Einleitung
Im Dezember 2004 will der Europäische Rat auf der Grundlage eines Berichts und einer Empfehlung der Europäischen Kommission entscheiden, ob mit der Türkei Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union begonnen werden können. Die wesentliche Voraussetzung für einen positiven Entscheid ist die Erfüllung der so genannten politischen Kopenhagener Kriterien der EU von 1993. Diese verlangen von jedem Beitrittskandidaten den Nachweis einer stabilen Demokratie auf rechtsstaatlicher Grundlage, in der die Menschenrechte gewahrt und Minderheiten geschützt werden.
Gleichzeitig wird vorausgesetzt, dass alle neuen Mitglieder über eine funktionierende Marktwirtschaft verfügen, die in der Lage ist, dem Wettbewerb im Gemeinsamen Markt der EU standzuhalten und mittelfristig die Bedingungen für einen Beitritt zur Europäischen Währungsunion zu erfüllen. Zwar müssen die wirtschaftlichen Kriterien erst zum Zeitpunkt des Beitritts erfüllt sein, doch ist der Beginn von Beitrittsverhandlungen ziemlich sinnlos, wenn keine Aussichten bestehen, dass der Kandidat in absehbarer Zeit, dieses Stadium der wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Reife erreicht. Im Folgenden wird neben einer Analyse des politischen und rechtlichen Stands der Erfüllung der politischen Kriterien auch ein Blick auf die wirtschaftliche Lage und Perspektive der Türkei geworfen.
EU-Perspektive als Reformkatalysator
Als der Europäische Rat im Dezember 1999 der Türkei offiziell den Status eines Beitrittskandidaten verlieh, schuf er eine große politische Herausforderung für das Land.
Der nach dem Beschluss von Helsinki einsetzende türkische Reformprozess ist in dieser Perspektive als ein Prozess der "Europäisierung" zu sehen, mit dem die politische Konditionalität erfüllt werden soll. "Europäisierung" als Anpassung nationaler Verhältnisse an den in der EU vorherrschenden Standard oder als Herstellung einer weitgehenden Kompatibilität von nationalen und EU-Institutionen und -prozessen findet nicht nur in der Relation Union zu Mitgliedstaat statt,
Die politische Landschaft der türkischen "Europäisierung"
Im konkreten Fall der Türkei ging es seit Helsinki vor allem darum, die relevanten politischen Akteure und die türkische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Perspektive des Beitritts zur EU so realistisch ist, dass sie die mit der Erfüllung der politischen Kriterien von Kopenhagen verbundenen Kosten im Sinne fundamentaler Veränderungen im Staatsverständnis und, als Folge davon, in der Machtkonstellation der wesentlichen Akteure rechtfertigt. Für zahlreiche Anhänger eines türkisch-national und staatszentristisch verstandenen Kemalismus stellen gerade die mit dem Beitritt verbundenen politischen Bedingungen der EU nicht akzeptierbare Veränderungen im politischen Selbstverständnis der kemalistischen Republik dar. Der in den Kriterien zum Ausdruck kommende liberal-demokratische Grundsatz vom Vorrang des Bürgers und seiner Interessen vor dem Staat und der Gemeinschaft stößt sich an der herrschenden Doktrin vom Vorrang der Einheit der Türkischen Republik und ihrer Nation vor den Interessen des Einzelnen und seiner gesellschaftlichen Organisationen.
Dieses Dilemma der relativen Unvereinbarkeit von EU-Orientierung einerseits und Staatsdoktrin andererseits angesichts der EU-Konditionalität mit Blick auf die politischen Kopenhagener Kriterien spiegelte sich auch in der konkreten Politik der türkischen Führung nach Helsinki. Mit Ausnahme der Mutterlandspartei (AnaP) von Mesut Yilmaz gab es in allen Parteien der regierenden Dreiparteienkoalition Kräfte, die einem bedingungslosen Eingehen auf die Forderungen der EU mit erheblicher Skepsis gegenüberstanden. Sie hatten außerhalb des Parlaments Verbündete in Kreisen der Militärführung, der hohen Staatsbürokratie, einschließlich der Justiz, und in einigen Fällen auch in Staatspräsident Ahmet N. Sezer. Dieser wies mehrfach Reformgesetze zur erneuten Beratung an das Parlament zurück, die er für nicht im Einklang mit den kemalistischen Grundsätzen der Verfassung stehend ansah.
Die erheblichen Widerstände im Parteienlager und bei den außerparlamentarischen Machtzentren waren letztlich dafür verantwortlich, dass die Reaktionen der Türkei auf die Beitrittsanforderungen lange Zeit eher halbherzig ausfielen.
Der endgültige Durchbruch für die "Europäisierung" der Türkei im Sinne der EU-Konditionalität kam erst mit den Neuwahlen vom 2. November 2002, die zu einer völligen Umgestaltung der politischen Landschaft führten. Der türkische Wähler machte seiner seit langem angestauten Frustration über einen in Vetternwirtschaft, Korruption und Machttaktik verkommenen Parteienklüngel Luft und verbannte alle etablierten Parteien aus dem Parlament. Nur die aus der Spaltung des islamischen Lagers im August 2001 entstandene moderate Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) unter Führung des früheren Istanbuler Oberbürgermeisters Recep Tayyip Erdogan und die 1999 an der Zehnprozenthürde gescheiterte Republikanische Volkspartei (CHP) von Deniz Baykal konnten den Sprung in die Nationalversammlung schaffen. Die AKP besetzte dabei mit ca. 34 Prozent der Stimmen fast zwei Drittel der Sitze und bildet seitdem die erste Mehrheitsregierung seit Anfang der neunziger Jahre.
Damit sind im Parlament nur noch Parteien vertreten, welche die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien uneingeschränkt befürworten. Die Skeptiker in der Militärführung und im Staatsapparat haben ihre parlamentarischen "Handlanger" verloren. Widerstand gegen die Politik der forcierten "Europäisierung", wie sie von der AKP-Regierung seit ihrem Amtsantritt betrieben wird, wird dadurch erschwert, dass eine konstante Mehrheit von weit über 50 Prozent der Bevölkerung einen türkischen EU-Beitritt und die darauf gerichtete Politik befürwortet. Seit Anfang 2002 hat sich zudem eine breite Allianz von 175 Nichtregierungsorganisationen (NGO) formiert, die innerhalb wie außerhalb der Türkei für die Beitrittspolitik wirbt. In ihr sind sowohl Menschenrechtsorganisationen als auch Industrieverbände vertreten.
Auf dieser Basis konnte die AKP-Regierung die bereits Anfang August 2002 unter eher turbulenten innenpolitischen Verhältnissen mit der Verabschiedung des dritten Harmonisierungspaketes eingeleitete Verstärkung der "Europäisierungspolitik" uneingeschränkt fortsetzen.
Erdogan konnte diese Politik umso leichter verfolgen, als er sorgfältig darauf achtet, seinen politischen Widersachern im Lager der kemalistischen Hardliner keine Angriffspunkte in Sachen "Islamisierung" zu liefern. Hier liegt nach wie vor die wesentliche innenpolitische Schwachstelle für eine anhaltende Konsolidierung der AKP-Machtposition. Immer noch gibt es, auch bis weit in die Kreise liberaler Intellektueller und Meinungsführer hinein, die Sorge, in der AKP könnte irgendwann die islamistische Herkunft vieler ihrer Führungspersonen durchbrechen und der Marsch in eine "islamische Republik Türkei" beginnen, nachdem mit Hilfe der "Europäisierungspolitik" wesentliche innenpolitische Hindernisse und Widerstandskreise aus dem Weg geräumt wurden. Nur langsam wächst die Bereitschaft, Erdogan und seinen Getreuen ihre Absage an den politischen Gebrauch der Religion und ihr Bekenntnis zu den Werten einer konservativen europäischen Politikorientierung zu glauben.
Doch hat die AKP ihre Position in den jüngsten Kommunalwahlen vom 28. März 2004 deutlich festigen können, als sie landesweit noch einmal sieben Punkte auf 41,6 Prozent der Stimmen zulegte. Die CHP verlor leicht um 1,2 Punkte auf nunmehr 18,2 Prozent. Das nationalistische Lager, zu dem seit der Übernahme des Vorsitzes durch den früheren Innenminister Mehmet Agar im Frühsommer 2003 jetzt auch die Partei des Rechten Weges (DYP) zu zählen ist, festigte seine Position mit zusammen 20,3 Prozent für die Nationalistische Aktionspartei (MHP) und DYP, bildet aber nach wie vor eine klare Minderheit im politischen Spektrum gegenüber den gut 60 Prozent der Befürworter von EU-orientierten Reformen.
Die Voraussetzungen für eine relativ problemlose Fortsetzung der Politik der "Europäisierung" sind damit gegeben, wenn die EU durch eine entsprechende Entscheidung im Dezember dazu ermuntert. Erdogan und seine Mannschaft haben den Erfolg dieser Politik neben der Wiedergewinnung der wirtschaftlichen Stabilität zum entscheidenden Maßstab für das Gelingen des "Projekts AKP" gemacht. Der mit dem Erfolg der AKP eingeleitete politische Strukturwandel im konservativen Lager durch eine dauerhafte Versöhnung der islamischen Tradition der breiten Massen mit den Werten, Prozessen und Institutionen europäisch-liberaler Demokratie ist an den langfristigen Erfolg der "Europäisierung" geknüpft. Was wurde bisher erreicht? Was bleibt zu tun?
Zwischenstand der "Europäisierung"
Seit Oktober 2001 hat das türkische Parlament zwei umfangreiche Verfassungsänderungen und sieben sogenannte Harmonisierungspakete verabschiedet, mit denen in 148 zum Teil weit reichenden Gesetzesänderungen auf Forderungen und Kritik der EU reagiert wurde. Dadurch wurden die rechtliche Grundlage der türkischen Demokratie und die Menschen- und Bürgerrechte erheblich ausgeweitet und liberalisiert sowie die Lage von Minderheiten verbessert.
Machtverlust für das Militär
In politischer Hinsicht wiegt die Einschränkung der Rolle des Militärs besonders schwer, erfolgt damit doch ein Eingriff in ein Strukturelement türkischen Staatsverständnisses. Das Militär sieht sich traditionell nicht nur als Garant der äußeren Sicherheit, sondern gleichermaßen als Hüter der kemalistischen Grundsätze der Republik. Hierunter versteht die Militärführung vor allem die Einheit der türkischen Nation, ihres Volkes und Staatsgebietes sowie die laizistische Ordnung des Staates. In dieser Doppelfunktion wurde und wird das türkische Militär von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung und der politischen Öffentlichkeit akzeptiert.
Ihren politischen Einfluss übte die Militärführung vor allem über den Nationalen Sicherheitsrat (NSR) aus, der 1961 neu als verfassungsgebundenes Organ geschaffen wurde. Er spielte vor allem in den neunziger Jahren eine zunehmend wichtige Rolle, als sich die Türkei nach allgemein geteilter Ansicht im Kampf gegen eine doppelte sicherheitspolitische Herausforderung sah: den kurdischen Separatismus der PKK
Diese Rolle wird durch die Maßnahmen des 7. Harmonisierungspaketes vom August 2003 erheblich beschnitten. Durch weit reichende Änderungen der Kompetenzen des Generalsekretariats des NSR wird dieser jeglicher exekutiver Funktionen entkleidet und auf seine verfassungsmäßige beratende Rolle reduziert. Sichtbarster Ausdruck dieser Eingriffe ist die nunmehr gegebene Möglichkeit, einen hohen zivilen Beamten an die Spitze des Generalsekretariats zu berufen, die bisher stets von einem Viersternegeneral eingenommen wurde. Wichtiger dürften jedoch organisatorische Änderungen sein, die in der neuen Geschäftsordnung vom November 2003 zur Abschaffung ganzer Arbeitseinheiten geführt haben. Insbesondere ist nunmehr der automatische Zugriff des Generalsekretariats auf Unterlagen anderer Ministerien und sonstiger staatlicher Stellen nicht länger möglich. Ferner hat der NSR das Recht verloren, ein Mitglied des nationalen Hochschulrates und des nationalen Medienrates zu benennen. Darüber hinaus wurde Militärgerichten in Friedenszeiten die Zuständigkeit für Verfahren gegen Zivilpersonen genommen.
Mit diesen Schritten wurde ein weit reichender Einstieg in eine Zivilisierung der türkischen Demokratie getan, der bei konsequenter Fortführung zu einer tatsächlichen "Europäisierung" des zivil-militärischen Verhältnisses in der Türkei führen kann. Dazu sind weitere Maßnahmen nötig, die zu einer stärkeren Bindung des Militärs an den Vorrang der gewählten zivilen Politiker führen und das nach wie vor gegebene starke Eigenleben des Generalstabs und seiner nachgeordneten Dienststellen beenden. Voraussetzung dafür ist ein grundlegendes Umdenken in der politischen Öffentlichkeit und bei einem großen Teil der gewählten Politiker, die nach wie vor dazu tendieren, die Haltung der Militärführung zu nicht sicherheitsbezogenen politischen Problemen für relevant zu erachten bzw. den "weiten Sicherheitsbegriff" der Militärführung zu akzeptieren. Praktisch alle innenpolitisch bedeutsamen Fragen werden für sicherheitsrelevant erklärt, die irgendwie den Status quo und seine ideologischen Grundlagen in Frage stellen könnten.
Halbherzige Öffnung in der Kurdenfrage
Von ebenso grundlegender Bedeutung sind die Maßnahmen aus dem dritten, sechsten und siebten Harmonisierungspaket, mit denen Rundfunk- und Fernsehsendungen in kurdischer Sprache für staatliche und private Sender ermöglicht wurden. Gleichfalls wurden private Kurse zum Erlernen der kurdischen Sprache erlaubt. Die Regelungen gelten zwar auch für andere "Sprachen und Dialekte, die traditionellerweise von türkischen Staatsangehörigen im täglichen Leben gesprochen werden", doch liegt ihre politische Bedeutung in der damit verbundenen impliziten Anerkennung kultureller Rechte für den kurdischen Bevölkerungsteil. Der eherne Grundsatz von der Einheit der Republik wird damit gelockert. Zusammen mit der Beendigung des Ausnahmezustands ab November 2002 wurden so wichtige Schritte zur Normalisierung der Lage in den kurdischen Provinzen im Osten und Südosten der Türkei getan. Diese findet im täglichen Leben ihren Niederschlag, aber auch in der weitgehend ungehinderten Durchführung einiger kultureller Veranstaltungen in kurdischer Sprache, wie eines allkurdischen Literaturkongresses in Diyabakir im November 2003.
Doch zeigt die äußerst schleppende Umsetzung der Rechtsänderungen, dass der politische Widerstand gegen alles, was auf eine auch nur implizite Anerkennung einer politischen Sonderstellung des kurdischen Bevölkerungsteils hindeuten könnte, in weiten Teilen der Staatsbürokratie ungebrochen ist. So dauerte es bis Anfang Juni 2004, bis die staatliche Rundfunk- und Fernsehanstalt (TRT) bzw. deren Aufsichtsbehörde ihren Widerstand gegen die Umsetzung des Parlamentsbeschlusses vom 2. August 2002 aufgab und erste Sendungen in Kurdisch ausstrahlte. Private Rundfunk- oder Fernsehprogramme gibt es immer noch nicht, was auch mit der geringen wirtschaftlichen Attraktivität solcher Sendungen zu tun haben mag. Schließlich sieht die entsprechende Verordnung des nationalen Rundfunk- und Fernsehrates für den TRT vor, dass Rundfunksendungen in Kurdisch auf fünf Stunden pro Woche und 60 Minuten täglich zu beschränken sind und Fernsehsendungen auf maximal vier Stunden pro Woche und 45 Minuten pro Tag.
Ähnliche Schwierigkeiten waren mit der Einrichtung von kurdischen Sprachkursen an privaten Lehranstalten verbunden, deren Eröffnung sich infolge kleinlicher bürokratischer Behinderungen fast ebenso lange hinzog wie die Einführung staatlicher Rundfunk- und Fernsehprogramme. Seit Anfang 2004 gibt es in drei größeren Städten im Südosten derartige Kurse. Die Aufrechterhaltung des vor dem Verfassungsgericht laufenden Verbotsverfahrens gegen die kurdische Demokratische Volkspartei (DEHAP), die wiederkehrende Verfolgung von Funktionären dieser Partei durch die Sicherheitsbehörden wie die anhaltende Drangsalierung von kurdischen Tages- und Wochenzeitungen sind Indizien für die unveränderte Haltung des Staatsapparates, jegliche Äußerung größerer kurdischer Eigenständigkeit als Versuch der separatistischen Aufspaltung der Republik zu interpretieren. Auf dieser Linie liegt auch der bei der Ratifizierung der VN-Pakte über bürgerliche und politische Rechte und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte eingelegte Vorbehalt hinsichtlich der Bildung und der Minderheitenrechte, durch den die kurdische Bevölkerung von den Rechten dieser Pakte faktisch ausgeschlossen wird.
Die Türkei muss noch erhebliche Anstrengungen unternehmen, um die Forderung der Beitrittspartnerschaft tatsächlich erfüllen zu können, für alle Menschen, ohne jede Art von Diskriminierung und unabhängig von deren Sprache, alle Menschenrechte und Grundfreiheiten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu wahren. Dazu gehört nach Auffassung der EU auch die "Verbesserung der Lage im Südosten im Hinblick auf die Verbesserung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Chancen aller Bürger"
Andererseits zeigen die Aufhebung der ermäßigten Strafvorschriften für so genannte Ehrenmorde im sechsten Harmonisierungspaket vom Juni 2003 sowie der jüngste Bericht von Amnesty International über Gewalt gegen Frauen in der Türkei,
Mehr Bürgerrechte - zögernde Justiz
Enorme Verbesserungen hat es seit 2001 in der Rechtslage für den einzelnen Bürger hinsichtlich der Meinungsfreiheit und der Vereinsbildung gegeben. Sowohl in der Verfassung als auch in den entsprechenden Gesetzen zum Straf-, Presse- oder Vereinsrecht wurde der vorherrschende Grundgedanke des Staatsschutzes zugunsten des Grundsatzes bürgerlicher Freiheiten aufgeweicht. Das Bestreben insbesondere der AKP-Regierung ist darauf gerichtet, die türkische Rechtslage in diesen Bereichen in volle Übereinstimmung mit den Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu bringen und auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EuGMR) zur Leitlinie für die türkischen Gerichte zu machen.
Die Regierung erhofft sich mittelfristig einen spürbaren Rückgang sowohl von Menschenrechtsverletzungen durch Polizei- und Justizorgane als auch der Klagen beim und Verurteilungen der Türkei durch den EuGMR. Es ist jedoch zu konstatieren, dass diese Maßnahmen bisher nur wenig Wirkung gezeigt haben, wie verschiedene Berichte türkischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen zeigen. Insbesondere müssen die Vertreter von Menschenrechtsorganisationen, die sich um Folteropfer kümmern oder Verletzungen in den Südostprovinzen publik machen, mit anhaltenden staatlichen Eingriffen rechnen.
Die Meinungsfreiheit wurde insbesondere durch die Abschaffung von Artikel 8 des Anti-Terrorismusgesetzes und Änderungen in den Artikeln 159 und 312 des Strafgesetzbuches gefördert. Diese Maßnahmen zielen darauf, das Gesinnungsstrafrecht der Vergangenheit zu beseitigen, indem z.B. der Terrorbegriff an die Anwendung von Gewalt geknüpft wird und strafbarer Aufruf zum Terror mit dem Aufruf zur Gewalt verbunden sein muss. Die Verunglimpfung von staatlichen Institutionen muss in tatsächlich beleidigender Absicht erfolgen und nicht bloß Ausdruck von Kritik sein. Der Grundsatz der Demonstrationsfreiheit wurde betont, seine Anwendung durch verschiedene Maßnahmen wie die Verringerung der Anmeldefrist von Kundgebungen und die Einschränkung der Verbotsgründe erleichtert.
Dennoch kam es immer wieder zu Anzeigen, Festnahmen und Verurteilungen von Journalisten, Demonstranten und Menschenrechtsaktivisten, bei denen entweder die gesetzlichen Änderungen gar nicht berücksichtigt oder aber der neue Wortlaut im alten Geist ausgelegt wurde.
Gleichwohl kann noch nicht davon gesprochen werden, dass sich die Reformen bereits auf breiter Front im Bewusstsein der Ordnungsbehörden und der Justiz niedergeschlagen hätten. Ein besonders hervorstechendes Beispiel der herrschenden Unklarheit bot das Wiederaufnahmeverfahren gegen Leyla Zana und drei weitere frühere Abgeordnete der prokurdischen Demokratiepartei (DEP). Sie waren 1994 wegen Unterstützung einer separatistischen Organisation zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden, und der Prozess und das Urteil waren vom EuGMR als nicht mit den Normen der EMRK im Einklang stehend gerügt worden. Die durch die türkischen Reformgesetze ermöglichte Wiederaufnahme führte im April 2004 zur Bestätigung des Urteils durch das zuständige Staatssicherheitsgericht. Doch wurde dieses Urteil vom Kassationshof am 9. Juni mit der Begründung aufgehoben, dass auch das neue Verfahren nicht den vom EuGMR gesetzten Normen und der neuen türkischen Rechtslage entsprochen hätte, und die Angeklagten auf freien Fuß gesetzt.
Es bleibt abzuwarten, ob die mit den Verfassungsänderungen vom Mai 2004 beschlossene Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte und ihre Ersetzung durch besondere Strafkammern zu einer Vereinheitlichung der Rechtsprechung auf der Grundlage der beschlossenen Reformen führt. Das dürfte umso eher der Fall sein, wenn das vor der parlamentarischen Verabschiedung stehende neue Strafgesetzbuch in seinem Wortlaut möglichst wenig Anklänge an die umstrittenen Paragrafen des alten Textes aufweist. Auch die seit Beginn 2004 deutlich verstärkte Menschenrechtsschulung von nahezu 10 000 Richtern und Staatsanwälten durch das Justizministerium im Rahmen eines von der EU unterstützten Programms zeigt den Willen der AKP-Regierung, die Reformen nicht nur auf dem Papier zu belassen.
Mangelnde Respektierung des Folterverbots
Ähnlich starke Reformbekundungen gibt die Regierung mit Blick auf die Bekämpfung von Folter und unmenschlicher Behandlung im Polizeigewahrsam oder durch andere staatliche Sicherheitsorgane ab. Ministerpräsident Erdogan und Außenminister Gül, der einem interministeriellen Ausschuss zur Überwachung der Reformumsetzung vorsteht, werden nicht müde zu betonen, dass die AKP "null Toleranz" gegen Folter und Folterer übe. Diese deutliche Sprache ist notwendig, denn dieses Vergehen war bisher einer der häufigsten und deutlichsten Kritikpunkte an der Menschenrechtslage in der Türkei.
Schon die Verfassungsänderung von 2001 leitete die Abschaffung der Todesstrafe ein, die in mehreren Schritten im Frühjahr 2004 mit der Unterzeichnung von Protokoll 13 zur EMRK erfolgte. Die jüngsten Verfassungsänderungen gingen darauf ein, indem sie nunmehr sämtliche Bezüge auf die Todesstrafe aus dem Text entfernten.
Folter und menschenunwürdige Behandlung ist in der Türkei laut Artikel 17 der Verfassung von 1982 verboten; entsprechende Strafvorschriften existierten seit langem. Doch schützten Verwaltungspraxis und eine lasche Strafverfolgung sowie eine nachsichtige Rechtsprechung vor einer effektiven Ahndung von Vergehen. Hier setzen die jüngsten Reformen an, die durch eine Änderung der Strafprozessordnung und anderer Vorschriften in mehreren Schritten dafür sorgten, dass Gefangene unverzüglich dem Richter vorgeführt werden, von Beginn der Verhaftung an anwaltlichen Beistand erhalten und dass Angehörige informiert werden. Damit wurde sowohl die frühere Praxis der Incommunicado-Haft abgeschafft wie auch Übergriffen der Sicherheitsorgane in den ersten Stunden oder Tagen nach einer Festnahme vorgebeugt.
Die Strafverfolgung von Folterern wurde wesentlich erleichtert. Für den Beginn von Ermittlungen ist nun nicht mehr die Genehmigung der vorgesetzten Instanz des Beschuldigten notwendig, ausgesprochene Freiheitsstrafen können nicht mehr in Geldstrafen umgewandelt werden, und die Justizbehörden sind gehalten, diese Fälle als vorrangig zu behandeln und die Verfahren auch während der Gerichtsferien fortzusetzen. Außerdem hat der Staat die Möglichkeit, ihm durch Gerichtsurteil auferlegte Kompensationen von den verurteilten Beamten oder Angestellten zurückzufordern.
Trotz dieser deutlichen Verschärfung der Rechtslage verstummen die Klagen über Folter und anhaltende Misshandlungen von Festgenommenen durch die Sicherheitsorgane nicht. Das gilt insbesondere, wenn der Grund der Festnahme der Verdacht separatistischer Bestrebungen oder sonstiger "staatsfeindlicher" Aktivitäten ist.
Öffnung gegenüber nichtmuslimischen Minderheiten
Nicht nur gegenüber der eigenen Minderheit, den Kurden, hat die Türkei damit begonnen, vorsichtige Lockerungen der bisherigen restriktiven Politik einzuleiten, sondern auch gegenüber den nichtmuslimischen Minderheiten. Hier haben verschiedene Regelungen des dritten, vierten und sechsten Harmonisierungspaketes zu einer Verbesserung der Rechtslage der als Stiftungen organisierten christlichen Religionsgemeinschaften geführt. Sie können nunmehr vor allem ihre Eigentumsrechte an Immobilien sichern, neuen Grund erwerben und haben auch die Möglichkeit, religiöse Versammlungsräume zu errichten. Unzulänglich bleibt nach wie vor die Situation bei der Ausbildung oder der Beschäftigung von Geistlichen. Hier mahnt die EU insbesondere die Wiedereröffnung des 1971 geschlossenen Klosters und Priesterseminars auf der Insel Heybeliada im Marmarameer unter der Hoheit und Aufsicht des griechisch-orthodoxen Patriarchats von Istanbul (Konstantinopel) an. Die AKP-Regierung hat ihre grundsätzliche Bereitschaft hierzu signalisiert.
In Regierungskreisen wächst das Bewusstsein, dass die Erfüllung der EU-Konditionalität auch hinsichtlich der Religionsfreiheit ein Abrücken von der bisherigen Politik des staatlich gesicherten Ausschließlichkeitsanspruchs des sunnitischen Islams impliziert und rechtlich abgesicherte gesellschaftliche Pluralisierung auch in Religionsfragen ermöglichen muss. Doch dürfte die in diesen Fragen eher liberal eingestellte Führungsgruppe um Erdogan einige Probleme haben, diese Einsichten den breiteren Parteizirkeln, insbesondere den traditionell-islamischen Gruppen, zu vermitteln. Ebenso bedarf es in der mit den Gesetzesreformen in den Mittelpunkt gerückten Generaldirektion für das Stiftungswesen wie auch bei anderen Staatsinstitutionen noch eines erheblichen Umdenkungsprozesses, bis die nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften problemlos in den vollen Genuss der neuen Rechte kommen können. Allerdings gibt es in reformorientierten Kreisen des für die religiösen Stiftungen zuständigen Staatsministeriums unter Führung des "Reformtheologen" Mehmet Aydin Überlegungen, die nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften analog zu europäischen Verhältnissen in öffentlich-rechtliche Einrichtungen umzuwandeln.
Wirtschaftliche Strukturreformen
Die Politik der forcierten "Europäisierung" durch die AKP-Regierung hat jedoch nicht nur mit den erwähnten internen Problemen zu kämpfen, sondern ist zusätzlich durch ein schwieriges außen- und wirtschaftspolitisches Umfeld belastet, das den Handlungsspielraum der Regierung einengt. Insbesondere die schwere Finanz- und Wirtschaftskrise vom Frühjahr 2001 hat das öffentliche Interesse von den politischen Reformen abgelenkt und die Wiedergewinnung der wirtschaftlichen Stabilität und die Verbesserung der allgemeinen Wirtschaftslage für die breite Masse der türkischen Bevölkerung zum vorrangigen Problem werden lassen. Es gibt jedoch insofern einen Zusammenhang zur "Europäisierung", als von vielen Türken das dadurch angestrebte Ziel des EU-Beitritts als eine wirksame "Versicherung" gegen künftige Misswirtschaft angesehen wird, die sie den Regierenden der neunziger Jahre pauschal zum Vorwurf machen. Die EU erhält also nicht nur mit Blick auf die Demokratisierung und Liberalisierung der politischen Verhältnisse, sondern auch für eine positive Perspektive der wirtschaftlichen Lage eine bedeutsame Ankerfunktion.
Die schwere Finanzkrise, die Anfang 2001 mit einem drastischen Wertverlust der Lira gegenüber dem Dollar und einem kurzfristigen Anstieg der Zinsen auf über 100 Prozent über die Türkei hereinbrach, hinterließ auch in der realen Wirtschaft tiefe Spuren. Zehntausende Klein- und Mittelbetriebe machten Bankrott, über eine Million Menschen verloren den Arbeitsplatz, und der Lebensstandard, insbesondere in der unteren Mittelschicht der Städte, ging deutlich zurück.
In Zahlen lässt sich das Desaster folgendermaßen darstellen: Das Wirtschaftswachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) ging 2001 um 7,5 Prozent zurück, die Lira hatte um 113 Prozent gegenüber dem US-Dollar an Wert verloren, die Staatsverschuldung lag bei 101 Prozent des BIP, die Inflationsrate der Verbraucherpreise erreichte am Jahresende 68,5 Prozent, das nominale Zinsniveau war bei 75 Prozent, das Realeinkommen der Beschäftigten sank um 20 Prozent, und die Arbeitslosigkeit lag mit steigender Tendenz bei 8,5 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung.
Die Dreiparteienkoalition war gezwungen, mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) einen mehrjährigen Beistandskredit in der Größenordnung von ca. 19 Milliarden US-Dollar zu vereinbaren. Im Gegenzug verpflichtete sich die Türkei, strikte wirtschaftspolitische Vorgaben des Fonds einzuhalten, durch die allmählich die wirtschaftliche Stabilität zurückerlangt und die Voraussetzungen für einen mittelfristigen nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung geschaffen werden sollten. Kernpunkte des IWF-Programms sind äußerste haushaltspolitische Sparsamkeit, umfassende Privatisierung von staatlichen Wirtschaftsunternehmen und tief greifende wirtschaftliche Strukturreformen, mit denen die Wirtschaft entpolitisiert werden soll. Diese betreffen vor allem die vollständige Unabhängigkeit der Notenbank von der Regierung, die Konsolidierung des türkischen Bankensektors unter Aufsicht einer unabhängigen Regulierungsbehörde, die Deregulierung des Telekommunikations- und Energiesektors sowie die Sanierung der total überschuldeten öffentlichen Sozialversicherungssysteme.
Unter Führung des von Ministerpräsident Ecevit von der Weltbank geholten Wirtschaftsfachmanns Kemal Dervis - einem mit weitgehenden Befugnissen ausgestatteten Staatsminister für Wirtschaftsfragen - gelang es gegen den Widerstand national-kemalistischer und staatswirtschaftlich orientierter Kräfte in der MHP und der DSP, das Programm in seinen wesentlichen Teilen zügig umzusetzen. Schon Mitte 2002 zeigten sich erste Erfolge, auf denen die AKP-Regierung ab November 2002 aufbauen konnte. Nach anfänglichem Zögern rückten Erdogan und sein Führungskreis die unveränderte Umsetzung des IWF-Programms in gleicher Weise ins Zentrum ihrer Regierungsarbeit wie die erfolgreiche "Europäisierung".
Sie konnten dabei ebenso erstaunliche Erfolge vorweisen: Ende 2003 lag das Wirtschaftswachstum wieder bei 5,9 Prozent, die Inflation war auf 18,4 Prozent und der Zins für Tagesgeld im Interbankenverkehr auf 26 Prozent zurückgegangen - seit Jahren nicht mehr realisierte Zahlen. Die seitdem März 2001 frei floatende Lira hatte sich stabilisiert und zeigte gegenüber den wichtigsten Auslandswährungen sogar eine leichte Aufwertungstendenz. Auch die Staatsverschuldung war rückläufig, wenngleich mit gut 80 Prozent des Bruttoinlandsproduktes immer noch sehr hoch.
"Bürger Osman" konnte von der allgemeinen wirtschaftlichen Verbesserung allerdings nur begrenzt profitieren. Die Arbeitslosigkeit lag Ende 2003 mit offiziell 2,4 Millionen statistisch erfassten Erwerbslosen nur geringfügig unter der des Vorjahres und war mit 10,3 Prozent im OECD-Raum immer noch die vierthöchste. Bedrückend ist die hohe Arbeitslosigkeit unter den ausgebildeten städtischen Jugendlichen mit einer Rate von 25,4 Prozent. Hier zeigt sich, dass das erfreulich gute Wirtschaftswachstum bisher nicht in ein entsprechendes Beschäftigungswachstum umgesetzt worden ist.
"Europäisierung": ein Konzept ohne Alternative
Die Türkei befindet sich seit zwei Jahren auf einem politischen und wirtschaftlichen Erfolgskurs, der vor allem von der Politik der "Europäisierung" und der IWF-gestützten Stabilitätspolitik getragen wird. Doch ist weder die Demokratisierung noch die wirtschaftliche Erholung bereits vollendet. In beiden Bereichen bleibt noch viel zu tun. In türkischen Kreisen werden jedoch zunehmend rosige Bilder gemalt, in denen der Beginn von Beitrittsverhandlungen zu einer weiteren Verbesserung der Lage führen wird. Diese These vom "virtuous circle" des Beitrittsprozesses wird aber nur Wirklichkeit, wenn die türkische Politik in den nächsten zehn Jahren all jene Fehler vermeidet, die in den vergangenen zehn Jahren dazu geführt haben, dass ähnlich verheißungsvolle Aussichten nicht Wirklichkeit wurden, die von der Regierung Özal am Ende der achtziger Jahre verkündet wurden. Die Türkei und ihre politischen Protagonisten haben mit dem Umstand zu kämpfen, dass sie schon zu oft der eigenen Bevölkerung, aber auch der EU eine rosige Zukunft gemalt haben, die sich dann in der Realität als höchst düsteres Bild entpuppte.
Doch wäre es fatal, wenn gerade die EU im Dezember durch eine Ablehnung oder eine weitere unspezifische Verschiebung von Beitrittsverhandlungen die Initialzündung für eine erneute Abwärtsspirale der türkischen Politik und Wirtschaft geben würde. Erdogan hat sein politisches Schicksal und das seiner Partei derart an einen Erfolg der "Europäisierungspolitik" der letzten zwei Jahre geknüpft, dass ein Scheitern durch eine in türkischen Augen unverständliche Zurückweisung seitens der EU politisch und wirtschaftlich höchst schwerwiegende Folgen für ihn, die AKP und darüber hinaus für die ganze Türkei hätte. Angesichts der noch immer fehlenden Alternative zur AKP in der Mitte des politischen Spektrums und der anhaltenden Schwäche der linken Opposition stünde eine Zeit politischer Turbulenzen mit ungewissem Ausgang bevor. Sie würde auch das gerade aufkeimende internationale Vertrauen in die wirtschaftliche Reformfähigkeit des Landes zutiefst erschüttern. Das auch aus Sicht der EU erstrebenswerte politische Ziel einer anhaltenden Stabilisierung der Türkei stünde erneut auf dem Spiel.