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Europäische Werte - Passt die Türkei kulturell zur EU?

Jürgen Gerhards

/ 19 Minuten zu lesen

Die von der EU als wichtig erachteten Werte werden von den Bürgerinnen und Bürgern der alten und neuen Mitgliedsländer akzeptiert. Sie erhalten eine geringere Unterstützung von den Menschen der beiden Länder der nächsten Beitrittsrunde.

Einleitung*

Seit 1963 hat die Türkei den Status eines assoziierten Mitglieds der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), und seither klopft das Land an die Tür der Europäischen Union (EU) und bittet um Mitgliedschaft. Der Europäische Rat wird im Dezember 2004 auf der Grundlage einer Prüfung und Empfehlung der Kommission entscheiden, ob die Gemeinschaft mit der Türkei in die Beitrittsverhandlungen einsteigen wird oder nicht. Im Zentrum der politischen Debatte über eine EU-Mitgliedschaft der Türkei stehen dabei nicht so sehr die ökonomischen Unterschiede zwischen der EU und der Türkei, sondern mögliche kulturelle Differenzen. Kritiker eines Beitritts der Türkei machen geltend, dass sich die jetzigen Mitglieder der EU und die Türkei auf Grund einer ganz anderen Geschichte, unterschiedlicher geisteshistorischer Traditionen, vor allem aber auf Grund einer anderen Religionsorientierung fundamental voneinander unterscheiden, und die Türkei insofern keine hinreichenden kulturellen Gemeinsamkeiten mit den derzeitigen EU-Mitgliedsländern aufweist. Einige der Befürworter eines Beitritts der Türkei bezweifeln, dass die kulturellen Unterschiede zwischen der Türkei und Europa fundamentaler Natur sind; andere versprechen sich von der Mitgliedschaft der Türkei in der EU eine forcierte Anpassung der Türkei an die so genannten westlichen Werte; wiederum andere betonen die Bereicherung, die mit einer kulturellen Heterogenität verbunden sein kann.

Eine Antwort auf die Frage, ob die Türkei kulturell zur EU passt oder nicht, setzt einerseits die Definition und Begründung eines Bezugspunktes voraus, der gleichsam die Richtschnur abgibt, an der gemessen man darüber entscheiden kann, ob die Türkei zur EU passt oder nicht. Sie bedarf andererseits einer empirischen Bestimmung des kulturellen Ist-Zustandes der Türkei und der Mitgliedsländer der EU. Durch Kontrastierung der beiden Kulturen lassen sich Aussagen darüber formulieren, in welchem Maße die Türkei kulturell zur Europäischen Union passt oder nicht.

*Anmerkung der Redaktion: Zum Thema s. auch Aus Politik und Zeitgeschichte, B 33–34/2004.

Der normative Bezugspunkt: Die EU als Wertegemeinschaft

Bei dem Versuch, die kulturelle Identität Europas zu bestimmen und daraus Passungskriterien für Beitrittsländer abzuleiten, lassen sich zwei Grundpositionen unterscheiden, die sich beide wiederum von einer dritten, hier zu Grunde gelegten Sichtweise abheben.

Erstens: Als historische Substantialisten kann man diejenigen Autorinnen und Autoren bezeichnen, die inhaltliche Merkmale der kulturellen Besonderheit Europas meist mit Bezug auf die Geschichte definieren und daraus Mitgliedschaftskriterien ableiten. Manche Beobachter sehen die kulturelle Besonderheit in den besonderen geisteshistorischen Wurzeln Europas begründet, die von der jüdisch-griechisch-römischen Antike über die Renaissance, die Aufklärung bis hin zum modernen Wissenschaftsverständnis reichen. Gesellschaften, die nicht in dieser geisteshistorischen Traditionslinie stehen, wie beispielsweise die Türkei, passten folglich nicht zu Europa. Andere definieren die kulturelle Identität Europas durch Rekurs auf das Christentum. "Die europäische Identität bezieht (...) ihren spezifischen Charakter direkt und indirekt aus jener Religion, durch die Europa als kulturelle Einheit geformt wurde, nämlich das Christentum." Auch für Samuel Huntington ist Religion die zentrale Größe zur Abgrenzung der verschiedenen Kulturräume und dient ihm zur Definition der Grenzen Europas. Ähnlich argumentieren die beiden Historiker Hans-Ulrich Wehler und Heinrich August Winkler, die sich, wenn auch mit unterschiedlicher Verve, sehr deutlich gegen eine Aufnahme der Türkei in die EU ausgesprochen haben: "Nach geographischer Lage, historischer Vergangenheit, Religion, Kultur, Mentalität ist die Türkei kein Teil Europas." Beide Autoren betonen vor allem, dass die Türkei moslemisch und die EU christlich sei und dies nicht zusammenpasse.

Die von den zitierten Autoren favorisierte Bestimmung der kulturellen Identität Europas hat eine empirische und eine normative Dimension. Keine Frage: Die jetzigen Mitgliedsländer stehen in einer christlichen Traditionslinie. Ob man daraus aber ableiten kann, dass Länder, die in der Traditionslinie einer anderen Weltreligion stehen, nicht Mitglied der EU werden können, ist eine normative Setzung. Die Nichtvereinbarkeit von zwei Weltreligionen ist eine Festlegung der zitierten Autoren, die sich wissenschaftlich nicht gut legitimieren lässt. Die Tatsache, dass z. B die Türkei kein christliches Land ist, ist an sich noch kein Grund, diese nicht in die EU aufzunehmen; denn die Religionsfreiheit der Bürger wird ja gerade von der EU garantiert, und dazu gehört eben auch die Freiheit, Moslem zu sein.

Zweitens: Als Konstruktivisten kann man diejenigen Autorinnen und Autoren bezeichnen, die zeigen (wollen), dass die von Substantialisten ins Feld geführten Kriterien nicht haltbar sind und dass alle Merkmale, die man zur inhaltlichen Bestimmung der Kultur Europas einführt, historisch konstruierte sind. Aus dieser Argumentation wird abgeleitet, dass die Identität Europas und damit die Kriterien für die Mitgliedschaft in der EU kontingent und folglich voluntaristisch formulierbar sind. Exemplarisch kann man diese Position an der Argumentation von Wolfgang Burgdorf erläutern. Burgdorf zeigt, dass die territorialen Grenzen Europas historisch recht flexibel waren, man entsprechend aus der Geschichte kein Argument für eine territoriale Grenze Europas ableiten kann. Er zeigt weiterhin, dass die Bezugnahme auf die Antike keine plausible Begründungsfolie offeriert, weil sich die Ausbreitung antiker Ideen auf den Mittelmeerraum erstreckte, damit einerseits Teile der heutigen Türkei einschloss, andererseits weite Teile des heutigen Territoriums der Mitgliedsländer der EU ausschloss. Schließlich betont er, dass auch das Christentum nicht als Bezugspunkt für ein Identitätskonzept herhalten kann, nicht nur weil der Apostel Paulus im heutigen Gebiet der Türkei aufwuchs und das Christentum aus dem Vorderen Orient und nicht aus Europa stammt, sondern weil dem Christentum ebenso viele antiaufklärerische Züge eigen sind wie dem Islam. Burgdorf und andere ähnlich argumentierende Autoren ziehen folgende Schlussfolgerung: Eine substantielle Bestimmung der Kultur Europas ist nicht möglich, und folglich ist es ein voluntaristischer Akt, die Grenzen Europas festzulegen.

Drittens: Die hier vertretene Position kann man als empirischen Substantialismus oder als verfassungspositivistisch bezeichnen. Diese Sichtweise grenzt sich gegenüber konstruktivistischen Positionen insofern ab, als sie davon ausgeht, dass es durchaus substantiell bestimmbare Werte gibt, die für die europäische Union konstitutiv sind. Sie unterscheidet sich vom historischen Substantialismus insofern, als sie die Bestimmung der Werte nicht selbst übernimmt, sondern die normative Frage in eine empirische verwandelt und fragt, welche Werte die Gemeinschaft der EU-Mitgliedsländer für sich selbst als bedeutsam erachtet. Im Artikel 2 Absatz2 des vom Konvent ausgearbeiteten Verfassungsentwurfs heißt es: "Die Union steht allen europäischen Staaten offen, die ihre Werte achten und sich verpflichten, ihnen gemeinsame Geltung zu verschaffen." Die europäische Union definiert sich nicht durch eine gemeinsame Religion, Ethnie, Sprache oder auch territorial festgelegte Grenze; im Hinblick auf all diese Elemente ist die Union unterbestimmt bzw. versteht sich als eine pluralistische Gemeinschaft. Die Bezugnahme auf das europäische Recht und vor allem auf die Vertragstexte zur Bestimmung der Werte der EU ist in zweifacher Hinsicht ein gut begründbarer normativer Bezugspunkt. Zum einen handelt es sich bei dem europäischen Recht nicht um unverbindliche Sonntagsreden von Politikern, sondern um rechtsverbindliche Verträge, die qua Rechtsstatus Geltung beanspruchen dürfen. Zum anderen ist zumindest das Primärrecht, bestehend aus den Verträgen, ein von den Regierungen der Mitgliedsländer ausgehandeltes und unterzeichnetes Recht, das einen hohen demokratischen Legitimitätsanspruch erheben kann. Die Regierungen werden von den Bürgern gewählt, die im Recht verkörperte Werteordnung der EU ist insofern demokratisch legitimiert.

Wir haben die für die EU konstitutiven Werte aus dem Primär- und Sekundärrecht, vor allem aus dem Verfassungsentwurf, rekonstruiert, dabei verschiedene Wertsphären - Religion, Ökonomie, Politik, Familie und Geschlechtsrollen etc. - unterschieden und jeweils inhaltlich bestimmt, welche Vorstellungen die EU im Hinblick auf diese Wertsphären entwickelt hat. Das im Recht zum Ausdruck kommende kulturelle Selbstverständnis der EU dient also als Bezugspunkt zur Beantwortung der Frage, ob und in welchem Maße Beitrittskandidaten zur EU passen oder nicht. Es gilt zu prüfen, ob die Werte der EU von den Bürgerinnen und Bürgern unterstützt werden und ob es zwischen den EU-Ländern und den Betritts- bzw. Bewerberländern signifikante Unterschiede gibt. Empirische Grundlage der Analyse bilden Sekundäranalysen von repräsentativen Bevölkerungsbefragungen, die in den Mitglieds- und Beitrittsländern und der Türkei durchgeführt und in denen die Bürger nach Werteeinstellungen gefragt wurden. Wir prüfen für jeden der Wertebereiche, inwieweit die Werte der EU (Soll-Vorstellungen) von den Bürgern in den west- und mittel-osteuropäischen Ländern und der Türkei akzeptiert werden (Ist-Zustand).

Auch zu der Bestimmung des "Ist-Zustands" finden sich in der Diskussion Alternativen zu der hier vorgeschlagenen Vorgehensweise, die uns aber weniger plausibel erscheinen. Die beiden Historiker Hans-Ulrich Wehler und Heinrich August Winkler bestimmen z.B. den faktischen Unterschied zwischen der Türkei und der EU vor allem durch Rekurs auf eine unterschiedliche und konflikthafte Geschichte. Eine unterschiedliche Geschichte und die Tatsache, dass das muslimische Osmanenreich Kriege gegen das christliche Europa geführt und vor den Toren Westeuropas gestanden hat, spricht aber nicht gegen eine Aufnahme der Türkei in die EU. Die Tatsache, dass Deutschland im letzten Jahrhundert Europa und die halbe Welt zweimal mit einem Krieg überzog, hat auch nicht dazu geführt, dass Deutschland nicht Teil des politischen Europas geworden ist. Ganz im Gegenteil: Gerade um einen deutschen Sonderweg auch in der Zukunft zu verhindern, wurde die Bundesrepublik in das westliche Bündnis integriert. Das Argument historischer Feindschaft sticht nur dann, wenn die unterschiedlichen historischen Erfahrungen auch noch in der Gegenwart wirkungsmächtig sind und die kulturellen Orientierungen eines Landes und seiner Bürger weiterhin anleiten. Wenn man die Kultur eines Landes durch die Werteorientierungen seiner Bürgerinnen und Bürger zum gegenwärtigen Zeitpunkt operationalisiert, dann ist damit sichergestellt, dass es sich um eine gegenwärtige und nicht um eine historische Messung von Kultur handelt.

Empirische Befunde: Die Werteorientierung der Bürger

Die wichtigste Datengrundlage für die Bestimmung der Werteorientierung der Bürger bildet der "European Value Survey" von 1999/2000. Die nationalen Stichproben sind mit mindestens 1 000 Befragten für die jeweilige Gesellschaft repräsentativ. Es wurden Personen ab dem 18. Lebensjahr mündlich befragt. Da die Europäische Union den Ländern Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern die Mitgliedschaft bereits gewährt hat und den beiden Ländern Bulgarien und Rumänien in einer zweiten Runde gewähren wird, wäre es nicht plausibel, die kulturelle Nähe der Türkei zur Europäischen Union allein auf die jetzigen westeuropäischen Länder zu beziehen. Wir unterscheiden in unseren Analysen entsprechend folgende Gruppen: "Alte" Mitgliedsländer der EU (15), neue Mitgliedsländer, die seit dem 1. Mai 2004 Mitglieder der EU sind, zukünftige Mitgliedsländer (Bulgarien und Rumänien) und die Türkei; wir analysieren die kulturellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen diesen Gruppen bezüglich unterschiedlicher Wertsphären.

Religion

Die EU versteht sich als eine Wertegemeinschaft, die selbst keine spezifische religiöse Orientierung präferiert und entsprechend religiös ungebunden ist. An keiner Stelle des Primär- und des Sekundärrechts finden sich Aussagen, welche die EU an eine konkrete Religion binden oder auf diese verpflichten. Obwohl alle Mitgliedsländer der EU in einer christlichen Traditionslinie stehen, fehlt der Verweis auf das Christentum oder auf Gott in dem Verfassungsentwurf. Die Union achtet die Vielfalt der Religionen (Artikel II-22 von Teil II des Verfassungsentwurfs); sie verbietet Diskriminierungen auf Grund von Religion (Artikel II-21). Die Union versteht sich als säkulare Wertegemeinschaft, die sich für eine Trennung der Sphären von Religion und Gesellschaft ausspricht. Sie weist der Religion ihren ausdifferenzierten Platz in der Gesellschaft zu und schützt diesen; sie erwartet zugleich von den Religionsgemeinschaften und den Bürgern wechselseitige religiöse Toleranz. Die Tatsache, dass die Bürgerinnen und Bürger der Türkei in erster Linie Muslime und jene der Mitglieds- und vieler Beitrittsländer hingegen in erster Linie Christen sind, ist also mit den normativen Grundlagen der EU gut vereinbar. Die EU betont ja gerade die Religionsfreiheit und befürwortet einen religiösen Pluralismus.

In welchem Maße wird aber die Vorstellung der Trennung der Sphären und der Wert der religiösen Toleranz von den Bürgern in den verschiedenen Ländern unterstützt? Tabelle 1 (s. PDF-Version) gibt darauf eine Antwort:

Während für die Bürgerinnen und Bürger der alten und neuen EU-Länder die Religion für die eigene Lebensführung keine sehr hohe Wichtigkeit hat, steigt deren Bedeutung für jene der zweiten Beitrittsrunde (und hier vor allem für die Rumänen) und ist besonders bedeutsam für die Türken. Die Trennung von Religion und Lebensführung ist in diesen Fällen nicht sehr weit gediehen. Ähnlich sind die Ergebnisse im Hinblick auf die Idee der Trennung zwischen Religion und Politik. Während diese Trennung in den jetzigen Mitgliedsländern der EU eine von den Bürgerinnen und Bürgern deutlich akzeptierte Vorstellung ist, findet sie weniger Zustimmung in den Ländern der zweiten Beitrittsrunde, wird aber am deutlichsten und mehrheitlich von den Menschen in der Türkei abgelehnt. Diese sind mehrheitlich der Auffassung, dass politisches Handeln religiös angeleitet sein soll. Insofern erweist sich die Türkei in dieser Dimension als das am wenigsten mit den Werten der EU übereinstimmende Land.

Die Europäische Wertestudie enthält leider nur eine einzige Frage, die zur Operationalisierung der Dimension "Toleranz" gegenüber anderen Religionsgemeinschaften herangezogen werden kann, und auch dies nur mit Einschränkungen. In fast allen Ländern wurde gefragt, ob man etwas dagegen hätte, wenn ein Moslem in der Nachbarschaft lebe. Leider ist eine sinngemäße Frage (Christen in der Nachbarschaft) in der Türkei nicht gestellt worden. Allerdings wurde in allen Ländern gefragt, ob man etwas dagegen hätte, wenn ein Jude in der Nachbarschaft leben würde. 8,3 Prozent in den alten EU-Ländern, 14,5 Prozent in den zehn neuen EU-Ländern, 20,2 Prozent in den beiden zukünftigen EU-Ländern sowie 61,9 Prozent der Türken sagen, dass sie etwas dagegen hätten, Juden als Nachbarn zu haben. Nun ist dieser Befund mit Vorsicht zu interpretieren, da der hier benutzte Indikator eine mehrdeutige Messung von Religionstoleranz darstellen kann. Man kann vermuten, dass die Frage nach der Toleranz gegenüber Juden auch und gerade in moslemischen Ländern antiisraelische Einstellungen misst, die sich aus der Politik Israels gegenüber den Palästinensern speisen. Andererseits spricht folgende empirische Analyse für die These, dass die Religionstoleranz in der Türkei nicht sonderlich ausgeprägt ist. In den "World Value Surveys" von 1990 und 1995/97 wurde die Frage gestellt, ob man etwas dagegen hätte, wenn ein Moslem in der Nachbarschaft leben würde; in der Türkei wurde gefragt, ob man etwas dagegen hätte, wenn ein Christ in der Nachbarschaft leben würde. In beiden Umfragen zeigt sich, dass die religiöse Toleranz in der Türkei von allen hier analysierten Länder am geringsten ist: 1990 waren es 54,7 Prozent der Befragten, 1995/97 49,1Prozent der Befragten, die keine Christen in ihrer Nachbarschaft wünschten.

Repräsentative Demokratie und Zivilgesellschaft

Die Europäische Union versteht sich als ein Verband demokratischer Staaten und bezeichnet ihre eigene Institutionenordnung als eine demokratische Ordnung. Die zentrale Bedeutung von Demokratie für die Union kommt deutlich im Verfassungsentwurf zum Ausdruck. Der Präambel der gesamten Verfassung ist ein Zitat von Thukydides vorangestellt: "Die Verfassung, die wir haben (...) heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist." In Titel VI des Verfassungsentwurfs, überschrieben mit "Das demokratische Leben der Union" heißt es in Artikel 45 "Grundsatz der repräsentativen Demokratie": "(1) Die Arbeitsweise der Union beruht auf dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie. (2) Die Bürgerinnen und Bürger sind auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten. Die Mitgliedstaaten werden im Europäischen Rat und im Ministerrat von ihren jeweiligen Regierungen vertreten, die ihrerseits den von den Bürgerinnen und Bürgern gewählten nationalen Parlamenten Rechenschaft ablegen müssen."

Dass die Institutionenordnung der Türkei den demokratischen Grundprinzipien nur partiell genügt, wird von den Skeptikern eines EU-Beitritts der Türkei immer wieder als Argument formuliert, die Türkei nicht in die Union aufzunehmen. Nun besteht kein Zweifel, dass die Türkei in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen hat, demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien zu institutionalisieren: Die Minderheitenrechte wurden gestärkt, die Todesstrafe abgeschafft. Wie verhält es sich aber mit den demokratischen Einstellungen ihrer Bürgerinnen und Bürger? Ein Blick auf die Umfrageergebnisse kommt zu ambivalenten Befunden: Einerseits gilt, dass alle in den hier unterschiedenen vier Ländergruppen mehrheitlich die Demokratie als die beste Staatsform ansehen. Auf die Frage, ob sie die Demokratie im Vergleich zu anderen Staatsformen als die beste aller Regierungsformen betrachten, stimmen 93,5 Prozent der Bürger der alten Mitgliedsländer, 89,3 Prozent der Bürger der neuen Mitgliedsländer, 81,2 Prozent der Bürger der beiden Beitrittskandidaten Bulgarien und Rumänien und 87,9 Prozent der türkischen Bürger zu. Andererseits zeigen sich aber deutliche Unterschiede zwischen den Ländergruppen, wenn es um die Akzeptanz konkreter Merkmale einer repräsentativen Demokratie geht. Demokratie lebt u.a. von der Kontrolle der gewählten Vertreter durch das Parlament und die Bürger. Die Akzeptanz einer starken Führung, die unabhängig ist von Parlament und Wahlen, ist in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich ausgeprägt (vgl. Tabelle 2: PDF-Version).

Während der Anteil der Bürgerinnen und Bürger, die eine starke Führerschaft präferieren, in den alten und neuen Mitgliedsländer der EU bei ca. einem Viertel der Befragten liegt, beträgt dieser Anteil in den Ländern der zweiten Beitrittsrunde (Bulgarien und Rumänien) mehr als 50 Prozent und in der Türkei zwei Drittel der Befragten. Trotz einer generalisierten Zustimmung zur Demokratie als der besten Staatsform ist der Anteil derer, die sich für eine autoritäre Führung aussprechen, in der Türkei deutlich höher als in allen anderen Mitglieds- und Beitrittsländern.

Demokratien sind im Unterschied zu autoritären Regierungsformen keine von oben oktroyierte Staatsformen, sie müssen von den Bürgerinnen und Bürgern nicht nur akzeptiert, sondern von ihnen gelebt werden. Sie bedürfen eines zivilgesellschaftlichen Unterbaus, der aus der Mitgliedschaft der Menschen in Vereinen und freiwilligen Organisationen besteht, in denen Willensbildungsprozesse stattfinden, Argumente ausgetauscht und die demokratische Selbstorganisation "en minature" geprobt wird. Auch die EU hat die Bürger und die Akteure der Zivilgesellschaft entdeckt und Vorstellungen über deren Rolle im demokratischen Entscheidungsprozess entwickelt. Entsprechend ist die Vorstellung der EU von sich selbst als einer repräsentativen Demokratie mit doppelter Legitimationsgrundlage durch Elemente einer partizipativen Demokratie erweitert worden. Dies findet in dem Verfassungsentwurf in Titel VI, Artikel 46 seinen Ausdruck. Die Organe der EU verpflichten sich, mit den Bürgern, Verbänden und der Zivilgesellschaft einen Dialog zu pflegen; die Kommission wird auf Anhörungen verpflichtet. Auch wenn diese Formulierungen im Hinblick auf die Rolle der Zivilgesellschaft im demokratischen Willensbildungsprozess recht vage klingen mögen, bedeuten sie doch eine verfassungsmäßige Verankerung der Rolle der Zivilgesellschaft.

In welchem Maße unterscheiden sich die vier unterschiedenen Ländergruppen im Hinblick auf ihre zivilgesellschaftliche Verfasstheit? In der Wertestudie wurde die Mitgliedschaft in einer Vielzahl unterschiedlicher freiwilliger Organisationen erhoben (von Parteien über Gewerkschaften, Umwelt-, Frauengruppen bis hin zu Sportvereinen). Der Anteil der Bürgerinnen und Bürger, die in den verschiedenen Ländern in Vereinen organisiert sind, variiert beträchtlich (vgl. Tabelle 3: PDF-Version).

Das Muster im Hinblick auf die vier unterschiedenen Ländergruppen ist ähnlich wie jenes, das wir schon kennen. Die alten EU-Länder weisen die höchsten Mitgliedschaftsraten auf, gefolgt von den neuen Ländern und den beiden zukünftigen Beitrittsländern. Die Türkei bildet das Schlusslicht.

Familie und Gleichberechtigung

Die EU war und ist vor allem eine Wirtschaftsunion. Fragen der Familie und der Geschlechterbeziehung erlangen politische Bedeutung in der EU, wenn sie mit Fragen der Wirtschaft in Verbindung stehen. Folglich findet man im EU-Recht Regelungen, die sich auf das Außenverhältnis von Familien zum Wirtschaftssystem beziehen, nicht aber Regelungen, die das Innenverhältnis von Familien unmittelbar betreffen. Dies wird deutlich, wenn man sich beispielsweise die Überschrift des Artikels II-33 (Teil II "Grundrechtecharta") des Verfassungsentwurfs anschaut. Der Artikel "Familien- und Berufsleben" versucht vor allem die Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie für die Frauen zu regeln. Da die politischen Regulierungen des Verhältnisses von Wirtschaft und Familie aber eine Rückwirkung auf das Binnenleben von Familien haben, betreibt die EU auf mittelbarem Wege auch Familienpolitik und versucht ihre Vorstellungen einer wünschenswerten Familie zu etablieren. Der zentrale Anker der Familienvorstellungen der EU ist die Idee der Gleichstellung von Mann und Frau im Erwerbsleben. Bereits 1957 ist im Art. 119 des EWG-Vertrages der Gleichheitsgrundsatz im Hinblick auf die Bezahlung festgeschrieben worden ("Gleiches Entgelt für Männer und Frauen"). Dieser Grundsatz wurde in zahlreichen Verordnungen und Richtlinien der Gemeinschaft weiter spezifiziert und ist zudem durch die Urteile des Europäischen Gerichtshofs konkretisiert und rechtsverbindlich gemacht worden. Zudem hat die EU die Vorstellungen der Gleichberechtigung zunehmend auf andere Gesellschaftsbereiche ausgedehnt. Mit dieser Politikorientierung unterstützt die EU das Leitbild einer egalitären Beziehung zwischen Mann und Frau, das Bild einer berufstätigen Frau, die sich qua Berufstätigkeit ihre Unabhängigkeit sichert.

Diese Familienvorstellungen müssen nicht unbedingt von den Bürgerinnen und Bürgern in den Ländern akzeptiert werden; und in der Tat unterstützen diese die Gleichberechtigungsvorstellungen in einem recht unterschiedlichen Ausmaß. In der Wertestudie wurden die Menschen gefragt, ob sie der Meinung sind, dass Männer eher ein Recht auf Arbeit haben als Frauen, wenn Arbeitsplätze knapp sind (vgl. Tabelle 4: PDF-Version).

Die Idee der Gleichberechtigung wird von mehr als zwei Dritteln der Bürgerinnen und Bürger der alten Mitgliedsländer und von über 60 Prozent jener in den neuen Mitgliedsländern unterstützt. Während die Idee doppelter Berufstätigkeit in den beiden zukünftigen Mitgliedsländern noch bei ca. der Hälfte der Bürger Unterstützung findet, geben zwei Drittel der türkischen Befragten den Männern den Vorzug und lassen die Frauen hinten anstehen.

Ausblick

Die für das politische Europa konstitutiven Werte sind nicht einfach zu definieren. Die Bezugnahme auf das europäische Recht und vor allem auf die Vertragstexte scheint uns vor allem deswegen ein gut begründbarer Zugang zu sein, weil die im Recht festgeschriebene Werteordnung für sich einen hohen demokratischen Legitimitätsanspruch erheben kann. Die Verträge sind von den Regierungen der Mitgliedsländer unterzeichnet, diese selbst wiederum von den Bürgerinnen und Bürgern Europas gewählt worden. Wir haben auf der Basis einer Auswertung des "European Value Survey" geprüft, ob die im Recht fixierten Werte der EU von den Menschen unterstützt werden und ob es zwischen den EU-Ländern, den Beitrittskandidaten und der Türkei signifikante Unterschiede gibt.

Bilanziert man die verschiedenen Teilergebnisse, so fügen sie sich zu einem Gesamtgemälde zusammen. Die von der Europäischen Union als wichtig erachteten Werte finden eine hohe Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern der alten und neuen Mitgliedsländer der EU; sie erhalten eine geringere Unterstützung von jenen der beiden Länder der nächsten Beitrittsrunde. Vor allem aber zeigt sich, dass die Türkei in vielen Wertebereichen von den Wunschvorstellungen der EU abweicht. Der kulturelle Unterschied zwischen der Türkei und den anderen Ländern fällt zudem deswegen so schwer ins Gewicht, weil die Türkei ein bevölkerungsreiches Land ist und auf Grund der höheren Geburtenziffern wahrscheinlich das bevölkerungsreichste Land einer dann erweiterten EU wäre.

Das hier gezeichnete Bild der kulturellen Landkarte der Europäischen Union ist sicherlich mit grobem Pinsel gemalt. Eine genauere Analyse zeigt, dass man die Varianzen innerhalb der hier zu Ländergruppen aggregierten Einheiten berücksichtigen muss, will man zu einer differenzierteren Einschätzung kommen; aber dazu fehlt hier der Raum. Weiterhin ist zu bedenken, dass die Werteorientierungen der Bürger insofern keine statische Größe sind, als sie sich wandeln können. Gerade die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich die Werteorientierungen der Bürgerinnen und Bürger erst langsam an die von oben und außen oktroyierte demokratische Ordnung anpassen können. Und wie mehrere Studien gezeigt haben, werden die Wertorientierungen der Bürger im hohen Maße durch den Grad der ökonomischen Modernisierung bestimmt.

Auch wir können in unseren Analysen zeigen, dass z.B. die Gleichberechtigungsvorstellungen umso stärker unterstützt werden, je moderner ein Land ist. Insofern ist theoretisch zu erwarten, dass sich nach einer ökonomischen Angleichung der Türkei an den Wohlstand der Mitgliedsländer der EU auch die Werteorientierungen der Menschen verändern werden. Allerdings hängen Prozesse des Wertewandels von einer Vielzahl günstiger Rahmenbedingungen ab und benötigen in aller Regel eine lange Zeit. Leicht wird der Prozess einer kulturellen Angleichung der Türkei an die Werteordnung der EU jedenfalls nicht werden.

Ob die Türkei letztendlich Mitglied der EU wird oder nicht, ist keine wissenschaftliche, sondern eine allein politisch zu treffende normative Entscheidung, in die ganz andere Faktoren als die der kulturellen Unterschiede eingehen werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Ergebnisse eines Forschungsprojekts, das von der Volkswagenstiftung finanziert wurde und dessen Befunde bald in Buchform vorliegen werden. Vgl. Jürgen Gerhards, unter Mitarbeit von Michael Hölscher, Kulturelle Unterschiede in der Europäischen Union. Ein Vergleich zwischen Mitgliedsländern, Beitrittskandidaten und der Türkei, Wiesbaden 2004. Sie sind während eines Aufenthalts am "Swedish Collegium for Advanced Study in the Social Sciences" (SCASSS) formuliert worden.

  2. Rémi Brague, Orient und Okzident. Modelle 'römischer' Christenheit, in: Otto Kallscheuer (Hrsg.), Das Europa der Religionen. Ein Kontinent zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus, Frankfurt/M. 1996, S. 45.

  3. Vgl. Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen. The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München - Wien 1996, S. 251f.

  4. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Das Türkenproblem, in: Die Zeit, Nr. 38 vom 12. September 2002, S. 9; Heinrich August Winkler, Wir erweitern uns zu Tode, in: Die Zeit, Nr. 46 vom 7. November 2002, S. 6.

  5. H.-U. Wehler, ebd.

  6. Vgl. Wolfgang Burgdorf, Die europäische Antwort. Wir sind der Türkei verpflichtet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Januar 2004, S. 31.

  7. Vgl. ebd.

  8. Europäischer Konvent, Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung Europas, Brüssel, 27. Juni 2003.

  9. Vgl. H.-U. Wehler und H. A. Winkler (Anm. 4).

  10. Gute Informationen zum "European Value Survey" findet man zum einen unter: http://www.europeanvalues.nl, zum anderen in Loek Halman u.a., The European Values Study: A Third Wave. Source Book of the 1999/2000 European Values Study Surveys, Tilburg 2001. Der Datensatz ist über das Zentralarchiv für empirische Sozialforschung in Köln unter der Nummer 3811 zu beziehen.

  11. Vgl. Gerhard Robbers (Hrsg.), Religionsrechtliche Bestimmungen in der Europäischen Union. www.uni-trier.de/~ievr/Eureligionsrecht/eureligion-de-pdf (2. Juli 2003); ders., Status und Stellung von Religionsgemeinschaften in der Europäischen Union, in: Michael Minkenberg/Ullrich Willems (Hrsg.), Politik und Religion. Sonderheft 33 der Politische Vierteljahresschrift, Wiesbaden 2003, S. 139 - 163.

  12. Vgl. Europäischer Konvent (Anm. 8).

  13. Valide Informationen zum "World Value Survey" findet man unter: http://www.worldvaluessurvey.com. Der Datensatz ist über das Zentralarchiv für empirische Sozialforschung in Köln zu beziehen.

  14. Vgl. Europäischer Konvent (Anm. 8).

  15. Die Frage lautete: "Die Demokratie mag Probleme mit sich bringen; sie ist aber besser als jede andere Regierungsform." Zur Beantwortung der Frage standen vier Antwortalternativen zur Verfügung (stimme voll und ganz zu, stimme zu, lehne ab, lehne stark ab). Die erwähnten Werte geben die Prozentsätze der addierten beiden Zustimmungen wieder.

  16. Zur Beantwortung der Frage standen vier Antwortalternativen zur Verfügung (sehr gut, ziemlich gut, ziemlich schlecht, sehr schlecht). Die Tabelle gibt die Prozentsätze der addierten beiden Zustimmungen wieder.

  17. Vgl. Europäischer Konvent (Anm. 8).

  18. Die Frage lautete: "Wenn Sie sich einmal sorgfältig diese Liste mit verschiedenen Organisationen und Gruppen durchlesen und mir sagen, welcher davon sie angehören."

  19. Vgl. Europäischer Konvent (Anm. 8).

  20. Vgl. Jürgen Gerhards/Michael Hölscher, Kulturelle Unterschiede zwischen Mitglieds- und Beitrittsländern der EU. Das Beispiel Familien- und Gleichberechtigungsvorstellungen, in: Zeitschrift für Soziologie, 32 (2003) 3, S. 206 - 225.

  21. Zur Beantwortung der Frage standen drei Antwortalternativen zur Verfügung (stimme zu, stimme nicht zu, weder noch). Die Tabelle gibt die Prozentsätze der Zustimmung wieder.

  22. Vgl. J. Gerhards, unter Mitarbeit von M. Hölscher (Anm. 1).

  23. Vgl. David P. Conradt, Changing German Political Culture, in: Gabriel A. Almond/Sidney Verba (Hrsg.), The Civic Culture Revisited, Newbury Park-London-New Delhi 1980, S. 212 - 272.

  24. Vgl. Ronald Inglehart, Modernization and Postmodernization. Cultural, Economic and Political Change in 43 Societies, Princeton 1997; ders./Pippa Norris, Rising Tide. Gender Equality and Cultural Change around the World, New York 2003.

Dr. phil. geb. 1955; Professor für Soziologie an der Universität Leipzig.
Anschrift: Universität Leipzig, Institut für Kulturwissenschaften, Beethovenstr. 15, 04107 Leipzig.
E-Mail: E-Mail Link: Gerhards@rz.uni-leipzig.de

Veröffentlichungen u.a.: Die Moderne und ihre Vornamen. Eine Einladung in die Kultursoziologie, Wiesbaden 2003; (unter Mitarbeit von Michael Hölscher) Kulturelle Unterschiede in der Europäischen Union. Ein Vergleich zwischen Mitgliedsländern, Beitrittskandidaten und der Türkei, Wiesbaden 2004 (i.E.).