hervorgebracht" habe.
Deutsche Historiker griffen mentalitätsgeschichtliche Fragen zunächst nur zögerlich auf. Die erste Untersuchung über Kriegsmentalität, die eine traditionelle Sozialgeschichte und die neue Alltagsgeschichte mit ihrer "Sicht von unten" verband, war Volker Ullrichs Buch über Hamburg im Ersten Weltkrieg mit dem seinerzeit fast provozierenden Titel "Kriegsalltag".
Seit einigen Jahren haben die deutschen Historiker damit begonnen, sich mit der kulturellen Verarbeitung des Weltkrieges, seiner Gedächtnis- und Erinnerungsgeschichte, zu beschäftigen. Entscheidende Anstöße kamen von dem amerikanischen Historiker George L. Mosse, dessen Arbeiten zum "Kult der Gefallenen" ("Fallen Soldiers") und zum "Mythos des Kriegserlebnisses" starke Beachtung fanden.
Im Umkreis des "Historial de la Grande Guerre" in Péronne, dem derzeit aktivsten internationalen Forschungszentrum zum Ersten Weltkrieg, hat in jüngerer Zeit eine Forschungsrichtung Auftrieb erhalten, welche die im Weltkrieg häufig feststellbare "Kriegseschatologie" als Konsequenz eines teilweise als "heilig" aufgefassten "Kriegs der Kulturen" betrachtet.
Die hier skizzierten Ansätze einer Alltags-, Mentalitäts- und Erinnerungsgeschichte gestatten es, sich auch um eher traditionelle Themen und historische Felder zu bemühen und diese mit aktuellen historiographischen Konzepten zu verbinden. Dies gilt beispielsweise für die vernachlässigte Strukturgeschichte, aber auch für die traditionelle Kriegs- und Militärgeschichte. Bedarf besteht nach wie vor an einer vergleichenden Betrachtung politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und mentaler Prozesse. Die von Jay Winter und Jean-Louis Robert auf den Weg gebrachten sozioökonomischen und demographischen Forschungen zu drei europäischen Hauptstädten kriegführender Staaten (London, Paris, Berlin) stellen ein beeindruckendes Zwischenergebnis dar.
Woran es der deutschen Weltkriegsforschung mangelt, ist ein allseits akzeptierter Begriff, der die vielfältigen Ansätze verbindet. "Kulturgeschichte des Krieges" - dieser von angelsächsischen und französischen Historikern adaptierte Terminus ist wegen seiner internationalen Konnotationen attraktiv, in der deutschen Diskussion wirft er aber Probleme auf: "Kulturgeschichte" scheint historisch überfrachtet, die Wurzeln dieses Begriffs reichen tief in die deutsche Philosophie und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts zurück. Zudem weist "Kultur" in Verbindung mit dem Ersten Weltkrieg auf die Ausbildung eines nationalen "Sonderwegsbewusstseins" hin, das bereits vor 1914 alle Zeichen eines politischen und gesellschaftlichen Überlegenheitsanspruchs gegenüber anderen Nationen in sich barg.
Kulturgeschichte des Krieges als ein gegenüber anderen Human- und Sozialwissenschaften offenes Konzept, wie es jüngst von Ute Daniel als Diskursangebot vorgestellt wurde,