Die Fragestellung
Stellen nationale Identitäten eine Barriere für das Zusammenwachsen Europas und die Unterstützung europäischer Ideale wie Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit oder Marktwirtschaft dar? Bilden also Nationalismus und nationale Identitäten ein besonders brisantes Konfliktpotenzial im sich erweiternden Europa aus? Diese Frage sei anhand der Analyse nationaler Orientierungen und Identitäten in den postkommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas behandelt.
In diesen Ländern war nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus ein Wiederaufleben nationalistischer Bestrebungen zu beobachten, das in dieser Stärke kaum jemand in Westeuropa erwartet hatte. Man denke etwa an die nationalen und ethnischen Konflikte im früheren Jugoslawien, an dienationalen Emanzipationsbewegungen in der Sowjetunion oder auch an die staatliche Separierung von Tschechien und der Slowakei. Nach dem Untergang des Staatssozialismus, der in der Zeit des bipolaren Ost-West-Konfliktes nationalistische Bestrebungen mit harter Hand zurückgedrängt hatte, konnten sich aufgrund der Liberalisierung der politischen Verhältnisse nationale Interessen offenbar wieder entfalten. Eingedämmte nationale und ethnische Konflikte brachen auf und entwickelten eine ungeahnte Eigendynamik. Natürlich benutzten nicht wenige politische Akteure den Nationalstaatsgedanken, um sich von der Herrschaft der Sowjetunion zu befreien und im Namen nationaler Ziele für den Anschluss an Europa einzutreten. In Estland etwa lautete die antisowjetische Parole nach 1989: Der Weg nach Europa ist der Weg der nationalen Befreiung. Der Nationalismus trug in dieser Zeit wie so häufig in seiner Geschichte also auch emanzipative Züge.
Gleichzeitig muss man natürlich auch sehen, dass Europa in vielen dieser Länder eine hoch akzeptierte Idee mit starker Ausstrahlungskraft darstellt. Sie steht für Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, aber natürlich auch für Wohlstand und materiellen Überfluss. Zu Zeiten der Sowjetunion war diese Idee eine Utopie - eine Vision, von deren Realisierung man sich weit entfernt wähnte und die daher am Sternenhimmel des osteuropäischen Werteuniversums hell zu glänzen vermochte. Während die Sowjetunion als Besatzungsmacht und als politisches Imperium in den kommunistischen Staaten vielfach verachtet war, besaß Westeuropa für viele Mittel- und Osteuropäer ein positives Image. 1989, als die kommunistischen Regime zusammenbrachen, träumten sie davon, bald so zu leben wie die Menschen in Westeuropa, in Freiheit und Wohlstand. "Rückkehr nach Europa" wurde in vielen Ländern der nach 1989 anstehende Transformationsprozess genannt, womit eben nicht nur die Verbesserung der ökonomischen Lage, sondern auch die Verwirklichung von nationaler Selbstbestimmung, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gemeint war.
Heute ist die Zugehörigkeit zur Europäischen Union (EU) für zahlreiche dieser osteuropäischen Länder Realität geworden. Damit hat Europa allerdings viel von seiner früheren Strahlkraft eingebüßt. Der diffuse Enthusiasmus, mit dem man 1989 in Richtung Europa blickte, ist heute in nicht wenigen der Staaten Ost- und Ostmitteleuropas durchmischt mit einer beachtlichen Skepsis gegenüber Europa. Die Relativierung des positiven Images, das Europa einst besaß, hat unter anderem damit zu tun, dass sich der erhoffte schnelle ökonomische Aufschwung in vielen Ländern Ost- und Ostmitteleuropas schwieriger als erwartet gestaltet, dass soziale Ungleichheiten zugenommen haben, sich die wirtschaftliche Lage seit 1989 für manche nicht verbessert, sondern verschlechtert hat und viele mit Sorge in die Zukunft blicken.
Wie die Referenden zum Beitritt zur EU in vielen Ländern Osteuropas gezeigt haben, scheint Europa seinen guten Ruf jedoch in einem gewissen Maße erhalten zu haben. Seine Erfolge werden gesehen, und große Teile der Bevölkerung unterstützen auch heute noch die Zugehörigkeit ihrer Länder zur EU.
Auf Basis der folgenden Analyse soll auf alle der hier gestellten Fragen eine empirisch begründete Antwort gegeben werden. Im Mittelpunkt werden die Fragen stehen, ob nationale Identitäten eine Barriere für die Öffnung gegenüber der EU darstellen und von welchen Faktoren europaskeptische Einstellungen abhängen, sofern sie sich überhaupt nachweisen lassen. Die empirische Grundlage für die Beantwortung dieser Fragen bildet eine im Herbst 2000 in der Hauptverantwortung des Autors in elf ost- und ostmitteleuropäischen Ländern durchgeführte vergleichende Bevölkerungsumfrage, in die auch Fragen zur nationalen und europäischen Identität aufgenommen wurden.
Nationale Identität als unabhängige Variable
Um die Identifikation mit der Nation und mit Europa messen zu können, soll auf eine in dem oben erwähnten Survey gestellte Frage zurückgegriffen werden. Sie lautete, ob sich die Befragten in den ostmittel- und osteuropäischen Ländern als Europäer verstehen, ob sie sich als Bulgaren, Polen, Russen, Deutsche wahrnehmen, also mit ihrer Nation identifizieren, oder ob sie sich in einer regionalen Tradition sehen. Die Befragten mussten zwischen den Antwortmöglichkeiten nicht alternativ auswählen, sondern hatten die Möglichkeit, auf alle drei Fragen getrennt zu antworten, so dass multiple Identitäten erfasst werden konnten. Wie die Antworten auf diese drei Fragen zeigen, wurde die Möglichkeit, jede Identität zu verneinen, ebenso selten gewählt wie die, sich nur über die Region oder nur über Europa oder über Europa und die Region gemeinsam zu identifizieren. Das heißt, die meisten Menschen besitzen so etwas wie eine nationale Identität, und gewöhnlich kombinieren sie diese mit regionalen oder europäischen oder sowohl mit regionalen als auch europäischen Bezügen. Deshalb sei im Folgenden nur aufdie vier Gruppen eingegangen, die quantitativ von Belang sind: auf die Gruppe derjenigen, die behaupten, nur eine nationale Identität zu haben, auf jene mit einer nationalen und regionalen Identität sowie mit einer nationalen und europäischen Identität und auf jene, die regionale, nationale und europäische Orientierungen miteinander kombinieren.
Ist es sinnvoll, diese vier Identitätstypen voneinander zu unterscheiden? Ist es für die Unterstützung der EU-Mitgliedschaft, für die Bejahung westlicher Werte wie Demokratie, Freiheit oder Marktwirtschaft und für die Ablehnung nichtdemokratischer Werte wie Diktatur oder Sozialismus von Bedeutung, welcher dieser Gruppen man angehört? Wie Tabelle 1 (s. PDF-Version) zeigt, besteht zwischen der Identifikation mit der Nation und der Akzeptanz der Idee der Demokratie kein signifikanter Zusammenhang. Verbinden sich nationale und regionale Identität miteinander, korreliert dieser Identitätstyp mit der Bejahung der Demokratieidee hingegen negativ (-.17). Umgekehrt schätzen diejenigen, die sich als Europäer verstehen und ihre europäische Identität mit ihrer nationalen oder mit ihrer nationalen und lokalen Identität kombinieren, die Idee der Demokratie überdurchschnittlich häufig positiv ein (+.07 bzw. +.10). Das Gegenteil trifft auf die Unterstützung der Idee des Sozialismus zu. In diesem Fall ist die Zustimmung unter Befragten mit europäischer und nationaler bzw. europäischer, nationaler und regionaler Identität geringer als im Durchschnitt (-.08 bzw. -.06) und unter Befragten mit nationaler und regionaler Identität höher (+.13). Dasselbe Korrelationsmuster finden wir, wenn wir nach dem Entwicklungsweg fragen (westlicher Weg), den das Land einschlagen sollte, nach der Akzeptanz der Marktwirtschaft, danach, ob man der Freiheit dem Wert Gleichheit vorzieht (Freiheit), oder danach, ob es am besten wäre, das Parlament abzuschaffen und stattdessen einen starken Führer zu haben (starker Führer), oder ob man zur kommunistischen Herrschaft zurückkehren sollte (Rückkehr zum Kommunismus). Jedes Mal bejahen die regionalen Nationalisten - das ist hier der interessante Identitätstyp - antidemokratische und antiwestliche Alternativen häufiger als der Durchschnitt, präferieren die national und/oder regional identifizierten Europäer westlich-demokratische Werte signifikant häufiger
Nationale Identität als abhängige Variable
Wie lässt sich nun - damit kommen wir zur zweiten der beiden aufgeworfenen Fragen - die unterschiedliche Einstellung zu europäischen Werten wie Demokratie oder Marktwirtschaft in den unterschiedlichen Identitätstypen erklären? Bei einer sozialstrukturellen Betrachtung (die hier nicht abgebildet werden kann) fällt auf, dass Personen mit einer regionalen und nationalen Orientierung unter allen Identitätstypen den niedrigsten Bildungsstand besitzen, dass unter diesen ältere Menschen deutlich überrepräsentiert sind und sie den geringsten Anteil an Hauptstädtern, aber den höchsten der in der Landwirtschaft Beschäftigten stellen. Umgekehrt ist bei denjenigen, die sich als Europäer und zugleich als Angehörige ihrer Nation wahrnehmen, das Bildungsniveau am höchsten, die Gruppe der Jüngeren überrepräsentiert, der Anteil derjenigen, die in der Hauptstadt des jeweiligen Landes wohnen, am höchsten und der Anteil der Landbevölkerung am niedrigsten.
Die Vertreter des regional-nationalen Identitätstyps schätzen darüber hinaus die ökonomische Situation des eigenen Haushalts deutlich schlechter ein als die Angehörigen aller anderen Identitätstypen, insbesondere des national-europäischen. Dasselbe trifft auch auf die Einschätzung der ökonomischen Situation des Landes zu. Ebenso meinen diejenigen, die sich regional und national identifizieren, überdurchschnittlich häufig, dass sie ungerecht behandelt werden und nicht den ihnen zustehenden Anteil am Nationaleinkommen erhalten. Und sie halten auch die Gesellschaft insgesamt für ungerechter als die anderen. Besonders deutlich werden die Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Identitätstypen, wenn man danach fragt, ob sich die wirtschaftliche Lage seit der Zeit vor 1989 verbessert oder verschlechtert hat. Insgesamt sehen alle Befragten bis auf die Vertreter des national-europäischen Identitätstyps mehr Verschlechterungen als Verbesserungen (vgl. Grafik 1: PDF-Version). Am negativsten aber ist die Einschätzung derjenigen, die sich in einer regional-nationalen Tradition verorten. Fragt man hingegen danach, wie man die Zukunft im Vergleich zur gegenwärtigen Situation bewertet, so sind die Hoffnungen gerade bei den regionalen Nationalisten am größten und bei denjenigen, die sich national und europäisch orientieren, am geringsten. Zwischen den aus dem Vergleich zur sozialistischen Zeit resultierenden Verlusterfahrungen und den Erwartungen an die wirtschaftliche Situation in der Zukunft besteht vor allem beim regional-nationalen Identitätstyp eine emotionale Spannung, die nur durch Veränderung der gegenwärtigen Verhältnisse abgebaut werden könnte.
Offenbar handelt es sich bei dem regional-nationalen Identitätstyp um eher niedrig gebildete, ältere, in der Peripherie lebende, teilweise bäuerlich geprägte Schichten, für die der Nationalismus ein Kompensationsinstrument für ihre unterprivilegierte und als ungerecht wahrgenommene Situation darstellt. Man könnte von einem "peripheren Nationalismus"
Trägt man die bisher aufgeführten Faktoren - die sozialstrukturellen Merkmale, die Einschätzung der Gerechtigkeit der Gesellschaft, die individuelle und allgemeine ökonomische Lagebeurteilung sowie die Bewertung des Funktionierens der Wirtschaft im Vergangenheits-Gegenwarts- und im Gegenwarts-Zukunfts-Vergleich - in eine Regressionsanalyse ein, in welcher der periphere Nationalismus die abhängige Variable ist, so erweist sich vor allem die Einschätzung der Veränderung der allgemeinen und der individuellen ökonomischen Situation als einflussreich (hier nicht abgebildet). Aber auch die Beurteilung der Gerechtigkeit der Gesellschaft und des Anteils, den man am Nationaleinkommen erhält, spielt hier eine Rolle. Das bedeutet zunächst, dass für die Ausbildung des peripheren Nationalismus vor allem die Veränderung der ökonomisch-materiellen Situation und die ökonomische Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft ausschlaggebend sind. Als noch bedeutsamer erweisen sich in der Regressionsanalyse aber die Differenzen zwischen den Ländern. Es scheinen also vor allem grundlegende Differenzen zwischen den Ländern zu sein, welche die Ausbildung der unterschiedlichen Identitätstypen bedingen.
Tabelle 2 (s. PDF-Version) bestätigt diese Vermutung. Sie zeigt die Verteilung der vier Identitätsgruppen im Ländervergleich. Die Verteilung ist äußerst heterogen: Bulgarien und Russland weisen einen außergewöhnlich hohen Prozentsatz an Personen auf, die sich selbst in einer nationalen und regionalen Tradition sehen. In Polen, Rumänien und der Slowakei ist die Gruppe mit einer dreifachen Identität überrepräsentiert. Tschechien, Ungarn und Slowenien zeigen eine Überrepräsentation der Gruppe, in der eine nationale und europäische Identität dominiert, und in Ostdeutschland und Albanien ist der Prozentsatz derer vergleichsweise hoch, die sich nur mit ihren nationalen Traditionen identifizieren. Estland steht stets irgendwo in der Mitte. Betrachtet man die enormen Länderdifferenzen inder Verteilung der Identitätstypen, wird ein Ebenenwechsel der Analyse von der mikrosoziologischen auf die makrosoziologische Ebene erforderlich. Die bisherige mikrosoziologische Untersuchung muss nunmehr durch makrosoziologische Überlegungen ergänzt werden.
Der periphere Nationalismus im Ländervergleich
Wenn wir die vorgetragenen Einzelresultate der mikrosoziologischen Analyse auf die Aggregatebene übertragen, lässt sich annehmen, dass die starke Identifikation mit der Region und der Nation, wie sie in Russland und Bulgarien anzutreffen ist, durch die schwierige ökonomische Lage in diesen Ländern befördert wird. Tatsächlich weisen diese beiden Länder ein ausgesprochen niedriges Modernisierungsniveau auf, wie etwa am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ablesbar ist.
Eine Erklärungshilfe könnte darin bestehen, zwischen der objektiven wirtschaftlichen Situation und ihrer Beurteilung durch die Bevölkerung zu unterscheiden. Betrachtet man etwa die Bewertung der wirtschaftlichen Veränderungen von der staatssozialistischen Epoche bis zur Gegenwart nach Ländern differenziert, so zeigt sich, dass zwar Russen, Bulgaren und Rumänen diese Veränderungen negativ einschätzen, Albaner aber positiv (vgl. Grafik 2: PDF-Version), obschon der Stand der wirtschaftlichen Entwicklung in Albanien deutlich unter dem Niveau der anderen Länder liegt. Ausschlaggebend für den Einfluss der wirtschaftlichen Lage auf die Ausbildung regional-nationalistischer Einstellungen ist also nicht die ökonomische Lage als solche, sondern ihre subjektive Bewertung. Diese wird nachdrücklich vom jeweiligen Anspruchsniveau beeinflusst.
Ein weiterer Erklärungsfaktor für die überdurchschnittliche Ausbildung regional-nationalistischer Identitäten könnte darin gesehen werden, ob in einem Land ethnische Konfliktfelder gegeben sind oder nicht. Prinzipiell lassen sich zwei Formen ethnischer Konflikte
Als ein weiterer dieser Faktoren könnte der Umgang mit nationalen Gefühlen und Interessen in der Zeit des Staatssozialismus identifiziert werden. In der Sowjetunion, in der die Autonomie der in das Imperium eingeschlossenen Nationen weitgehend missachtet, nationale Besonderheiten allenfalls als folkloristische Spezialitäten behandelt und der homo sovieticus propagiert wurde, trug die jahrzehntelange Unterdrückung nationaler Identitäten nach dem Zusammenbruch des imperialistischen Zentrums nicht unerheblich zur Wiederentdeckung des Nationalen bei. In Rumänien hingegen wurde der Nationalismus von Nicolae Ceausescu seit den sechziger Jahren für die Legitimation seines Regimes und die Durchsetzung seiner politischen Ziele instrumentalisiert und dadurch gründlich entwertet.
Schließlich sei als ein letzter Einflussfaktor auf die soziale Relevanz von Großmachtideen für die Ausbildung nationalistischer Einstellungen hingewiesen. Für Russland ist der Zusammenhang offensichtlich, denn noch vor wenigen Jahren war die Sowjetunion eine Supermacht mit einem Einflusspotenzial, das sich fast auf die halbe Welt erstreckte. Es mag sein, dass es deshalb der Bevölkerung dort schwerer fällt als den Menschen in anderen Ländern, mit ihrer unterprivilegierten und ökonomisch schwachen Lage fertig zu werden, und dass die antieuropäischen und nationalistischen Einstellungen in Russland zu einem großen Teil auf das höhere Anspruchsniveau in der Bevölkerung zurückzuführen sind und eine direkte Reaktion auf die Vorherrschaft des westlichen Gesellschaftsmodells in der gegenwärtigen, sich globalisierenden Gesellschaft darstellen. Auch für Bulgarien lassen sich Großmachtideen nachweisen, denn als 1878 der Präliminarfrieden von San Stefano geschlossen wurde, sprach dieser Vertrag Bulgarien einen Territorialbestand vom Schwarzen Meer bis fast an die Adria und von der Donau bis an die Ägäis zu. Zwar wurde der Vertrag schon im Jahr seines Abschlusses auf dem Berliner Kongress revidiert, es ist jedoch kein Zufall, dass 1990 der 3. März, der Tag, an dem der Vertrag von San Stefano abgeschlossen wurde, zum neuen Nationalfeiertag erklärt wurde. Dies zeigt, wie lebendig auch im heutigen Bulgarien, das sich gern die Rolle des Vermittlers zwischen europäischer Kultur und Islam zuschreibt, Großmachtideen noch sind. Allerdings stoßen wir auch hier wieder auf bezeichnende Ausnahmen. In Ungarn zum Beispiel ist die Erinnerung an den im Friedensvertrag von Trianon nach dem Ersten Weltkrieg festgelegten Gebietsverlust von mehr als 60 Prozent ebenfalls noch wach,
Schlussbemerkungen
Zusammenfassend können wir festhalten, dass die überproportionale Ausprägung des regional-nationalen Identitätstyps durch das Zusammentreffen unterschiedlicher Faktoren begünstigt wird: durch wirtschaftliche Rückständigkeit, durch das Gefühl relativer Deprivation, durch national-ethnische Konfliktpotenziale, durch das in unterschiedliche Richtungen weiterwirkende Erbe des Sozialismus sowie durch Großmachtideen. Keiner dieser Einflussfaktoren allein reicht aus, um das europaskeptische Einstellungssyndrom des peripheren Nationalismus hervorzubringen. In unterschiedlicher Kombination können die benannten Faktoren jedoch zu seiner Entstehung beitragen.
Nationalismus, so können wir abschließend formulieren, ist ein ambivalentes, janusköpfiges, amorphes soziales Phänomen. Er kann sich mit Ideen der Demokratie und Marktwirtschaft verbünden, er kann aber auch antidemokratisch ausgerichtet sein. Von den unterschiedlichsten politischen Akteuren lässt er sich ideologisch benutzen und instrumentalisieren: von den ehemals kommunistischen Parteien wie in Rumänien oder Bulgarien ebenso wie von antikommunistischen Kräften wie in Polen oder Ungarn. Jedes Mal dient der Nationalismus den politischen Akteuren dazu, sich im politischen Wettstreit sozial zu behaupten und große Bevölkerungsteile auf die eigene Seite zu ziehen. Er ist nicht einfach da als eine tradierte kulturelle Substanz, sondern wird von politischen Akteuren konstruiert und eingesetzt zur Durchsetzung politischer, ökonomischer und sozialer Interessen. Zu einer solchen Instrumentalisierung eignet er sich, da sich im Gewand des Nationalismus unterschiedlichste Probleme auf einen Nenner bringen, Verantwortlichkeiten sozial zurechnen und Hoffnungen bündeln lassen. Wenn die westeuropäischen Staaten den Prozess der Integration Europas vorantreiben wollen, sind sie gut beraten, mit regionalen Differenzen ökonomischer und sozialer Natur, insbesondere mit Differenzen zwischen Peripherie und Zentrum, an denen sich nationalistische Einstellungen häufig festmachen, zu rechnen und mit ihnen sensibel umzugehen. Der periphere Nationalismus stellt sich nach den hier vorgestellten Analysen als ein von unterprivilegierten und peripheren Schichten benutztes Instrument zur Einklagung von Ansprüchen auf Zugehörigkeit und Gleichstellung dar, mit dem diese Schichten auf legitime Art und Weise die Verbesserung ihrer sozialen und ökonomischen Lage anmahnen können. Der Nationalismus stellt für sich genommen noch keine Gefahr für Europa dar, aber er kann zu einer solchen werden, wenn sich über ihn Gefühle der Schlechterstellung und Benachteiligung artikulieren und Anspruch auf Gehör verschaffen wollen. Eine solche nationalistische Anspruchshaltung lässt sich mehrheitlich gegenwärtig nur in wenigen Ländern Ostmittel- und Osteuropas nachweisen. In den meisten Ländern dieser Region bildet die nationale Identität der Bevölkerungen bei der Mehrheit keine Barriere für die Durchsetzung europäischer Ideale und Zielstellungen, sondern ein Medium, in welchem sich diese realisieren können.