Einleitung
Die Europäische Union gehört zu den Wohlstandsinseln in einer sich globalisierenden Welt. Ihre Mitgliedsländer zählen sowohl im Hinblick auf ökonomische Maßzahlen wie das Bruttosozialprodukt als auch hinsichtlich sozialer Lebensbedingungen wie Gesundheitsbetreuung, Wohnen, Lebenserwartung und Zugang zu Bildung zu den privilegierten Orten dieser Welt. Dennoch ist die EU kein homogenes Gebilde, sondern von erheblichen Ungleichheiten zwischen ihren Mitgliedsländern und Regionen geprägt. Diese sind vor allem deshalb von Relevanz, weil die Integrationsanstrengungen der Europäischen Union nur dann gelingen können, wenn ein ausreichendes Maß an Kohärenz gegeben ist. So hat der damalige EU-Kommissar Michel Barnier den dritten Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt innerhalb der EU, veröffentlicht im Februar 2004, mit folgenden Worten angekündigt: "Die Unterschiede zu verringern, um das Wachstum zu beschleunigen. Wachstum und Kohäsion sind zwei Seiten der gleichen Medaille (...). Wir stehen an der Schwelle eines historischen Augenblicks, nämlich der Wiedervereinigung des Kontinents. Diese wird die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vergrößern. Das vordringlichste Ziel der nächsten Generation europäischer Programme wird die Unterstützung der ärmsten Regionen sein."
Die Rolle sozialer Ungleichheit für den Integrationsprozess ist von der Ungleichheitsforschung bis heute nicht hinreichend adressiert und thematisiert worden. Grund dafür ist die immer noch vorherrschende Fokussierung auf innerstaatliche Ungleichheiten. Die zentralen ungleichheitssoziologischen Konzepte wie Klasse, Schicht und soziale Lage ebenso wie etablierte Ungleichheitsmaße beziehen sich auf soziale Unterschiede innerhalb von Nationalstaaten. Wenn unterschiedliche Länder betrachtet werden, dann werden diese vergleichend nebeneinander gestellt, aber es wird selten gefragt, welche Wechselwirkungen es zwischen ihren Ungleichheitsstrukturen gibt. Allerdings hat die komparative Forschung erfolgreich dazu beigetragen, dass heute für die meisten Länder gute Vergleichsindikatoren zur Verfügung stehen. Auch auf der EU-Ebene gibt es inzwischen ein umfangreiches Berichtswesen. Soweit dort Ungleichheit thematisiert wird, kommen drei zentrale Perspektiven zum Tragen. Erstens wird ganz im Sinne der schon angesprochenen Forschung ein Vergleich der Mitgliedsländer hinsichtlich zentraler Ungleichheitsindikatoren wie Armutsquote oder Einkommensverteilung vorgenommen. Zweitens wird im Zuge der Diskussion um soziale Konvergenz das Wohlstandsgefälle zwischen den Mitgliedsstaaten thematisiert. Drittens hat sich der interregionale Vergleich als eigenständige Ungleichheitsperspektive etabliert, weil im Zuge der Europäisierung die Regionen aufgewertet wurden. Sie kommen als politische, aber auch sozioökonomische Handlungseinheiten stärker zum Zuge und sind unter dem Stichwort der "territorialen Disparitäten" in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Nachfolgend soll anhand dieser Perspektiven eine kurze Bestandsaufnahme der Ungleichheiten in der Europäischen Union erfolgen. Neben der reinen Deskription dieser Ungleichheiten soll auch diskutiert werden, inwieweit der Europäisierungsprozess selbst - verstärkend oder abmildernd - auf diese Ungleichheiten wirkt. Die Europäische Einigung ist schon so weit fortgeschritten, dass es notwendig erscheint, stärker auf Faktoren der Ungleichheitskonstitution Bezug zu nehmen, die aus dem Zusammengehen der europäischen Mitgliedsländer erwachsen. In einem letzten Teil wird diskutiert, warum die Ungleichheitsforschung hinsichtlich der Europäisierung deutliche Innovationsdefizite hat und in welche Richtung konzeptionelle Neuorientierungen notwendig sind.
Europas soziale Dimension im Ländervergleich
Wenn man sich die Thematisierung von Ungleichheit im Europäischen Raum ansieht, dann fällt auf, dass sich im letzten Jahrzehnt eine ganze Forschungslandschaft indikatorenbasierter vergleichender EU-Forschung etabliert hat. Als exemplarisch können Publikationen wie The Social Situation in the European Union
Dennoch stellt diese Perspektive einen wichtigen Pfeiler der komparativen Untersuchung sozialer Ungleichheit in Europa dar, denn sie ermöglicht einen ersten Aufschluss über das Ausmaß sozialer Ungleichheit in den Mitgliedsländern. Folgt man dieser Betrachtungsweise, so zeigt die folgende Tabelle (s. PDF-Version), dass es eine große Varianz der Einkommensungleichheit in den Mitgliedsländern gibt.
Das Verhältnis der Gesamteinkommen der oberen 20 Prozent der Einkommensbezieher zu den unteren 20 Prozent der Einkommensbezieher beträgt im EU-Durchschnitt 4.4. Deutliche Abweichler nach oben sind Länder wie Estland, Lettland, Portugal, Griechenland und Spanien. Dänemark, Deutschland, Österreich, Finnland, Schweden, Ungarn, Slowenien, die Slowakei und die Tschechische Republik rangieren unterhalb des Durchschnitts. Ein ähnliches Bild großer Differenzierung ergibt sich auch bei anderen wichtigen Strukturindikatoren wie Armutsgefährdungs- und Arbeitslosenquote. Länder wie Griechenland, Portugal, Spanien, Großbritannien und Irland weisen Armutsgefährdungsquoten von fast 20 Prozent und darüber auf. Hier sind einige der neuen Mitgliedsländer wie Ungarn, die Slowakei und Tschechien, obwohl auch sie mit massiven Arbeitslosigkeitsproblemen zu kämpfen haben, deutlich erfolgreicher.
Was die Integration von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt und die Probleme von Langzeitarbeitslosigkeit angeht, so zeigen sich große Disparitäten zwischen den Ländern. Die Arbeitslosenquote in den "alten" Mitgliedsländern schwankte 2002 zwischen 2 und 11 Prozent, in den neuen Beitrittsländern zwischen 5 Prozent in Zypern und fast 19 Prozent in der Slowakei. Ähnlich ungleich sind auch die Raten der Langzeitarbeitlosen mit einem sehr geringen Anteil von 1 Prozent oder darunter in Luxemburg, den Niederlanden, Österreich und Dänemark sowie deutlich höheren Raten in Griechenland, Italien, Lettland, Litauen und der Slowakei. Die Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit wird seitens der Europäischen Kommission nicht zuletzt wegen des Problems sozialer Ausgrenzung und der Kumulation von Problemlagen als politische Priorität angesehen.
Die vorgestellten Indikatoren sind aber nicht unabhängig voneinander: Häufig wird behauptet, dass ungleichheitsreduzierende Arrangements wie ein rigides Lohngefüge oder ein großzügiges wohlfahrtsstaatliches Leistungssystem dazu führten, dass weniger Arbeit nachgefragt wird. Im Gegenzug werden einkommensflexible und durch Lohnnebenkosten wenig belastete Arbeitsmärkte als Voraussetzung für eine größere Absorption von Arbeitskräften und damit geringere Arbeitslosigkeit angesehen. Um diese These zu plausibilisieren, werden vielfach die USA und die europäischen Länder einander gegenübergestellt. In deneuropäischen Ländern gehen vergleichsweise nivellierte Einkommensungleichheiten mit einer relativ hohen Arbeitslosigkeitsrate Hand in Hand, während die USA durch niedrige Arbeitslosigkeit bei großer Einkommensungleichheit charakterisiert sind. Bei einem zweiten Blick auf die Unterschiede innerhalb Europas zeigt sich aber, dass es einen negativen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Ungleichheit und der Höhe der Arbeitslosigkeit gibt. Es lässt sich empirisch belegen, dass seit den siebziger Jahren die nationalen Arbeitslosigkeitsraten in den Ländern mit den eher ungleichen Einkommensverteilungen am höchsten sind.
Mit der wachsenden Bedeutung des gemeinsamen europäischen Marktes sind diese Politiken nur noch begrenzt verfügbar, wodurch auch der Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Ungleichheit neu strukturiert wird. Zugleich bedeutet die gemeinsame Marktbildung aber auch, dass der Blick auf Ungleichheit und Arbeitslosigkeit um die europäische Dimension erweitert werden muss. Auch hier kann der USA-Vergleich instruktiv sein, auch wenn zwischen den europäischen Arbeitsmärkten keine so weitreichende Durchlässigkeit erreicht worden ist, dass sich von einem gemeinsamen Arbeitsmarkt sprechen ließe: Interessanterweise weist Europa in seiner Gesamtheit ein deutlich größeres Ausmaß an Einkommensungleichheit auf als die USA. Addiert man innerstaatliche und zwischenstaatliche Einkommensungleichheiten der Industrielöhne, dann liegt die europäische Ungleichheit um die Hälfte über dem amerikanischen Wert.
Das europäische Wohlstandsgefälle
Im Zuge von Transnationalisierung nimmt die Bedeutung grenzüberschreitender Prozesse markant zu, weil sich der Grad der Verflechtung und die Intensität der Interaktionen zwischen einzelnen Nationalstaaten erhöhen. Grenzüberschreitende Prozesse mit negativen Folgen (z.B. Wanderungswellen, Lohndruck) sind insbesondere dann zu erwarten, wenn zwischen den Ländern ein starkes Wohlstandgefälle existiert. Unter Wohlstandsgefällen kann man geographisch und sozial benachbarte Räume mit deutlichen Einkommensdifferenzen verstehen, die ein spezifisches (Ungleich)verhältnis zwischen diesen Einheiten konstituieren.
Der nach innen gerichtete erste Prozess der Konvergenz kann unter anderem auf die positiven gesamtwirtschaftlichen Effekte der Mitgliedschaft zurückgeführt werden.
Der zweite Prozess, die sukzessive Erweiterung der Europäischen Union, ging mit einer massiven Vergrößerung von Disparitäten einher. Die verschiedenen Erweiterungsrunden der EU seit 1957 haben jeweils nicht nur eine territoriale und flächenmäßige Ausdehnung des Staatenbundes mit sich gebracht, sondern in den meisten Fällen auch eine Verringerung des europäischen Bruttosozialproduktes pro Kopf. Bis auf wenige Ausnahmen wurde Europa durch die Aufnahme neuer Länder durchschnittlich ärmer, und es vergrößerte sich dasinnereuropäische Wohlstandsgefälle. Mit der Osterweiterung ergibt sich auch in der Einschätzung der europäischen Kommission eine bislang einmalige Verschärfung der wirtschaftlichen Disparitäten in der Union (vgl. Schaubild 1: PDF-Version). Gegenüber der 15-Mitglieder-Union hat sich der Abstand zwischen den zehn Prozent der Bevölkerung in den wohlhabendsten Regionen und den zehn Prozent in den ärmsten Regionen der EU mehr als verdoppelt (gemessen am Pro-Kopf-BIP). Zudem verlagert sich das Schwergewicht der Disparitäten in Richtung einer Ost-West-Kluft: Sechs von zehn Einwohnern der Europäischen Union, die in Regionen mit einem Pro-Kopf-BIP von weniger als 75 Prozent des Gemeinschaftsdurchschnitts leben, wohnen in den Beitrittsländern.
Hinsichtlich des sozioökonomischen Niveaus lassen sich drei Gruppen unterscheiden, wobei nur in der mittleren Gruppe neue Beitrittsländer und bisherige Mitglieder zu finden sind. In der stärksten und der schwächsten Gruppe befinden sich ausschließlich bisherige bzw. in der letzten Erweiterungsrunde neu aufgenommene Mitglieder (vgl. Schaubild 1: PDF-Version). Nach jüngsten Schätzungen für das Jahr 2003 lag Lettland bei circa 35 Prozent des EU-Durchschnitts, Länder wie Polen, Estland und Litauen zwischen 46 und 48 Prozent. Die Beitrittskandidaten Rumänien und Bulgarien rangieren noch weiter darunter und erreichen nur 29 bis 30 Prozent des Durchschnitts der Europäischen Union. Höhere Werte haben Länder wie Malta, Zypern und Slowenien aufzuweisen, aber auch sie liegen deutlich unter dem Durchschnitt. Demgegenüber betrug das BIP pro Kopf in Luxemburg mehr als das Doppelte des Mittelwertes der EU-25. Irland wies immerhin Werte um 30 Prozent, Länder wie Dänemark, Österreich, die Niederlande und Großbritannien um die 20 Prozent über dem EU-Durchschnitt auf.
Diese massiven Unterschiede geben Anlass zu der Vermutung, dass die Frage der sozialen Ungleichheit einen zentralen Stellenwert auf der Agenda der EU erhalten wird. Große Wohlstandsgefälle stehen einer gleichmäßigen und auf Integration zielenden Entwicklung entgegen. Ökonomisch sind massive Ungleichgewichte nachteilig, weil sie Polarisierungen verstärken können und eine einheitliche Wirtschafts- und Finanzpolitik deutlich erschweren. Politisch bedeuten Ungleichheiten, dass es zu einer Verstärkung von divergenten Interessen kommen kann und damit die weitere Einigung erschwert wird. Als besonders brisant sind zwischenstaatliche Ungleichheiten dann einzuschätzen, wenn sie dazu führen, dass nationale Interessen "homogenisiert" werden, und wenn damit verhindert wird, dass sich auch langfristig Interessen formieren, die quer zur nationalen Dimension liegen. Auf der sozialen Ebene können Wohlstandsgefälle dazu führen, dass asymmetrische Wanderungsbewegungen entstehen, aber auch dazu, dass Steuer-, Transfer- und Tarifsysteme verstärktem Druck ausgesetzt werden.
Interregionale Ungleichheiten
Innerhalb Europas wirken aber nicht nur die Ungleichheiten zwischen den Mitgliedsstaaten alswichtige strukturierende Faktoren, es findet ebenso eine Aufladung sozialräumlicher Ungleichheiten statt. In historischer Perspektive war es eine der großen Leistungen der Nationalstaaten, dass sie nicht nur zwischen Klassen und sozialen Gruppen, sondern auch zwischen Regionen für sozialen Ausgleich sorgen konnten. So schreibt Martin Heidenreich: "Nationalstaaten haben (...) mit einigem Erfolg versucht, die Auskristallisierung regionaler Unterschiede zu regionalen Ungleichheiten zu verhindern, indem regionale Unterschiede zum einen erfolgreich verhindert wurden und indem sie zum anderen in nichtteritorial definierte soziale Ungleichheiten transformiert wurden."
Auf der regionalen Ebene zeigt sich eine große Polarisierung: Das Verhältnis zwischen der reichsten Region Europas Inner London und der ärmsten Region Lubelskie in Polen beträgt mehr als 10 zu 1 (gemessen am Kaufkraftstandard). Schaubild 2 (s. PDF-Version) zeigt zudem, dass es große Differenzen hinsichtlich des Bruttosozialproduktes pro Kopf innerhalb der Mitgliedsländer gibt. Nimmt man nun wiederum Europa als Ganzes in den Blick und bemüht erneut den Vergleich zu den USA, dann zeigt sich, dass die Einkommensdifferenzen zwischen den europäischen Regionen recht groß sind. Anfang der neunziger Jahre wiesen die zehn reichsten Regionen der EU ein Bruttosozialprodukt pro Kopf auf, das 1.6 mal größer war als der EU-Durchschnitt und 3.5 mal größer als das der zehn ärmsten EU-Regionen (bezüglich größerer sozialökonomischer Einheiten, NUTS 1-Niveau). In den USA betrug dieser Faktor 1.2 für den Vergleich mit dem US-Durchschnitt und 1.5 im Vergleich mit den 10 ärmsten Bundesstaaten.
Man muss in diesem Zusammenhang zwei unterschiedliche Momente regionaler Ungleichheit unterscheiden: Inwieweit spiegelt erstens die regionale Ungleichheit die sozioökonomischen Disparitäten zwischen den Mitgliedsländern und kann damit als Ausdruck der schon angesprochenen zwischenstaatlichen Ungleichheiten angesehen werden? Zweitens geht es um die Ungleichheiten, die innerhalb der Mitgliedsstaaten existieren und damit auch zur Gesamtungleichheit in Europa beitragen. Unter Zuhilfenahme des so genannten Theil-Indexes zur Messung sozialer Ungleichheit kann Juan Duro
Zieht man die regionale Ebene mit in Betracht, dann zeigt sich, dass der allgemeine Trend der Konvergenz der Mitgliedsländer auf der regionalen Ebene gebrochen oder zumindest geschwächt wird. So kann für die Periode von 1994 bis 2000 auf der subnationalen Ebene von vier unterschiedlichen Szenarien ausgegangen werden.
Bezüglich der Ursachen dieses Prozesses haben empirische Studien gezeigt, dass die räumliche Konzentration ökonomischer Aktivitäten innerhalb der Europäischen Union zu interregionalen Einkommensgefällen führt.
Größere regionale Disparitäten und die gleichzeitige Stärkung der Regionen als wichtige politische Handlungseinheiten können zu einer konfliktverschärfenden Politisierung unterschiedlicher Ansprüche und Bedürfnisse führen. Unter diesen Bedingungen sind regionale Interessenkoalitionen, innerhalb derer die besser gestellten Regionen die Verteidigung oder Verstärkung komparativer Vorteile und die weniger gut gestellten Regionen Kompensation oder besondere Förderung einfordern, nicht ausgeschlossen. Diese Art der regionalen Mobilisierung kann die Binnenverhältnisse der einzelnen Mitgliedsländer dergestalt verändern, dass sich wirklich ausgleichende und umverteilende Politiken nur schwerlich durchsetzen lassen: Insbesondere die begünstigten Regionen mögen im Sinne der von Wolfgang Streeck beschriebenen "Wettbewerbssolidarität"
Neue Ungleichheitsperspektiven
Die genannten Perspektiven bieten zwar erste Einblicke in die Bedeutung sozialer Ungleichheit im Kontext der Europäisierung, sind insgesamt aber noch unzureichend. Die Ungleichheitsforschung ist im Zuge der Europäisierung auf konzeptionelle Innovationen angewiesen, so zum Beispiel bei der Festsetzung geeigneter Referenz-, Vergleichs-, und Berechnungsmaßstäbe. Noch stellen Nationalstaaten die zentralen Zurechnungseinheiten sozialer Ungleichheit dar und sind Ungleichheitsmaße wie der Gini-Koeffizient
Daneben muss stärker in Betracht gezogen werden, welche Wechselwirkungen es zwischen nationaler Ungleichheit und dem Prozess der Europäisierung gibt. Dabei ist davon auszugehen, dass die Vorstellung von Nationalstaaten als integrierte und relativ abgeschlossene Einheiten immer weniger trägt. Die Bildung eines gemeinsamen Marktes, die große Durchlässigkeit nationalstaatlicher Grenzen sowie intensivierte Formen des sozialen, kulturellen und politischen Austausches zwischen den Mitgliedsländern Europas legen die Annahme nahe, dass hier massive Prozesse der Entstaatlichung stattgefunden haben. Zugleich wird durch supranationale Institutionenbildung und den Souveränitätstransfer von den Nationalstaaten hin zu Europa eine neue Ebene der Zurechnung und der Beeinflussung von sozialer Ungleichheit geschaffen. Sofern die Frage nach den Ursachen und den zentralen Mechanismen, die Ungleichheit produzieren oder reproduzieren, aufgeworfen wird, kann und sollte die europäische Dimension nicht mehr ausgeblendet werden.
Ein weiterer Aspekt, der stärkere Aufmerksamkeit einfordert, ist der Zusammenhang zwischen europäischer Ungleichheit und dem politischen Integrationsprozess. Hier können Folgewirkungen großer sozioökonomischer Ungleichheiten für die europäische Konsensfindung und Fragen politischer Unterstützung vermutet werden, denn unter Bedingungen großer Ungleichheit ist mit widerstrebenden Integrationsinteressen zu rechnen. Dabei kann es vor allem auf der regionalen Ebene zu neuartigen Interessenallianzen und damit verbundenen Konflikten kommen, welche die nationalstaatliche Logik durchbrechen, beispielsweise dann, wenn sich ökonomisch starke Regionen im Kampf um die Befestigung von Wettbewerbsvorteilen gemeinsamer Interessen stark machen, die sich gegen die Interessen schwacher Regionen richten.
Es ist zu erwarten, dass das Thema der sozialen Ungleichheit im europäischen Raum noch weiter an Gewicht gewinnt. Das ergibt sich nicht nur aus dem großen Ausmaß an Ungleichheit, sondern auch aus der wachsenden Interdependenz der Mitgliedsländer. Mit dieser ist verbunden, dass es wachsende Wechselwirkungen zwischen den Ungleichheitsverhältnissen der einzelnen Länder gibt und man in der Tendenz vom Entstehen eines gesamteuropäischen Ungleichheitsregimes sprechen kann.
Allerdings ist die langfristige Rolle der Europäischen Union hinsichtlich des Einwirkens auf dieUngleichheiten umstritten: Einerseits sind die Nationalstaaten nach wie vor die zentralen Zurechnungseinheiten sozialer Ungleichheiten. Andererseits legen die Übernahme politischer Funktionen der europäischen Ebene sowie die Zunahme innereuropäischer Verflechtung nahe, dass sich das Ungleichheitsthema nicht mehr nur nationalstaatlich bearbeiten lässt. Für den Prozess der Integration wird es von entscheidender Bedeutung sein, wie sich die Ungleichheitsverhältnisse langfristig entwickeln und welche Formen des sozialen Ausgleichs sich finden lassen, so dass Integration nicht nur politisch und ökonomisch, sondern auch auf der sozialen Ebene stattfindet.
Weiterführende Links
Externer Link: Europäische Kommission
Externer Link: Eurostat
Externer Link: Europäische Regionalpolitik
Externer Link: European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions
Externer Link: Dritter Kohäsionsbericht