Entwicklungslinien und Merkmale der politischen und gesellschaftlichen Kultur Italiens*
Italien ist ein facettenreiches Land, das über zahlreiche Freiwilligenverbände, Vereine, ehrenamtliche Einrichtungen und nichtstaatliche Organisationen - kurz: über eine starke Zivilgesellschaft verfügt. Dies hat zur Folge, dass es nicht ausreicht, im Parlament die absolute Mehrheit zu besitzen, um das Land wirklich regieren zu können. Man muss sich hierzu vielmehr auch auf eine sehr breite gesellschaftliche Mehrheit stützen können bzw. sich im Einklang mit der jeweils herrschenden Kultur befinden. Mit "Kultur" meine ich hier (im anthropologischen Sinn) die Übereinstimmung der Mitglieder großer gesellschaftlicher Gruppen in der Art und Weise ihres Beurteilens, Denkens und Handelns. Italien ist außerdem ein Land, in dem die Führungsschicht das Fehlen von Errungenschaften beklagt, die sich in anderen europäischen Staaten durch die protestantische Reformation (oder zumindest durch häufigen Austausch mit der protestantischen Kultur) durchgesetzt haben, nämlich eine intellektuelle und moralische Reform, die das Problem gemeinsamer demokratischer Werte und Grundüberzeugungen in Politik und Gesellschaft in den Vordergrund rückt. In Italien ist sozusagen die "ethische Frage" nicht gelöst. Tatsächlich braucht das Land eine Führungsschicht, die sich auf eine Kultur stützt, in deren Mittelpunkt die Frage nach den Werten steht, welche die Quelle wechselseitigen Vertrauens in den Sozialbeziehungen sind. Bis heute dominiert in der politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Führungsklasse dieses Landes ein tendenziell machiavellistisches Denken und Handeln; die Notwendigkeit der Existenz von Moral, Tugend und Werten für die politische Herrschaft wird negiert. Bis heute konstituieren sich die Sozialbeziehungen in Italien eher vertikal, d.h. als Abhängigkeitsverhältnis zwischen Regierenden und Regierten, zwischen Herrschenden und Untergebenen - ein Muster, das quer zu den ideologischen und politischen Unterschieden liegt und diese häufig dominiert.
Vor dem Hintergrund dieser wenigen Feststellungen lässt sich meines Erachtens die gesamte Entwicklungsgeschichte des Landes seit 1860 erklären und damit zugleich auch ein alternatives Erklärungsmodell zu dem liefern, das Robert D. Putnam Anfang der neunziger Jahre vorgelegt hat und das in den Sozialwissenschaften bis heute so viel Beachtung findet.
Bis zu diesem Zeitpunkt, ganz besonders zwischen 1860 und 1876, war die italienische Politik allein daran interessiert, die Funktion und Rolle des Staates herauszustellen. Die Ursache dafür ist darin zu sehen, dass es zwar de jure einen italienischen Staat gab, der auch von den wichtigsten europäischen Mächten anerkannt wurde, aber noch keine Bevölkerung, die sich mit diesem Staat identifizierte. Es gab sozusagen noch keine "Italiener" bzw. keine innere Einheit, denn bis auf eine Minderheit fühlten sich die meisten weiterhin als Bürgerinnen und Bürger der aufgelösten Kleinstaaten. Nachdem die liberale historische Rechte 1876 mit der Errichtung des italienischen Nationalstaats ihre politische Aufgabe erfüllt hatte und von der historischen Linken abgelöst worden war, hoffte man, mit ihr würde sich eine neue Kultur etablieren können, eine, die der Frage von Werten und Moral in der Politik größere Aufmerksamkeit schenkt. Der sich herausbildende Positivismus erwies sich jedoch als hierfür gleichermaßen unsensibel.
Bei Kriegsende glaubte man, dass sich nun endlich eine wertorientierte Kultur durchsetzen würde, doch stattdessen etablierte sich eine neopositivistische Position. So vertrat Norberto Bobbio die Ansicht, dass die Verantwortung für das Entstehen des Faschismus im Neoidealismus begründet liege, und sprach sich dafür aus, die Wissenschaft als einzig wahre Erkenntnisgrundlage wieder zum Orientierungspunkt des menschlichen Lebens zu machen, da sie wertneutral sei. Italien, das zu dieser Zeit stark unter dem Einfluss Amerikas stand, zeigte damit abermals, wie wenig es die filosofia civile schätzte. Bobbio übertrug in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre der Politikwissenschaft (in ihrer Eigenschaft als empirische Disziplin der Politik) die Aufgabe, sich zur Speerspitze bei der Etablierung einer "empirischen Kultur" in Italien zu machen, um auf diese Weise die Demokratie zu entwickeln und zu festigen. Dabei knüpfte er an Überzeugungen an, die denjenigen John Deweys, Bertrand Russells, Otto Neuraths und Karl Poppers mehr oder weniger ähnlich waren.
*Übersetzung des Artikels aus dem Italienischen von Sabine Andree (Bonn) und Alexander Grasse (Padua).
Politik und Wissenschaft in der "zweiten Republik"
Trotz der - gemessen an der Zahl der Dozenten - geringen Bedeutung der Politikwissenschaft in Italien gelangten einige herausragende Köpfe dieser Disziplin in den vergangenen zehn Jahren in die Politik, wurden entweder Abgeordnete oder Senatoren (u.a. Gianfranco Miglio, Domenico Fisichella, Arturo Parisi, Gianfranco Pasquino, Stefano Passigli sowie der kürzlich verstorbene Norberto Bobbio), Minister (Giuliano Urbani) oder wichtige Meinungsmacher bzw. einflussreiche politische Berater (u.a. Giovanni Sartori, Angelo Panebianco). Dieser Eintritt von Politologen der empirischen Schule in die aktive Politik ist höher zu bewerten und systematischer erfolgt als der von Intellektuellen aus anderen Bereichen. Deren politisches Engagement erfolgte häufig vor dem Hintergrund, dass die Parteien versuchten, große Namen aus dem gegnerischen ins eigene Lager zu ziehen (Lucio Colletti) oder ein prestigeträchtiges Amt mit einem angesehenen Wissenschaftler zu besetzen (wie z.B. auf der Seite der Linken das Ministerpräsidentenamt mit Romano Prodi oder auf der Seite der Rechten das Amt des Senatspräsidenten mit Marcello Pera), oder aber es handelte sich um das Ergebnis eines spontanen Entschlusses (Nino Andreatta, Massimo Cacciari, Michele Salvati). Für manch einen stellte die universitäre Laufbahn auch schlicht eine Möglichkeit dar, einen akademischen Titel zu erwerben, der in der Politik von Vorteil ist (Rocco Buttiglione). Die Politikwissenschaft war aus zwei Gründen besonders wichtig für die italienische Politik, zum einen, weil sie die politische Sprache und damit auch die Inhalte insgesamt erneuert hat: Bobbio mit der Rekonstruktion der Idee des Liberalismus nach Croce, Miglio während der ersten Jahre der Lega Nord, Fisichella bei der Umwandlung des Movimento Sociale Italiano in Alleanza Nazionale (also der Transformation von einer neofaschistischen in eine demokratische, verfassungstreue rechtskonservative Partei), Parisi mit der Gründung der Partei der Margherita etc. Zum anderen war sie wichtig, weil sie die Sprache der amerikanischen Verfassung auf die italienischen Verhältnisse übertragen und wichtige Impulse geliefert hat: z.B. Sartori mit einer Gesetzesinitiative zur Regelung des Interessenkonflikts. Insbesondere seit der als Mani Pulite
Die Universitäten werden - in ihrer Rolle als Referenzpunkt des gesamten Bildungswesens - von der derzeitigen Mitte-rechts-Regierung regelrecht als "Feind" betrachtet. Ein Grund dafür liegt im Wiederauftauchen sozialer Bewegungen an den Universitäten, genauer gesagt der Bewegungen der Global Civil Society (die in Italien jedoch infolge eines Überbleibsels hegelianischer und marxistischer Kultur No Global-Bewegung genannt wird), ein anderer in den unterschiedlichen Auffassungen bezüglich der öffentlichen Rolle der Bildung. Während die Hochschulen nach Meinung der Linken auch zur Stärkung der Demokratie beitragen sollen, reduziert die gegenwärtige Regierung deren Rolle auf eine berufsorientierte Ausbildung. Nachdem Silvio Berlusconi 1994 noch mit einer sehr knappen Mehrheit regieren musste, kann er sich seit dem Jahr 2001 zwar auf eine sehr breite parlamentarische Mehrheit stützen, nicht aber auf eine gesellschaftliche Mehrheit. Genau aus diesem Grund versucht die Regierung, die Bedeutung der in Italien traditionell linksgerichteten akademischen Kultur herunterzuspielen. Darüber hinaus zwingt sie die Hochschulen, sich immer mehr aus Drittmitteln zu finanzieren (mit dem Ziel, die Bindungen der Hochschulen an die großen Unternehmen zu verstärken), und versucht gleichzeitig, so viele öffentliche Gelder wie möglich auf private Schulen aller Stufen und fachlichen Ausrichtungen zu transferieren. Die Universität, einst als Bollwerk und Stütze der Demokratie gedacht, entwickelt sich damit zu einer Institution, die ganz im Sinne der Regierung Berlusconi als Institution zur Stärkung einer starken liberalen Gesellschaft fungiert, in der die Interessenverbände immer größere Macht und Handlungsfreiheit haben.
Nach Mani Pulite hätte eigentlich im Zeichen einer neuen Kultur, aber auch einer neuen Politik, die sich (endlich) an moralischen Maßstäben und an den von der Mehrheit der Gesellschaft geteilten demokratischen Werten orientiert, regiert werden sollen und müssen. Dass dies nicht geschehen ist, dafür ist nicht nur Berlusconi verantwortlich, der die Politik der Selbstherrlichkeit der ersten Republik, die mittlerweile verschwunden ist, fortgeführt, ja sogar noch verstärkt hat. Unter Berlusconi ist das Motto der Christdemokraten "Wir lassen uns nicht auf den Straßen verurteilen" durch das Motto "Ich lasse mich nicht vor Gericht verurteilen" (von "kommunistischen" Richtern) abgelöst worden. Die Überbleibsel des Neopositivismus innerhalb der Kultur der Linken haben ebenfalls dazu beigetragen. Dieser verpasste Richtungswechsel in der politischen Kultur führt zu nicht unerheblichen Problemen bei der Regierbarkeit des Landes.
Die Zivilgesellschaft und der Realismus der Linken
Die Voreingenommenheit der Regierungsmehrheit und die insbesondere von Berlusconi selbst gegenüber der Justiz eingenommene Haltung hat sich gerade unter dem Aspekt von Werten und Moral als sehr unklug erwiesen, ist sie doch auf breite Ablehnung der Bevölkerung gestoßen. Mit seiner permanenten Kritik an der Justiz und der Beschuldigung, die Richter seien "Kommunisten", löste er bei der Zivilgesellschaft einen massiven Protest aus. Ausgangspunkt des Protests war der 12. Januar 2002. Während der feierlichen Eröffnung des neuen Gerichtsjahres an den einzelnen Standorten der Appellationsgerichte brüskierten zahlreiche junge italienische Staatsanwälte und Richter (zumeist solche, die Fälle von Verbrechen der Mafia oder des Terrorismus bearbeiteten) die Regierung, indem sie sich weigerten, die für diese Zeremonie traditionell vorgeschriebene Robe anzulegen. In einigen Fällen verließen sie zu Beginn der Rede des Regierungsvertreters demonstrativ den Saal. Der Generalstaatsanwalt der Stadt Mailand, Francesco Saverio Borrelli, der in der Zeit von Mani Pulite eine tragende Rolle gespielt hatte, hielt anlässlich der Feierlichkeiten eine leidenschaftliche Rede, in der er sich gegen die Regierung wandte. Sein Vortrag schloss mit der Aufforderung: "Resistere, Resistere, Resistere (Leistet Widerstand, immer und immer wieder) - wie an der Grenzlinie des Piave". Dieser Aufruf - ein Zitat aus einer bekannten Rede des italienischen Ministerpräsidenten Vittorio Emanuele Orlando im Ersten Weltkrieg - führte dazu, dass Tausende Italiener spontan auf die Straße gingen, sich wie bei dem bekannten Kinderspiel Ringelreihen (girotondo) an den Händen fassten und Menschenketten um die Gerichtsgebäude bildeten. Dies sollte einen imaginären Schutz der Richter vor der Einmischung durch die Regierung darstellen. Eine Protestgruppe entstand, für die sich der Name Girotondini (oder abqualifizierend: Girotondisti) eingebürgert hat. Im Fahrwasser dieser Kundgebungen kam es in Italien zu wiederholten Massendemonstrationen. Die Zivilgesellschaft wurde auch dadurch mobilisiert, dass wichtige Vertreter des kulturellen Lebens in die politische Arena traten. Seine Legitimation erfuhr der Protest durch die nahezu einhellige Zustimmung seitens der Rechtswissenschaft und die von ihr mit den Richtern zum Ausdruck gebrachte Solidarität.
Der zivilgesellschaftliche Protest trug letztlich aber auch zur Schwächung der Oppositionsparteien bei. Das kam überdeutlich darin zum Ausdruck, dass die Spitzenpolitiker des Ulivo - des Bündnisses der italienischen Mitte-links-Parteien unter dem Vorsitz Romano Prodis - für ihre politischen Veranstaltungen plötzlich nur noch ihre Aktivisten sowie ein paar versprengte Grüppchen treuester Anhänger und Nostalgiker mobilisieren konnten. Die Zeiten, in denen das Bündnis des Olivenbaums Millionen von Italienern begeistert hatte, schienen acht Monate nach der Wahlniederlage, welche die Mitte-links-Parteien auf die Oppositionsbank verwiesen hatte, vorbei zu sein. Am 1. Februar 2002 stieg Nanni Moretti, einer der wichtigsten italienischen Regisseure und Filmemacher, gegen Ende einer Kundgebung der Linken auf der Piazza Navona in Rom unaufgefordert auf die Bühne, um vor den wenigen Tausend Versammelten eine Ansprache zu halten. Mit einfachen, aber eindrucksvollen Worten brachte er zum Ausdruck, was viele dachten und hören wollten: "Mit diesen Führern (dabei zeigte er mit einer ausladenden Geste auf Francesco Rutelli, den bei den Wahlen 2001 geschlagenen Herausforderer Berlusconis, sowie auf Piero Fassino, Generalsekretär der DS, und Massimo D'Alema, Parteivorsitzender der DS) werden wir nie gewinnen! Ich bin kein Politiker, und ich könnte auch nicht mit Fausto Bertinotti (dem Vorsitzenden der extremen linken Partei Rifondazione Comunista) reden. Aber diese hier, das sind Politiker und es ist ihre Aufgabe, mit allen zu reden und sich zu einigen, wenigstens innerhalb der Linken, wenigstens innerhalb derjenigen, die Berlusconi nicht wollen." Nach dieser improvisierten Rede verstärkte sich die Bewegung zur Verteidigung der Richter um ein Vielfaches; schließlich waren es Millionen von Menschen, die willens waren, jeden zu unterstützen, der sich gegen die Regierung auflehnte - zuallererst die Richter. Die linksgerichteten Parteien wurden von dieser mächtigen Bewegung, auf die sie zunächst keinerlei Einfluss hatten, vollkommen überrascht. Mit tatkräftiger Unterstützung von Sergio Cofferati, Gewerkschaftsführer der CGIL und wichtige Symbolfigur des gesellschaftlichen Protests gegen die Regierung (inzwischen Bürgermeister von Bologna), kam es jedoch zu einer Annäherung und Aussöhnung zwischen der Bewegung und den Parteichefs der Linken. Der zivilgesellschaftliche Protest hat jedenfalls dazu geführt, dass in der italienischen Politik nichts mehr so ist, wie es einmal war, weder im Parlament, wo die Mehrheit ins Wanken geraten ist, noch innerhalb der Regierung, die eine fast vergessene Lektion wieder neu lernen musste, die da lautet: Man kann Italien zwar unter weitgehender Ignorierung der Gesellschaft und ihrer Grundüberzeugungen bzw. Wertvorstellungen regieren, doch man darf sich nicht bewusst in offenen Gegensatz zur vorherrschenden Kultur setzen. Die Linke ihrerseits hat aus dem Auftauchen der neuen gesellschaftlichen Bewegungen keine Lehren gezogen. Der Widerstand der Parteiapparate ist dafür nur ein Grund, schwerer wiegt der unbeirrbare politische Realismus.
Eine wichtige Rolle bei der "wissenschaftlichen" Verteidigung dieser Kultur spielte und spielt noch immer die italienische Politikwissenschaft, deren hauptsächlicher Gründungsmythos - wie bereits erwähnt - darin gesehen wird, dass der Neopositivismus ein notwendiges Instrument zur Bekämpfung des Idealismus und deshalb zur Unterstützung der Demokratie sei.
Politik und Kultur: die Rechte
In einem kulturellen Kontext, in dem sich die ganze Aufmerksamkeit darauf richtet, die Dinge bei ihrem richtigen Namen zu nennen, muss der politische Instinkt von Führungspersönlichkeiten mit Hilfe einer Reihe terminologischer Abgrenzungen von höchster semantischer Genauigkeit abgesichert werden. Die italienische Linke, die eindeutig in der Tradition der Aufklärung steht, hat versucht, die Struktur der modernen Gesellschaft auf die drei Säulen Wissen, Kompetenz und Elite aufzubauen. Zunächst schien es, als würde sich auch die Rechte in Richtung einer solchen Konzeption bewegen. Zumindest konnten die ersten Entscheidungen der drei wichtigsten Führungspolitiker des Mitte-rechts-Spektrums so interpretiert werden: Gianfranco Fini, der sich auf dem noch neuen Feld der Umwandlung des MSI in die AN bewegte; Umberto Bossi, der sich auf dem neuen Gebiet der nationalen Politik mit einer ausschließlich regional agierenden Partei betätigte; Silvio Berlusconi, der beabsichtigte, ex novo in die Politik einzusteigen und eine neue Partei gründete. Alle drei haben sich dabei einem jeweils anderen Kopf der italienischen Politikwissenschaft anvertraut: Gianfranco Fini Domenico Fisichella, Umberto Bossi Gianfranco Miglio und Silvio Berlusconi Giuliano Urbani. Es mag Zufall gewesen sein, es kann aber auch am Wahlsieg des Mitte-rechts-Bündnisses im Jahr 1994 gelegen haben, der deutlich machte, wie wichtig das Gefüge aus Massenmedien und akademischen und damit auch verlegerischen Möglichkeiten war, um eine entsprechend starke Verbreitung von politischen Botschaften zu erreichen, dass diese drei Politiker am Ende alles auf die Karte der Massenmedien gesetzt und die Bedeutung der drei "Professoren" wieder eingeschränkt haben. Einige dieser Intellektuellen sind von Forza Italia bejubelt (Urbani) oder ins Abseits gedrängt (Colletti), einige von AN in ihrer Bedeutung herabgewürdigt (Fisichella) oder von der Lega Nord aus der Partei ausgeschlossen (Miglio) worden. All dies war Teil des politischen Tagesgeschehens.
Daneben wird im Mitte-rechts-Spektrum jedoch an einem langfristigen strategischen Plan gearbeitet, der in erster Linie durch diverse Zeitschriften vorangetrieben wird, die politisch linksorientierte Intellektuelle ansprechen bzw. anziehen sollen. Dabei handelt es sich hauptsächlich um folgende vier Zeitschriften:
Ideazione, die alle zwei Monate erscheint, sich ausschließlich im Umfeld der nationalen Rechten ansiedelt und in den zehn Jahren ihres Bestehens einen hohen Grad an Glaubwürdigkeit erlangt hat. Der geistige Kurs richtet sich auf die eingehende Prüfung der italienischen Kultur des 20. Jahrhunderts, wobei eine andere Lesart als die der Linken vermittelt werden soll. Die Zeitschrift sucht den Dialog mit den Liberalen (zu diesen zählte auch der im Januar 2004 verstorbene Norberto Bobbio), mit denen sie in der Kritik am Marxismus Übereinstimmung erkennt, und zeichnet sich dadurch aus, dass sie das Tagesgeschehen auch von politisch Andersdenkenden kommentieren lässt.
Il Domenicale ist ein Wochenblatt, das mit der marxistischen Kultur (im weiteren Sinne) ähnlich hart ins Gericht geht wie Ideazione und auf deren Revision zielt. Allerdings geht sie dabei von der Literatur aus, nicht zuletzt deshalb, weil die literarische Kultur von jeher die traditionelle Bildung des italienischen Linksintellektuellen darstellt, der eher Giacomo Leopardi zitieren wird als einen Philosophen wie Vico oder Rosmini oder Juristen wie Romagnosi oder Trentin.
Il Foglio ist ein täglich in Form einer einzigen Druckseite erscheinendes Meinungsblatt, das von einem Überläufer der Linken, Giuliano Ferrara, begründet wurde. Es tut sich zum einen bei der Interpretation und Formulierung langfristiger politischer Probleme hervor, zum anderen macht es sich zum Sprachrohr der neokonservativen amerikanischen Philosophie (angefangen beim Neoföderalismus Reagans bis hin zur Unterstützung der Theorie vom Präventivkrieg).
Liberal wurde von einem weiteren Überläufer der Linken, Ferdinando Adornato gegründet, der von 1984 bis 1994 Redakteur der beiden Wochenzeitschriften Panorama und Espresso war und sich danach bei MicroMega einen Namen gemacht hat. Die Zeitschrift MicroMega war 1986 mit dem Ziel gegründet worden, die politische Linke zu reformieren, indem diese mit derjenigen Linken, die sich nicht von den Parteien repräsentiert fühlt und sich nur im Rahmen von zivilgesellschaftlichen Bewegungen mobilisieren lässt, zusammengebracht werden sollte. Der Versuch, diese mit Hilfe von Bürgerinitiativen und freien Wählergemeinschaften auf kommunaler Ebene für die politische Linke zurückzugewinnen, war jedoch vergeblich. Besonders wichtig an Liberal ist, dass Adornato Schritte zur Rückkehr zur "ethischen Frage" in der Politik unternimmt, sei es, indem er die "bürgerliche Tugend" aufgreift und damit der Philosophie Hannah Arendts wieder Geltung verschafft, sei es, indem er die Aussöhnung von Liberalismus und Katholizismus (kurz: von Sokrates und Jesus) betreibt, oder sei es, indem er die moralischen Werte neu präsentiert bzw. sie neu zu begründen versucht.
Der intellektuelle und politische Werdegang Adornatos ist nach meinem Dafürhalten sinnbildlich für die kulturelle Starre der Linken. Er ging durch die Schule der MicroMega als der wichtigsten politischen Zeitschrift der Linken der achtziger Jahre, für welche die Zurückgewinnung der Zivilgesellschaft durch die Politik mit Hilfe einer Wertorientierung von zentraler Bedeutung war und ist. Angesichts der Tatsache, dass die Linke jedoch 1991 unmissverständlich erklärte, dass sie nicht zum Umdenken bereit sei, veröffentlichte Adornato einen Artikel mit dem bedeutungsschweren Titel Oltre la Sinistra (Über die Linke hinaus). Konsequenterweise machte er sich 1992 zum Fürsprecher und dann zum Koordinator von Alleanza Democratica, einer der zahlreichen politischen Erscheinungen aus dem Umfeld von MicroMega zur Erneuerung der Linken. 1994 wurde Adornato für die Linke zum Abgeordneten gewählt. Bevor er 1996 sein Mandat beendete, gründete er Liberal mit dem ausdrücklichen Ziel, der Linken ein echtes kulturelles Programm liberaler Prägung zu verschaffen. Die Zeitschrift, die den Untertitel "eine Begegnung zwischen Katholizismus und Laizismus" trägt, ist offen für alle, für Rechte wie Linke, und hat den Anspruch, sowohl die Rechte als auch die Linke zu reformieren. Adornato hoffte, dass sich Rechte und Linke ändern würden. Er glaubte noch bis zum Jahr 2001, dass sich auch die Rechte verändern würde, wenn sich die Linke erst einmal verändert hätte. 2001 musste sich Adornato allerdings vom Gegenteil überzeugen lassen: Die Linke erweist sich als zu konservativ und ist weder dazu bereit, sich reformieren zu lassen, noch, sich eine Kultur anzueignen, die der Zivilgesellschaft näher steht, im Sinne einer Vorstellung von "Freiheit als empowerment der größtmöglichen Anzahl von Bürgern"
Die Aussichten nach den Wahlen 2004
Berlusconi hat sein Augenmerk nie auf die "ethische Frage" gerichtet, weder als Mitglied der Opposition noch als Regierungschef. Im Gegenteil - sein politischer Realismus könnte radikaler kaum sein. Berlusconi bemüht sich nicht, sich den Wählerinnen und Wählern dadurch anzunähern, dass er deren Werte aufgreift oder gar teilt, sondern er versucht sie zu dominieren, indem er sie mit der Macht seines Charismas verführt. Aus diesem Grund hat er seit seinem Eintritt in die Politik immer auf die Karte der Massenmedien gesetzt, und bis vor einigen Monaten schien er damit richtig zu liegen, denn seine telegene Ausstrahlung ließ ihn in der Tat unbesiegbar erscheinen. Seit einiger Zeit aber wirkt sein Auftreten nicht mehr so gewinnend: Im Gegensatz zu früher sinkt die Zahl der Zuschauer, wenn er sich im Fernsehen zeigt. Ohne jeglichen Respekt vor den Regeln von Recht und Anstand hat er die Wählerinnen und Wähler noch am Wahltag dazu aufgefordert, sie sollten nicht seine kleinen Koalitionspartner wählen, sondern lieber Forza Italia unterstützen. Dafür wurde er abgestraft, denn genau diese Parteien verzeichneten Stimmenzuwächse, während seine eigene Partei erheblich an Stimmen einbüßte. Derzeit ist dies noch eine Warnung, die keine großen Auswirkungen haben dürfte: eine Aufforderung, die bisherige Politik zu ändern. Das Signal ist von der Regierung offensichtlich verstanden worden, denn sie hat einen politischen Richtungswechsel versprochen: Sie beteuerte "mehr zu tun, für alle etwas zu tun, und das mit mehr Gerechtigkeit". In den nächsten zwei Jahren wird Berlusconi an seinem genau in dieser Frage angeschlagenen Bild arbeiten müssen; sein Charisma allein trägt nicht mehr länger. Die Linke, die sich noch immer nicht von den Fesseln ihres exzessiven politischen Realismus hat befreien können, wurde von dieser neuen Entwicklung - nämlich der Umkehr der in den letzten zehn Jahren zu beobachtenden Tendenz, wonach Parteien und Personen vor allem aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbilds und bestimmter Marketingstrategien gewählt wurden - vollkommen unvorbereitet getroffen. Die Marketingstrategie von DS, Margherita und PSI, sich unter dem gemeinsamen Symbol des Olivenbaums zu präsentieren, so als wären sie eine einzige Partei, ist jedenfalls nicht aufgegangen. Die drei Parteien erzielten gemeinsam nicht mehr, sondern sogar weniger Stimmen als bei den vorangegangenen Wahlen, bei denen sie getrennt angetreten waren.
Die Schlussfolgerung aus all dem ist, dass sich die politische Führungsklasse in Italien als unfähig erweist, sich ernsthaft mit der Zivilgesellschaft auseinander zu setzen, deren Bedürfnisse aufzunehmen und konstruktiv zu verarbeiten. Eine aktive Bürgerschaft widerspricht ihrer politischen Kultur und entzieht sich ihren Analysekategorien und Interpretationsmustern. In der Folge wird auf eine Strategie des Aussitzens gesetzt, oder die neuen sozialen bzw. zivilgesellschaftlichen Bewegungen werden als Populismus abqualifiziert. Es fehlt ein Grundverständnis für deliberative Politik wie auch für die Existenz von in die vorherrschende Kultur eingeschriebenen Verhaltensregeln, die nur bei bestimmten Anlässen sichtbar werden, aber stets vorhanden sind - eine ethische Norm, welche den schriftlich kodifizierten Normen und Regeln vorgelagert ist, diesen vorangeht. Die italienische Führungsschicht bietet als "politisches Programm" derzeit Realismus (auf der linken Seite) und Charisma (auf der rechten Seite) an, während die Zivilgesellschaft - die sich bislang zu keiner der beiden Seiten bekannt hat - nach demokratischen Werten und Moral verlangt. Wer als Erster den Eindruck erweckt, er würde sich durch sein Engagement den Wünschen und Interessen der Zivilgesellschaft annähern, der wird bei den im Jahr 2006 anstehenden Parlamentswahlen vermutlich das bessere Ende für sich haben, d.h. das Land regieren und ihm möglicherweise sogar langfristig den eigenen Stempel aufdrücken können - etwas, das von 1993 bis heute keiner Regierung gelungen ist.