Einleitung
Zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 2003 haben die Gemüter in Deutschland stark bewegt und beschäftigen die Öffentlichkeit noch immer. Im ersten Fall ging es um eine Verkäuferin in der Kosmetikabteilung eines Kaufhauses, die mit Kopftuch arbeiten wollte und beim Bundesverfassungsgericht Recht bekam.
Am 1. Dezember 2003 veröffentlichte Marieluise Beck, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, auf ihrer Webseite einen Appell mit dem Titel "Religiöse Vielfalt statt Zwangsemanzipation! - Aufruf wider eine Lex Kopftuch"
Das türkische Verständnis von Laizismus
Obwohl Laizismus und Säkularisierung manchmal als Synonyme verwendet werden, stellt der Begriff der Säkularisierung einen weiter gefassten, über das Rechtliche hinausgehenden soziologischen Inhalt dar als der des Laizismus. Kurz zusammengefasst handelt es sich bei der Säkularisierung um die Loslösung des Einzelnen, des Staates sowie der Wirtschaft aus dem Sinnkontext der Religion, um die Verweltlichung der Legitimität der öffentlichen Gewalt.
Die oben genannten Risse im Laizismusprinzip als Grundpfeiler des türkischen Staates können auf der einen Seite mit den historischen Besonderheiten (insbesondere der theokratischen Natur des Osmanischen Reiches), auf der anderen Seite mit der Gleichsetzung der objektiven und subjektiven Säkularisierung
Spätestens seit der Etablierung des Mehrparteiensystems in der Türkei hat eine Resakralisierung des politischen Lebens stattgefunden. Religiöse Ansprüche an das öffentliche Leben und die Infragestellung des Laizismusprinzips wurden zunächst von den bis in die siebziger Jahre in rechtskonservativen Parteien organisierten Islamisten zur Sprache gebracht, bis sie unter der Führung von Necmettin Erbakan ihre eigenen Parteien gründeten. Die Mehrzahl dieser Parteiengründungen ist auf ein Verbot früherer Parteien durch das Verfassungsgericht zurückzuführen. In den Verbotsgründen der ersten Partei Erbakans wird z.B. die Kritik der Partei an der säkularen Rechtsordnung, insbesondere des Familienrechts und der Gleichstellung von Mann und Frau, aufgeführt und erwähnt, dass die Organisation weniger einer Partei als einer Untergrundorganisation gleiche, die das Land mit Schariaregeln regieren wolle.
Der Aufstieg des politischen Islams war also seit 1970 nicht mehr aufzuhalten. Die islamistischen Parteien Erbakans waren willkommene Koalitionspartner sowohl für sozialdemokratische als auch für rechtskonservative Parteien. Die derzeit regierende islamisch-konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) von Recep Tayyip Erdogan stellt eine reformierte Version dieser islamistischen Vorgängerparteien dar. Die Religion wurde also in der Resakralisierungsphase des politischen Systems als ein gut geeignetes Instrument für populistische bzw. nationalistische Politiken entdeckt und war aus dem politischen Alltag nicht mehr wegzudenken. Die inkonsistente Definition des Laizismus, die Konservierung und Ideologisierung der Gründungsprinzipien der Republik und die Machtspiele der Parteien haben dazu wesentlich beigetragen.
Der Zugang des Islams zur Politik eröffnete auf der anderen Seite im Bereich des Privaten eine rege Diskussion über die Religion und die Untrennbarkeit der privaten und öffentlichen Bereiche im Islam. Die gläubigen und immer mehr politisierten Muslime setzten sich nicht nur mit den Geboten des Islams auseinander, sondern erhoben den Anspruch, dass die religiösen Regeln auch der rechtlichen und politischen Ordnung zugrunde gelegt werden sollten. Somit flossen die politischen und kulturellen Aspekte des Islams zusammen und bildeten die praktische Grundlage des politischen Islams. Die Kopftuchdebatte, die besonders in den achtziger und neunziger Jahren die türkische Öffentlichkeit stark in Anspruch genommen und gespalten hat, kann als Folge dieses Zusammenschweißens gesehen werden. Zudem ist der Einfluss der Iranischen Revolution 1979 nicht zu unterschätzen, da die neue iranische Rechtsordnung eine Vorbildfunktion für die türkischen Islamisten hatte. Während einige AutorInnen die Kopftuchdebatte ausschließlich dem kulturellen Islam, also dem privaten Bereich, zuordnen,
Der Kopftuchstreit in der Türkei
Es herrscht keine Einigkeit darüber, welches Kopftuch wann zu einem Problem in der türkischen Gesellschaft wurde. Denn trotz des Modernisierungsschubs in den fünfziger Jahren trugen die Frauen in ländlichen Gebieten immer eine Art Kopftuch, das eher zum Schutz vor der Sonne diente oder nur aus kultureller Gewohnheit getragen wurde. Doch das neue und religiös begründete Kopftuch, das in den achtziger Jahren in der Öffentlichkeit immer sichtbarer wurde, unterschied sich von dem althergebrachten Kopftuch in Größe, Stil und Art des Tragens. Das religiös begründete Kopftuch bedeckte nicht nur ganz streng Haar, Nacken und Hals, sondern reichte über die Brust und wurde in Kombination mit einem langen Mantel, der bis zu den Knöcheln reichte und die Züge des Körpers komplett unsichtbar machte, getragen. In der türkischen Öffentlichkeit wird dieses religiös motivierte Kopftuch als türban bezeichnet. Auch über den Grund der Zunahme von Kopftuchträgerinnen herrscht keine Einigkeit. Neben dem kontinuierlichen Aufstieg des politischen Islams in der Türkei und dem Einfluss der theokratischen politischen Ordnung im Iran kann dies auf die Aufnahme von Mädchen an so genannten Imam-Hatip-Gymnasien
Das Tragen des religiös-politisch motivierten Kopftuches in der Öffentlichkeit ist dagegen in keinem Gesetz ausdrücklich verboten. Ein Gesetz von 1934,
Die Rechtsprechung zum Kopftuchstreit
Der Staatsrat (Oberverwaltungsgericht)
Studentinnen
In seinen Entscheidungen ab 1983 legte der Staatsrat die Grundlagen seiner ständigen Rechtsprechung fest. In den ersten Fällen ging es um die Klage von Studentinnen, denen wegen ihres Kopftuches der Zugang zu Vorlesungen und Prüfungen an der Universität untersagt wurde. Das Gericht wies die Klage in beiden Fällen mit der folgenden Begründung ab, die auch in die Entscheidungen des Verfassungsgerichts aufgenommen worden ist: "Es gibt einige unausgebildete Mädchen in unserem Land, die wegen des Drucks ihrer Umgebung oder unter dem Einfluss der Tradition ein Kopftuch tragen. Die Klägerin gehört jedoch zu einer gebildeten Gruppe von jungen Frauen, die stark genug sein müssten, sich dem Druck ihrer traditionellen Umgebung zu widersetzen. Wenn sie trotz ihrer Ausbildung ein Kopftuch tragen, ist dies als ein Zeichen dafür zu interpretieren, dass sie das Laizismusprinzip als Grundlage der Republik nicht akzeptieren und sich einen theokratischen Staat wünschen. Somit überschreitet bei diesen Personen das Tragen des Kopftuches die Grenzen der harmlosen Gewohnheit und stellt eine bedrohende Weltanschauung für die Freiheit und Gleichheit der Frauen und die Grundprinzipien der Republik dar. Als Studentin müsste sich die Klägerin des Stellenwerts dieses Staatsprinzips bewusst sein. Die Universitäten unterliegen als Bildungsinstitutionen der Pflicht, diese Grundprinzipien zu vermitteln und zu bewahren. Daher stellt der Verweis der Kopftuch tragenden Studentin aus den Lehrveranstaltungen der Universität keine Rechtswidrigkeit dar."
Angestellte und Beamtinnen
Der Staatsrat setzte dieselben Gründe des Kopftuchtragens und ihre Auswirkung auf die rechtliche und politische Ordnung der Türkei bei Beamtinnen und Angestellten des öffentlichen Dienstes voraus, wobei er eine umfassende Auseinandersetzung mit der Funktion und dem Status dieses Personals unterließ. In einem Fall aus dem Jahre 2000 wurde die Klage einer entlassenen Angestellten abgewiesen, die an einer Universität in der Telefonzentrale tätig war und trotz Warnungen der Universitätsverwaltung ihr Kopftuch während der Dienstzeiten nicht ablegen wollte.
Die berufsständischen Vereinigungen als Körperschaften des öffentlichen Rechts unterliegen nach der Rechtsprechung des Staatsrates den gleichen Regeln wie die staatlichen Institutionen. So entschied die Berufsvereinigung der Maschinenbauingenieure 1994, dass alle bei der Verwaltung der Vereinigung eingereichten Fotos Personen mit unbedecktem Kopf, ohne Bart und mit anständiger Kleidung zeigen müssten. Somit wurde der Antrag einer Klägerin, dem ein Foto beigefügt worden war, auf dem sie mit Kopftuch abgebildet war, mit der Begründung abgelehnt, dass dies der oben genannten Entscheidung der Vereinigung widerspreche und ihr Antrag auf Mitgliedschaft aus formalen Gründen nicht angenommen werden könne. Der Staatsrat schloss sich dieser Meinung an und entschied, dass Fotos Mittel zur Erkennung von Personen seien und ein Kopftuch die Identifizierung der jeweiligen Personen verhindere.
Das Verfassungsgericht
Das türkische Verfassungsgericht hat zur Kopftuchdebatte zwei Grundsatzentscheidungen getroffen, die jedoch zu einer differenzierten Diskussion über das Laizismusprinzip wenig beigetragen haben und von einem ideologisierten Laizismus geprägt sind. Beim ersten Urteil vom 7. März 1989
Das Gericht sah sich hauptsächlich vor die Frage gestellt, ob das Kopftuch als Teil der Bekleidung in staatlichen Einrichtungen wie den Hochschulen gebraucht werde und eine Regelung sich allein nach Glaubensgrundsätzen richten dürfe. Es erklärte zunächst das Laizismusprinzip zum wichtigsten kemalistischen Grundsatz.
Das Verfassungsgericht blieb trotz dieser ausführlichen Urteilsbegründung die Antwort schuldig, warum die Empfängerinnen einer öffentlichen Dienstleistung wie der Bildung den gesetzlich nur für die öffentlichen Angestellten und Beamtinnen vorgesehenen Kleidungsvorschriften unterworfen werden sollten. Zudem stellt sich die Frage, inwieweit die Kopftuch tragenden Studentinnen die laizistische Ordnung der Republik konkret gefährden könnten. Das Gericht machte nur implizit deutlich, dass es einen engen Zusammenhang zwischen dem politischen Islam und den Kopftuch tragenden Studentinnen sieht, versuchte jedoch die Gefährdung der säkularen Rechtsordnung durch den politischen Islam mit einem streng und dogmatisch verstandenen Laizismus zu verteidigen.
Die rechtskonservativen Parteien versuchten trotz dieses oben ausgeführten Urteils von 1989 mit Rücksicht auf ihre religiös-konservative Klientel, das Kopftuch an Hochschulen wieder zuzulassen, und änderten 1990 das Hochschulgesetz dahingehend, dass jegliche Kleidungsstücke an Hochschulen erlaubt wurden, solange sie gegen kein Gesetz verstießen. Da es im türkischen Recht - wie bereits erwähnt - kein Gesetz gibt, dass das Kopftuchtragen explizit verbietet, widmete sich das Verfassungsgericht 1991 im Rahmen eines Antrages der Oppositionspartei der Frage, ob mit der neuen Regelung das vorherige Urteil des Verfassungsgerichts obsolet geworden sei. Das Gericht entschied mit einem so genannten "interpretativen Ablehnungsvotum"
Auswertung der Rechtsprechung
Es gelang den höchsten Gerichten in der Türkei nicht, bei dem Kopftuchstreit an Hochschulen über das dogmatisierte Laizismusverständnis hinaus eine subjektbezogene Differenzierung des Streitgegenstandes zu bewerkstelligen. Alle Kopftuchträgerinnen, ob sie nun Empfängerinnen öffentlicher Dienstleistungen oder selbst Dienstleistende in öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnissen waren, wurden gleichgesetzt. Zudem wurde der Bezug zum Laizismus unabhängig vom konkreten Sachverhalt hergestellt, indem man allgemeine Erläuterungen zu diesem Staatsprinzip aufzählte, aber nicht bemüht war, manche Widersprüche in der Argumentation zu erkennen.
Das Kopftuch: Politik oder Selbstfindung?
Die islamistische Bewegung hat ab den achtziger Jahren anders als früher die Frauen immer mehr in ihre Reihen integriert. Fast alle Organisationen haben spezielle Angebote für Frauen entwickelt, an denen sich diese aktiv beteiligen konnten. Zeitschriften wie "Kadin ve Aile" (Frau und Familie), "Bizim Aile" (Unsere Familie) oder "Mektup" (Der Brief) dienten innerhalb verschiedener islamistischer Bewegungen dazu, Frauen mit ihrer Politik vertraut zu machen. Die Frauen wurden in diesem Politisierungsprozess in Anspruch genommen, indem man ihnen die Herausgeberschaften anvertraute. Den größten Durchbruch schaffte die Wohlfahrtspartei auf Initiative des damaligen Vorsitzenden des Bezirks Istanbul und jetzigen Ministerpräsidenten, Recep Tayyip Erdogan, mit der Gründung von "Damenkommissionen" (Hanim Komisyonlari)
Parallel zu ihrer Teilnahme am politischen Leben fand unter islamistischen Frauen auch eine private Diskussion über die Rolle der Frau im Islam und eine Auseinandersetzung mit dem Patriarchat statt. Obwohl die Akteurinnen dieser Diskussion manchmal als "Feministinnen mit türban" bezeichnet werden, mangelt es diesem Versuch an einer grundsätzlichen Infragestellung patriarchalischer Strukturen im Islam und in der politischen Bewegung. Zwar wird in dieser innerislamischen Debatte die Gleichwertigkeit der Geschlechter vorausgesetzt, aber jedem Geschlecht werden unterschiedliche Aufgaben und Rechte innerhalb der islamischen Hierarchie zugesprochen. Das Geschlechterverhältnis wird als ein komplementäres Konzept verstanden, wobei der Frau eine Hilfsfunktion zugeordnet wird. Auch eine klare und negative Abgrenzung gegenüber nicht bedeckten Frauen ist ein Merkmal dieser Auseinandersetzung. Die nicht bedeckte Frau wird als unrein und potenziell böse ausgegrenzt.
Trotz dieser beiden Aktivitätsstränge der islamistischen Frauen war ihnen der Weg zu höheren innerparteilichen Positionen verwehrt. Bis zum Verbot der Wohlfahrtspartei wurden sie nie für die Parlamentswahlen nominiert und besetzten keine Führungspositionen in der Partei, weder auf nationaler noch auf kommunaler Ebene. Damit wird ihre zweitrangige Stellung im Rahmen des islamischen Patriarchats deutlich. Dennoch hindert dies die islamistischen politischen Akteure nicht daran, die Kopftuchfrage zum Aushängeschild ihres Kampfes zu machen.
Ausblick
Die politische Realität der Türkei hat seit den fünfziger Jahren gezeigt, dass ein inkonsistentes Verständnis des Laizismus den Politisierungsprozess des Islams beschleunigt hat. Während die Judikative mit Parteiverboten dieser Tendenz entgegenzuwirken versuchte, wurde die Religion gleichzeitig von der Politik für den Machterwerb instrumentalisiert. In diesem Machtkampf konnte sich der politische Islam seit den achtziger Jahren die Kopftuchdebatte an Hochschulen zu Eigen machen. Zu dieser Instrumentalisierung des Kopftuches trug nicht zuletzt die den kemalistischen Prinzipien verschriebene Judikative bei, indem sie mit nicht differenzierter, rechtlich ungenügend begründeter höchstrichterlicher Rechtsprechung die angebliche Opferrolle dieser Frauen und mittelbar des politischen Islams verstärkte.
Im Hinblick auf die deutsche Kopftuchdebatte muss betont werden, dass es bei dem zur Diskussion stehenden Kopftuch nicht um das herkömmliche, den kulturellen Gewohnheiten zuzuordnende Kopftuch geht, sondern um das religiös und politisch motivierte. Somit kann festgehalten werden, dass eine türkische Herkunftskultur, auf die sich die türkischstämmigen Kopftuchträgerinnen in Deutschland beziehen könnten, nicht existiert. Es geht vielmehr um ein Zeichen der politischen Kultur der islamistischen Bewegung in der Türkei, die sich seit den siebziger Jahren in der türkischen Politik etabliert hat. In diesem Zusammenhang ist auf die Wirkung der türkischen Innenpolitik auf die MigrantInnen in Deutschland hinzuweisen, wodurch die Zunahme der türkischen Kopftuchträgerinnen in Deutschland erklärt werden kann.
Auf der anderen Seite wurde das Opferbild der Kopftuchträgerinnen in manchen mikrosoziologischen Untersuchungen dahin gehend in Frage gestellt, dass es unter diesen politisch aktiven, gut organisierten islamistischen Frauen eine Auseinandersetzung über das Patriarchat im Islam gegeben habe und die islamistische Frauenbewegung auch als eine Emanzipationsbewegung gesehen werden könne. Diese Diskussion mit dem Patriarchat hat jedoch keine konkreten Folgen für die islamistischen Frauen, da die Hierarchien des Islams letztendlich akzeptiert werden. Man wird indes der Situation dieser Frauen nicht gerecht, wenn man sie nur als Opfer des kemalistischen Systems und des patriarchalischen Islams betrachtet. Sie haben nämlich zum größten Teil den ideologischen Kampf des politischen Islams mitgetragen und über den persönlich-religiösen Aspekt des Kopftuches hinaus die islamistische Politik mitgestaltet. Daher ist es für ein besseres Verständnis des Problems unentbehrlich, die mikrosoziologischen Ansätze, die nur die privaten Motive der Kopftuchträgerinnen fokussieren und den politischen Aspekt ausblenden, mit dem politischen Selbstverständnis dieser Frauen zu verbinden.