Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Zeit für Privatheit | Zeitverwendung: Männer, Frauen, Kinder | bpb.de

Zeitverwendung: Männer, Frauen, Kinder Editorial Zeitbalancen Grenzenlose Zeiten Zeit für Privatheit Wo bleibt die Zeit? Geschlechtsspezifische Unterschiede im Umgang mit der Zeit Zeitprobleme in der Beschleunigungs- Gesellschaft

Zeit für Privatheit Bedingungen einer demokratischen Zeitpolitik

Christel Eckart

/ 16 Minuten zu lesen

Neue Konzepte von Arbeit und Zeit sind daran zu messen, ob und wie sie den Bürgerinnen und Bürgern Ressourcen zur Verfügung stellen, die ein Engagement ermöglichen: sowohl außerhalb der Erwerbsarbeit als auch der Familienarbeit.

Orientierung an fürsorglicher Tätigkeit als Kriterium von Zeitpolitik*

Die sozialen Bedingungen und die Unterschiede im Umgang und in der Erfahrung mit Zeit von Frauen und Männern haben viele empirische Studien beschäftigt. Die feministische Forschung hat das vielseitige, gleichzeitige In-Beziehung-Stehen (als das wir Zeitprobleme beschreiben können) von Frauen materialreich untersucht: die Balanceakte alltäglicher und biografischer Zeitarrangements in Familie und Beruf; die Syntheseleistungen, die Zeitbedürfnisse von Kindern und die geregelten Tagesläufe von Erwachsenen miteinander zu verbinden; die eigene Lebensführung zu planen und auch für die "Wechselfälle des Lebens" offen zu sein. Die inzwischen eingeschliffene Formel von der "Vereinbarkeit von Familie und Beruf", die hergestellt oder ermöglicht werden soll, verdeckt nur zu leicht, welche Konflikte zwischen den verschiedenen Beziehungsformen bestehen. Diese lassen sich nicht einfach durch quantitative Zeitregelungen umgehen oder lösen. Doch können Zeitregelungen politisch danach beurteilt werden, ob sie die gesellschaftliche Bedeutung von fürsorglichen Beziehungen und die individuellen Bedürfnisse danach anerkennen.

Es gibt eine lange Tradition in der Frauenbewegung und Frauenforschung, die Erfahrungen des Sorgens gegen die Dominanz und die wachsende Monokultur kapitalistischer Lohnarbeit zu verteidigen und ihrer Bedeutung für das persönliche und gesellschaftliche Leben Gewicht, Ausdruck und politische Stimme zu verleihen. Die breite Diskussion um die Haus- und Familienarbeit der Frauen in den siebziger und achtziger Jahren hatte in Deutschland großen Einfluss auf die sozialwissenschaftlichen Erörterungen um eine Erweiterung des Arbeitsbegriffs. Ab den späten achtziger Jahren hat sich die feministische Kritik an der Konstruktion des Wohlfahrtsstaates auf Kosten der Frauen und ihrer unbezahlten Arbeit und fürsorglichen Tätigkeiten noch einmal in weitreichenden Analysen zu den vergessenen Voraussetzungen sozialstaatlicher Regelungen niedergeschlagen. Untersucht wurden die Geschlechterarrangements, die zur Verbindung von fürsorglichen Beziehungen, Erziehungs- und Fürsorgearbeit sowie beruflichen, ökonomischen Strategien der Existenzsicherung erforderlich sind.

Die kritischen Anstöße aus der feministischen Forschung und die politischen Forderungen nach gerechter Verteilung von Rechten, Anforderungen, Belastungen und Anerkennung in der Gestaltung alltäglichen Zusammenlebens und der Versorgung von hilfsbedürftigen Menschen wurden häufig in ein Gender-Mainstreaming-Programm integriert. Sie wurden dadurch Teil der Modernisierung der Arbeitsgesellschaft, welche die Arbeit zur Lebensform und Arbeitsfähigkeit zum Kriterium sozialer Akzeptanz stilisiert. Andere Formen von sozialer Tätigkeit und Lebensgestaltung, die mit den reflektierten Erfahrungen aus einem "weiblichen Lebenszusammenhang" zum Ausdruck gebracht werden sollten, wurden unter der Dominanz des Arbeits- und Belastungsdiskurses verdrängt. Aus "Arbeit aus Liebe" wurde "Liebe als Arbeit", aus den Bemühungen um die Bindungen zu einem geschätzten Menschen wurde "Beziehungsarbeit".

Die Diskussionen um die Haus- und Familienarbeit in den siebziger Jahren sowie jene um die Frauen benachteiligende Konstruktion des Wohlfahrtsstaates wurden in Deutschland unter gesellschaftlichen Bedingungen geführt, in denen die bürgerlich-industrielle Geschlechterordnung mit ihrer Polarisierung der Geschlechtercharaktere und der traditionellen Bindung der Frauen an die Familie ihre Legitimation verlor. In den siebziger Jahren erfuhr eine erste Generation von gut ausgebildeten Mittelschichtfrauen und durch Ausbildung und Beruf sozial aufgestiegenen Frauen die zunehmenden emotionalen Anforderungen des Kleinfamilienlebens und der Bewältigung der Hausarbeit ohne genügende Unterstützung durch Haushaltshilfen oder durch den Ehemann. Die Krise des Sozialstaats in den achtziger Jahren erlebten Frauen als eine, in der ihre unbezahlte Haus- und Sorgearbeit ihnen nicht jene Ansprüche auf staatliche Unterstützung gewährte, wie sie das "Normalarbeitsverhältnis" zu sichern versprach, das zugleich im deutschen Familien-Ernährer-Modell die unbezahlte Haus- und Familienarbeit voraussetzt.

Aus diesen Diskussionen zogen die Modernisierer der Arbeitsgesellschaft in Deutschland die Konsequenz, die Erwerbsarbeit von Frauen auszuweiten, und weniger die, die Fürsorgearbeit zwischen Frauen und Männern umzuverteilen. Eine beachtliche Anzahl westdeutscher Frauen lebt nach dem überkommenen sozialpolitischen Familien-Ernährer-Modell, ist folglich in ihrem Lebenslauf zumindest zeitweilig nicht erwerbstätig. VertreterInnen einer Politik, die Gleichberechtigung am gleichen Zugang zur Erwerbstätigkeit festmacht, sehen in solchen Lebensformen eher die Hindernisse auf dem Weg zur Arbeitsmarkt-Individualisierung, in der auch Frauen ihre Lebensführung als Einzelne nach den Anforderungen der Berufstätigkeit ausrichten. Nach der deutschen Vereinigung schienen die Ansprüche ostdeutscher Frauen (die in der DDR zu über 80 Prozent erwerbstätig waren) auf eine existenzsichernde eigene Berufstätigkeit diese Perspektive zu bestärken. Frauen in den ostdeutschen Bundesländern wurden denn auch häufig als "Opfer der Wiedervereinigung" bezeichnet, wenn ihre Erwerbsbeteiligung als Kriterium herangezogen wurde. Dadurch gerieten andere Kriterien sozialer Gerechtigkeit und Bedingungen sozialer Ungleichheit wie die Verteilung von Fürsorgearbeit und die Möglichkeiten zur aktiven Gestaltung von fürsorglichen Beziehungen aus dem Blick.

Die arbeitszentrierte soziale Integrationspolitik und die entsprechende Emanzipationspolitik gegenüber Frauen in der DDR hat wenig zur dauerhaften Veränderung der Geschlechterverhältnisse in Bezug auf die Verteilung von fürsorglicher Arbeit und Anerkennung von Fürsorgebedürfnissen beigetragen. Die Soziologin Susanne Stolt kommt in ihrer empirischen Untersuchung zu dem Fazit: "In der sozialen Abwertung von Bindung und Fürsorge ... finden wir eine Kontinuität in den Geschlechterverhältnissen zwischen bürgerlichen Kulturen und der realsozialistischen DDR, die bisher zu wenig beachtet wurde."

Unter dem Anpassungsdruck an die arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Verhältnisse der Bundesrepublik mussten (Ehe-)Paare in Ostdeutschland nach der Wende neue Geschlechterarrangements suchen. Es galt, Zeit und Arbeit in fürsorglichen Beziehungen und berufliche Arbeit individuell neu ins Verhältnis zu setzen. Diese konfliktreichen persönlichen Veränderungsprozesse und Erfahrungen sind als Verlustgeschichte einer "erwerbszentrierten Emanzipationspolitik" nur unzureichend analysiert. Wenn man sie als Konfliktgeschichte von Anerkennungskämpfen um Fürsorgebedürfnisse untersucht, zeigen sich dagegen gesellschaftliche Verdrängungsmechanismen gegenüber Wünschen und Bestrebungen nach emotionalen Bindungen und Fürsorge und die vorhandenen sozialen Einschränkungen, solche Beziehungen selbst aktiv zu gestalten. Männer haben während der erwerbszentrierten Frauen- und Familienpolitik der DDR, in der sie nicht die Rolle des Familienernährers zu spielen hatten, möglicherweise Erfahrungen als aktive, den Kindern zugewandte Väter machen können. Unter dem Druck der Anpassung an die Bedingungen des bundesdeutschen Arbeitsmarktes wurden solche Erfahrungen wieder zurückgedrängt zugunsten einer traditionellen geschlechtlichen Arbeitsteilung. Sie wurden offenbar nicht zu einer Basis, von der aus politisch hörbar und wirksam Widerspruch gegen die gestiegenen beruflichen Anforderungen artikuliert worden wäre.

Dieser Blick auf Männer und ihre Erfahrungen mit fürsorglicher Praxis soll dazu dienen, die eingefahrene Konnotation von Fürsorge und Frauen zu irritieren. Neben der scheinbar selbstverständlichen Zuständigkeit von Frauen für diese Tätigkeiten und Orientierungen sind Veränderungen bei Männern wahrzunehmen. Die Suche nach neuen Formen der Vaterschaft war in der Bundesrepublik Deutschland in den fünfziger und sechziger Jahren ein vehement diskutiertes Thema ("Vaterlose Gesellschaft"). Es war mit der Frage verbunden, welche Autorität mit Demokratie zu vereinen sei, welche väterliche Praxis in der Familie den Weg der Demokratisierung der bundesdeutschen Gesellschaft befördere. Die Engführung der Analyse von sozialer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern auf eine Perspektive der "geschlechtlichen Arbeitsteilung" hat den Blick auf die Bedeutung der Erfahrung mit Fürsorge für die Befähigung zur Verantwortung verstellt. Es überwiegt in der deutschen Diskussion der Frauenforschung die Abwehrhaltung gegenüber einer Festlegung von Frauen auf die fürsorgliche Praxis als einem einseitigen "Dasein für andere". Diese Abwehr hat zu Wahrnehmungssperren gegenüber der breiten angelsächsischen und skandinavischen Diskussion um Fürsorge (Care) geführt und lässt einen wesentlichen Teil demokratietheoretischer Überlegungen zur Anerkennung von Bedürftigkeit, wechselseitiger Abhängigkeit und zur moralischen Befähigung von Menschen außer Acht.

Diese Überlegungen betreffen die Motive, wodurch und wofür Menschen aktive demokratische Bürgerinnen und Bürger werden. Und darin liegen wesentliche Inhalte, um die es bei der Gestaltung von Zeitpolitik geht. Auch wenn wir um die Veränderung der Lebensarbeitszeit - in der Erwerbsarbeit - streiten, sprechen wir davon in ihren Auswirkungen auf die Lebensqualität und die Menschenwürde.

* Der gesamte Beitrag entstand aus einem Vortrag zur Tagung "Aufbrechen in bessere Zeiten. Zeitpolitik – Zeit in der Politik" im März 2004 in der Evangelischen Akademie Tutzing, veranstaltet von der Akademie, der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik und der Bundeszentrale für politische Bildung.

Zeitliche Ressourcen für politisches Handeln als "Sorge für die gemeinsame Welt"

In der feministischen Theorie ist das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit ein zentrales Thema. Zeitpolitik ist in dieses Verhältnis eingebunden. Die Anerkennung und gesellschaftliche Wertschätzung der Tätigkeiten und Beziehungen im privaten Bereich drückt sich darin aus, dass durch sie Kriterien für gesellschaftliche Zeitregelungen bestimmt werden. Eine solche öffentliche Wirkung der Anerkennung privater Verhältnisse und Tätigkeiten entspräche dem feministischen politischen Projekt. Dabei geht es darum,

- hierarchische Geschlechterverhältnisse zu überwinden;

- Tätigkeiten von Frauen (und Männern) und die Bedeutung der persönlichen Beziehungen im privaten Bereich anzuerkennen (im Sinne gesellschaftlicher Wertschätzung);

- politisches Handeln von Frauen im Sinne einer Sorge für die gemeinsame Welt zu ermöglichen.

Das Verständnis von politischem Handeln als Sorge für die gemeinsame Welt, für die gemeinsamen politischen Angelegenheiten (in Anlehnung an Hannah Arendt) schließt auch den öffentlich-politischen Charakter von Handlungen ein, die nicht in den institutionalisierten Arenen der Politik stattfinden wie etwa Nachbarschaftsinitiativen, selbstorganisierte Kinderbetreuung oder solche Initiativen wie "Frauen verändern die Zeiten der Stadt" in Italien und einigen deutschen Städten.

Ein öffentlicher Erscheinungsraum entsteht (nach Hannah Arendt), wo immer Menschen handelnd und sprechend miteinander umgehen; er macht es den Einzelnen möglich, sich Meinungen zu bilden und abzuwägen. Wer die eigene Meinung öffentlich vorbringt, beleuchtet sein oder ihr Thema aus einer bestimmten Perspektive, so dass es in den Wahrnehmungshorizont der anderen kommen kann. Das ist auf vielen Ebenen im Gemeinwesen möglich. Es gibt viele Öffentlichkeiten, die hergestellt und genutzt werden können. (Das ist umgekehrt im Rahmen der Erwerbsarbeit nur eingeschränkt möglich.)

Für dieses politische Handeln als "aktives In-Erscheinung-Treten" sind materielle und zeitliche Ressourcen erforderlich. Jedes neue Konzept von Arbeit und von Zeitpolitik ist daran zu messen, ob und wie es Bürgern und Bürgerinnen Ressourcen zur Verfügung stellt, die ein Engagement sowohl außerhalb der Erwerbsarbeit als auch außerhalb unmittelbarer fürsorglicher Tätigkeit im privaten Bereich ermöglichen. Eva Senghaas-Knobloch pointiert dieses Kriterium: "Im Vordergrund steht nicht mehr nur die gleichberechtigte und gleichgeachtete Teilhabe am Marktgeschehen, sondern die Ressourcensicherung für eine Teilhabe am politischen Handeln, die Ermöglichung, die eigene Sicht auf die Beschaffenheit des Gemeinwesens öffentlich zur Geltung zu bringen."

Hannah Arendt betrachtet das "aktive In-Erscheinung-Treten" als eine "zweite Geburt", "in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen". Eva Senghaas-Knobloch greift dieses eingängige Bild auf und verbindet es mit dem feministischen politischen Projekt: "Damit eine solche ,zweite Geburt` in ihren vielfältigen Formen des Engagements in der Öffentlichkeit diskriminierungsfrei möglich ist, z.B. Frauen es nicht schwerer gemacht wird als Männern, kommt es darauf an, die Frauentätigkeiten, die mit der ersten Geburt verbunden sind, und alle Tätigkeiten, die in der Tatsache der existenziellen Angewiesenheit jedes einzelnen Menschen auf konkrete und unmittelbare Fürsorge begründet sind, in ihrer fundamentalpolitischen Bedeutung für die Gestaltung des Gemeinwesens anzuerkennen."

Fürsorge ist ein unerlässlicher Teil unserer Persönlichkeit, Grundlage bedeutungsvollen Handelns und der Intersubjektivität. Sie ist nicht beschränkt auf das unpolitische "Reich der Notwendigkeit" leiblicher Bedürftigkeit, sondern wesentlicher Teil menschlicher Kommunikation und Interaktion. Doch Fürsorge ist keine unerschöpflich vorhandene soziale Ressource, auf die man in politischen und sozialen Krisen zurückgreifen kann - etwa mit Appellen an die Solidarität. Vielmehr müssen die sozialen Bedingungen dafür, dass fürsorgliche Praxis sich entfalten und erfahren werden kann, selbst ein Ziel politischer Gestaltung sein. Zeit gestalten heißt Beziehungen gestalten. Dieser Blick auf konkrete fürsorgliche Beziehungen ist ein Korrektiv gegenüber bloß instrumenteller Rationalität im Diskurs institutionalisierter Politik, gegenüber einer Tendenz zur "Ökonomisierung des Sozialen".

Zeit für Privatheit - Öffentlichkeiten brauchen lebensweltliche Ressourcen

Sind Öffentlichkeiten einmal institutionalisiert, dann haben sie die Tendenz, die Anlässe, auf Grund derer sie hergestellt wurden, zu "vergessen". Sie werden schwach und entleeren oder verselbständigen sich, gemessen an den Ereignissen, unter denen sie hergestellt wurden. Öffentlichkeiten brauchen lebensweltliche Ressourcen, um ihren Anspruch, den Interessen der Beteiligten Resonanz zu verschaffen, verwirklichen und aufrechterhalten zu können. Richard Sennett hat in den siebziger Jahren den Verfall der Öffentlichkeit in den USA kritisiert. Er sah diesen darin, dass soziale und politische Institutionen mit einzelnen Personen gleichgesetzt wurden und deren Auftreten und Erscheinung mehr Aufmerksamkeit erhielt als die Amtsführung und die institutionellen Prozesse und deren demokratische Kontrolle. Sennett beschrieb die entstehende "Tyrannei der Intimität" als grenzüberschreitenden Übergriff der Öffentlichkeit auf die emotionalen Ressourcen des persönlichen Lebens. Er sah darin ein Kennzeichen einer unzivilisierten Gesellschaft, der das Unpersönliche als Vermittlung zwischen Öffentlichem und Privatem verloren gegangen ist.

Alexander Kluge hat weniger zivilisationskritisch darauf verwiesen, "dass die Öffentlichkeit selber als Projekt nicht die Erfinderin der Werkzeuge, Mittel, Worte sein kann, die sie braucht, um den Austausch der öffentlichen Mitteilung auch zu bewältigen und zu erneuern". Kluge interessieren die Ressourcen der Subjekte, mit denen sie den Ausdrucksmitteln und Ausdrucksformen in der Öffentlichkeit Substanz verleihen: "Für die Erzeugung der öffentlichen Werkzeuge, der Filme, der Bücher und der Diskurse, der öffentlichen Situationen und ihrer Veränderungen, ist immer wieder die Rückbeziehung auf die Subjektivität und die Intimität erforderlich, denn dort werden die Instrumente gebaut, die in der Öffentlichkeit die Öffentlichkeit substanzreich machen."

Die Anlässe und Ansprüche an politisches Handeln kommen aus dem Privaten. Wofür wollen wir mehr Zeit haben? Alexander Kluge macht darauf aufmerksam, dass jene "Substanzquellen", aus denen sich Öffentlichkeit nährt, in zwei starken Bereichen individueller Lebenszeit im Privaten liegen: im Intimbereich persönlicher Beziehungen, mit den Erfahrungen emotionaler Stärken und Konflikte, die in die Öffentlichkeit wirken, sowie in der Erwerbstätigkeit. Diese ist der andere große Block lebendiger Erfahrung, der nach Kluge "den Löwenanteil der in den Lebensläufen zugebrachten Zeit" füllt. Auch dieser Bereich ist privat organisiert. Nehmen wir die Haus- und Familienarbeit hinzu, dann sind es diese großen Bereiche, in denen die individuelle Lebenszeit verbracht wird und aus denen heraus die Einzelnen ihre Erfahrungen in die Öffentlichkeit bringen, in der Öffentlichkeit "aktiv in Erscheinung treten".

Öffentlichkeit braucht Zeit und Räume. Sie braucht den Rückbezug auf Subjektivität, die ihr Substanz verleiht, Zeit zur Entwicklung von Motiven, zur Formulierung von gemeinsamen Ansprüchen. Darum ist es sinnvoll, Privatheit genauer zu betrachten. Einen exponierten Versuch, das Öffentliche und das Private neu zu denken, hat Jean Cohen unternommen. Ihr Ansatz wurde in der deutschen feministischen Diskussion kaum zur Kenntnis genommen, obgleich der Aufsatz sehr schnell in deutscher Übersetzung erschien. Einen erneuten Anstoß gab Beate Rössler mit "Der Wert des Privaten". Mit ihren Anregungen zu einer "Theorie individueller Privatheit" (Rössler) und "persönlicher Beziehungsprivatheit" (Cohen) suchen beide Autorinnen das Wechselverhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit zu erfassen, genauer: die Privatheit aus der starren Dichotomie zur Öffentlichkeit zu befreien. Dahinein ist sie auch dadurch geraten, dass sich die feministische Analyse des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit zunächst darauf konzentrierte, die restriktive Bindung von Frauen an die familiale Privatsphäre zu kritisieren.

Jean Cohen sieht die Diskussion um die Konzeption von Privatheit als Teil der "Auseinandersetzung über das Vokabular, die Redeweisen und kulturellen Codes, die uns zur Verfügung stehen, um Bedürfnisse zu interpretieren, Ansprüchen Nachdruck zu verleihen, Identität zu konstituieren, Differenz geltend zu machen und Anerkennung zu erlangen". Cohen verfolgt die Absicht, persönliche Rechte als Rechte des Individuums auf Privatheit zu konzipieren, durch die Menschen in die Lage versetzt werden, Beziehungen eingehen, sie aufrechterhalten und gestalten zu können. Privatheit ist in diesem Verständnis nicht ein Raum, in dem bestimmte Rechte gelten oder nicht gelten. Sie wird vielmehr als ein an die Person gebundener unhintergehbarer Bereich verstanden, der sie befähigt, sich in sozialen und öffentlichen Kontexten zu behaupten. Identität entsteht im Prozess der Interaktion mit anderen. Die Selbstwahrnehmung, verbunden mit der eigenen Körperwahrnehmung, ist intersubjektiv vermittelt. Das Recht auf Beziehungsprivatheit umfasst den Raum, in dem individuelle Einzigartigkeit, Bedürftigkeit, Verletzlichkeit, Abhängigkeit, Erotik und Kreativität anerkannt werden. Diese Charakterisierung lässt sich mit den Theorien fürsorglicher Praxis verbinden. Persönliche Beziehungsprivatheit umschreibt normativ die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen fürsorgliche Orientierung zu sich selbst und zu anderen entstehen kann. Sie ist eine inhaltliche Bestimmung von Zeit für Kommunikation.

An welchen empirisch vorfindbaren Interessen lässt sich diese normative Vorstellung festmachen? Jean Cohen verweist auf die individualisierten Lebensformen von Frauen und knüpft an die Forderungen der Frauenbewegung nach Selbstbestimmung über den eigenen Körper an. Durch die veränderten Lebensweisen von Frauen - Berufstätigkeit, Lebensformen jenseits von Ehe und Familien, Trennung von Sexualität und Generativität - werden die Beziehungen in der Privatsphäre zum Gegenstand von Fragen nach Recht und Gerechtigkeit, so auch die von Fürsorge und Pflege. Die darin eingebetteten Beziehungen von Nähe und Intimität sind nicht als solche rechtlich zu sichern. In ihnen entstehen jedoch die Motive, für deren gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu streiten.

Fürsorgliche Praxis ist zunehmend ein Anliegen auch von Vätern. Die individualisierten Lebensweisen von Frauen jenseits von traditionellen Ehe- und Familienformen fordern Männer heraus, eigene Kinderwünsche, den Wunsch, mit Kindern zusammenzuleben, selbst aktiv zu verfolgen: bei der Gestaltung der Beziehung mit der Partnerin und mit dem Kind. Vaterschaft ist immer mehr das, was einer tut, und nicht das, was eine soziale Position als Vater ihm an Attributen und Rechten am Kind verleiht. Die eigene Erfahrung, Entwicklung und Praxis in der Beziehung zum Kind werden zum Motiv und Kriterium für die Lebensplanung eines Mannes, nicht die Funktion als Vater für die Kinder oder die als Familienernährer.

Seit etwa zwei Generationen sind die Veränderungen des Lebens als Vater ein wesentlicher Teil im gewandelten Selbstverständnis von Männern. Daher hat die Forschung zu Vätern in den letzten Jahren einen deutlichen Auftrieb erfahren. Die alten Rollenfiguren sind verbraucht. Neue Erfahrungen als Väter können und müssen Männer im Umgang mit den Kindern selbst machen und dafür die gesellschaftlichen Bedingungen in der Organisation der Arbeit und der Zeitpolitik einfordern und erstreiten. Dieser gleichsam privatisierte Anteil an der biografischen Unsicherheit in der Lebensführung von Männern muss neben den vielfach beschriebenen Unwägbarkeiten in den Berufsbiografien im politischen Sinn als "Angelegenheit von allgemeinem Interesse" öffentlich zur Sprache gebracht werden. Es bleibt zu untersuchen, in welchen diskursiven Gemeinschaften und sozialen Räumen Männer im Austausch individueller Erlebnisse sich der eigenen Deutungen und subjektiven Bedeutungen ihrer Erfahrung und Wünsche vergewissern können; Zeiten und Räume, in denen normierte Beziehungs- und Deutungsmuster männlicher Biografien relativiert und eigene Lebensweisen solidarisch erprobt werden können. Die Erfahrung, fürsorgliche Praxis und Orientierungen in ein männliches Selbstverständnis aufzunehmen, muss sich gegen die Erwartung an Männer behaupten, dass berufliche Karriere- und Leistungsorientierung in ihrer Lebensführung Vorrang hätten. Es wird zu untersuchen sein, in welchen Öffentlichkeiten die formulierten Ansprüche Ausdruck, Anerkennung und politische Bestärkung finden.

Ende des Jahren 2003 veröffentlichte in Deutschland eine Gruppe von Männern u.a. aus den Bereichen Wissenschaften, Gewerkschaften, Kirche einen offenen Brief gegen die Pläne zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Unter der Überschrift "Männer wollen nicht noch länger arbeiten!" heißt es darin: "Gerade Männer, welche die Morgenluft neuer Männerrollen geschnuppert haben, wehren sich gegen die Politik der Arbeitszeitverlängerung, gegen ein Zurück in alte Muster, einen Rückschritt in die fünfziger Jahre. Wir sind uns sicher, damit auch für unsere Partnerinnen, für viele Frauen und vor allem für unsere Kinder und Enkelkinder zu sprechen, die gemerkt haben, wie es gehen könnte und die - zu Recht - mehr von uns haben wollen und können, als dass wir Geld nach Hause bringen! (...) Frauen wird ein gutes Stück vom Vereinbarkeitsdruck genommen, wenn Männer ihre Verantwortung für die familiären Aufgabenbereiche ernst nehmen und sich stärker an den Leiden und Freuden der Familienarbeit beteiligen können."

In der Frauenpolitik wird meist für die Reduktion von Sorgetätigkeiten argumentiert, die den Frauen traditionell einseitig zugeschrieben werden. Der Anspruch darauf, Erfahrungen fürsorglicher Beziehungen machen zu können, muss Ausdrucksformen finden, die über diese Zuschreibung hinausführen und wechselseitige fürsorgliche Beziehungen ermöglichen. In der Erfahrung konkreter fürsorglicher Beziehungen liegt ein Potenzial von Widerstand gegen eine Vereinnahmung und Überforderung der Einzelnen durch die Programme von Selbstoptimierung und Selbstvermarktung. Selbständigkeit und Sorge können als orientierende Begriffe dienen, welche die Polarisierung von Autonomie und Abhängigkeit überwinden, die mit Geschlechterstereotypen verbunden sind. Der Begriff der Sorge hat in der deutschen wissenschaftlichen Diskussion keine diskursbildende Stärke und Tradition gewonnen. Davon zeugt auch die Schwierigkeit, das englische "Care" angemessen zu übersetzen. Fürsorge und Selbstsorge in der politischen Öffentlichkeit zur Sprache zu bringen - als Anspruch und Bedürfnis - wird auch dadurch behindert, dass in den Routinen der alltäglichen Lebensführung nach dem Muster traditioneller männlicher Sozialisation die Abwehr von Angst und Hilfsbedürftigkeit und die anerkannten Strategien von demonstrativer Unabhängigkeit und Leistungsfähigkeit sich selbstzerstörerisch verbinden. Statt dem Kult der Ausdauer, der als Alternative nur die Erschöpfung und das Scheitern kennt, sollten wir uns der "Kunst der Abdankung" widmen. Die Option, aus eigenem Entschluss aufzuhören, öffnet den Blick wieder für die Möglichkeiten und Fähigkeiten der Einzelnen, Entscheidungen nach eigenem Urteil treffen zu können. Deren soziale Bedingungen sind Gegenstand von Zeitpolitik.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. als Beispiele für viele aus zwei Jahrzehnten: Regina Becker-Schmidt/Uta Brandes-Erlhoff/Marva Karrer/Gudrun-Axeli Knapp/Mechthild Rumpf/Beate Schmidt, Nicht wir haben die Minuten, die Minuten haben uns. Zeitprobleme und Zeiterfahrungen von Arbeitermüttern in Fabrik und Familie, Bonn 1982; Christel Eckart, Der Preis der Zeit. Eine Untersuchung der Interessen von Frauen an Teilzeitarbeit, Frankfurt/M. –NewYork 1990; Arlie Russel Hochschild, Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet, Opladen 2002.

  2. Vgl. dazu Christel Eckart, Fürsorgliche Konflikte. Erfahrungen des Sorgens und die Zumutungen der Selbständigkeit, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 29 (2004), Themenheft 2 "Kulturen des Helfens" (i.E.).

  3. Vgl. zu den beiden Modellen Nancy Fraser, Nach dem Familienlohn: Ein postindustrielles Gedankenexperiment, in: dies., Die halbierte Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 2001, S. 67 - 103; Birgit Geissler, Die (Un-)Abhängigkeit in der Ehe und das Bürgerrecht auf Care. Überlegungen zur Gender-Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat, in: Karin Gottschall/Birgit Pfau-Effinger (Hrsg.), Zukunft der Arbeit und Geschlecht, Opladen 2002, S. 183 - 206.

  4. Susanne Stolt, Grenzen der Emanzipation durch Arbeit. Anerkennungskämpfe ostdeutscher Frauen in Paarbeziehungen vor und nach der Wende, in: Feministische Studien extra, "Fürsorge - Anerkennung - Arbeit", 18 (2000), S. 82. Vgl. auch dies., Zwischen Arbeit und Liebe. Eine empirische Studie zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in Ostdeutschland nach der Wende, Kassel 2000.

  5. Vgl. Eva Senghaas-Knobloch, Postfordistische Grenzverwischung der Arbeitswelt und das feministische politische Projekt, in: Heike Kahlert/Claudia Lenz (Hrsg.), Die Neubestimmung des Politischen. Denkbewegungen im Dialog mit Hannah Arendt, Königstein/Taunus 2001, S. 264 - 298.

  6. Vgl. Ulrich Mückenberger (Hrsg.), Zeiten der Stadt. Reflexionen und Materialien zu einem neuen gesellschaftlichen Gestaltungsfeld, Bremen 2000.

  7. E. Senghaas-Knobloch (Anm. 5), S. 291.

  8. Hannah Arendt, Vita Activa, München 1992, S. 164.

  9. E. Senghaas-Knobloch (Anm. 5), S. 290.

  10. Vgl. Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt/M. 1983.

  11. Oskar Negt/Alexander Kluge, Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen, Frankfurt/M. 1992, S. 316f.

  12. Vgl. Jean Cohen, Das Öffentliche und das Private neu denken, in: Margrit Brückner/Birgit Meyer (Hrsg.), Die sichtbare Frau. Die Aneignung der gesellschaftlichen Räume, Freiburg 1994.

  13. Vgl. Beate Rössler, Der Wert des Privaten, Frankfurt/M. 2001.

  14. J. Cohen (Anm. 12), S. 311.

  15. Vgl. u.a. Heinz Walter (Hrsg.), Männer als Väter. Sozialwissenschaftliche Theorie und Empirie, Gießen 2002.

Dr. phil., geb. 1945; Professorin für Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Kassel; Mitglied im beratenden Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik.
Anschrift: Universität Kassel, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Nora-Platiel-Str. 5, 34109 Kassel.
E-Mail: E-Mail Link: checkart@uni-kassel.de

Veröffentlichungen u.a.: Fürsorglichkeit: Soziale Praxis und moralische Orientierung: in: Adalbert Evers (Hrsg.), Sozialstaat. Gießener Diskurse, Bd. 16, Gießen 1998; Zeit zum Sorgen. Fürsorgliche Praxis als regulative Idee der Zeitpolitik, in: Feministische Studien ("extra"), 18 (2000).