Warum Europa Vertrauen braucht
"Vertrauen ist der Anfang von allem" - mit diesem Slogan warb eine deutsche Großbank vor einiger Zeit um Kunden. Der Satz mag für Bankgeschäfte zutreffen - in Bezug auf Europa ist er nur die halbe Wahrheit. Denn die Anfänge der heutigen Europäischen Union gründeten gerade nicht auf überschäumendem Vertrauen zwischen den Völkern.
Im Fahrwasser der Sozialkapital-Forschung wurde Vertrauen in den letzten Jahren von den Sozialwissenschaften als wichtige gesellschaftliche Ressource identifiziert. Vertrauen ist die Erwartung, dass sich andere verlässlich und freundlich verhalten - oder einem zumindest nicht schaden.
Wenn Vertrauen für nationale Gesellschaften so wichtig ist, dann umso mehr für supranationale Gemeinschaften. Anders als Nationalstaaten können Letztere nur in geringem Umfang auf nicht hinterfragte, gleichsam "mechanische" Solidarität der Bevölkerung bauen. Weil geringere moralische Verpflichtungen zu kooperativem Verhalten und wechselseitiger Hilfe bestehen, ist Vertrauen im internationalen Kontext so wertvoll. Schon Forscher wie Karl Deutsch waren davon überzeugt, dass internationale politische Gemeinschaften Vertrauen und Gemeinschaftssinn brauchen, um eine "Sicherheitsgemeinschaft" zu bilden: eine Gemeinschaft, in der die Menschen erwarten, dass etwaige Konflikte friedlich bewältigt werden.
Vertrauen über Landesgrenzen hinweg ist vor allem ein Indikator für die soziale Integration Europas, die zu unterscheiden ist von der politischen Integration.
Max Weber hat eine Nation definiert als eine Gemeinschaft von Menschen, die füreinander solidarisch sind.
Vertrauen in Europa - Ergebnisse der Umfrageforschung
Wie ist es nun um das Vertrauen in Europa bestellt? Empirisch kann man diese Frage mithilfe von Umfragen der Europäischen Kommission beantworten, den Eurobarometern (EB). In ihnen wird die Bevölkerung der EU-Mitgliedsstaaten repräsentativ zu Meinungen und Einstellungen zu Europa befragt - in unregelmäßigen Abständen auch zum Thema "gegenseitiges Vertrauen". Im Folgenden fasse ich die Hauptergebnisse einer Untersuchung zusammen, die auf sieben EB-Umfragen aus den Jahren 1976 - 1997 beruht.
Beschränkt man sich zunächst auf die alte EU mit 15 Mitgliedern, so kann man Ende der neunziger Jahre tatsächlich von der Union als einer Sicherheitsgemeinschaft sprechen. Ganz überwiegend vertrauen die Europäer einander. Wenn wir ein Rating dann als "positiv" werten, wenn der Anteil derjenigen, die Vertrauen äußern, zehn Prozentpunkte größer ist als der Anteil derer, die Misstrauen äußern, so sind 84 Prozent der binationalen Vertrauensbeziehungen in der EU der 15 "positiv". Nur 2 Prozent sind "negativ", die restlichen 14 Prozent "neutral". In absoluten Zahlen bedeutet dies: Nur 5 der insgesamt 210 wechselseitigen Bewertungen fallen "negativ" aus (die Griechen haben gegenüber den Briten, Deutschen, Dänen, Holländern und Belgiern mehr Misstrauen als Vertrauen). Sehr hohes Vertrauen haben z.B. die Belgier in die Luxemburger; die Holländer in Luxemburger, Dänen und Schweden; die Österreicher in die Deutschen; die Finnen in die Schweden; die Schweden in die Dänen - um nur einige Beispiele zu nennen.
Allerdings gelten nicht alle Nationen als gleichermaßen vertrauenswürdig. Abbildung 1 (s. PDF-Version) zeigt genauer, für wie vertrauenswürdig die einzelnen EU-Völker von den übrigen 14 Partnernationen im Durchschnitt gehalten werden. Als vertrauenswürdig gelten vor allem die Menschen aus den drei nordischen Mitgliedsstaaten, aus den Benelux-Staaten Luxemburg und Niederlande sowie aus Österreich. In der Sprache der Soziometrie gesprochen gibt es vier "Stars": die Schweden, Niederländer, Luxemburger und Dänen. Sie zählen besonders häufig zu den nationalen Gruppen, denen das meiste Vertrauen entgegengebracht wird (das zeigt auch die soziometrische Karte der EU, vgl. Abbildung 2, S.9: PDF-Version). Den nach Bevölkerungsgröße und politischem Einfluss "schwergewichtigen" Nationen Deutschland, Frankreich und England wird mittleres Vertrauen entgegengebracht. Menschen aus Südeuropa, insbesondere Italiener und Griechen, genießen das geringste Vertrauen. Doch auch ihnen gegenüber überwiegen positive Haltungen.
Offenbar gilt ein Volk dann als besonders vertrauenswürdig, wenn verschiedene Merkmale zusammenkommen: geringe Bevölkerungszahl, eine unkriegerische Geschichte, Wohlstand und ein funktionierendes Gemeinwesen, das sich unter anderem in geringer Korruption ausdrückt.
Die Nationen lassen sich auch als Geber von Vertrauen betrachten. Auch bei dieser Betrachtungsweise stößt man auf ein Nord-Süd-Gefälle: In der Regel haben die Nord- und Westeuropäer mehr transnationales Vertrauen als die Südeuropäer. Schweden, Dänen und Niederländer führen die Rangliste der Kosmopoliten an, am Ende rangieren die Portugiesen und Griechen. Die Griechen sind auch die einzige Nation, in der die Bevölkerung den EU-Bürgern anderer Nationalität eher misstraut als vertraut.
Die Erweiterungen 1973 - 1995
Damit haben wir auch erste Hinweise darauf, welchen Einfluss die verschiedenen Erweiterungen auf das verfügbare Sozialkapital der Staatengemeinschaft gehabt haben. Dazu simulieren wir (mit der Umfrage von 1997) eine Union mit 6, 9,12 und 15 Mitgliedsstaaten (vgl. zusätzlich Tabelle 1: PDF-Version).
- Die Nordwesterweiterung von 1973 um Dänemark, Großbritannien und Irland hat sich insgesamt neutral ausgewirkt. Während die Dänen als Geber wie als Empfänger grenzüberschreitenden Vertrauens überdurchschnittliche Werte aufweisen, haben die Briten jeweils leicht unterdurchschnittliche Werte; die Iren entsprechen dem Schnitt der EU-6. Das durchschnittliche Vertrauen in der Gemeinschaft hat sich praktisch nicht verändert.
- Die zweistufige Süderweiterung um Griechenland (1981) sowie um Portugal und Spanien (1986) hat das Sozialkapital der EU verringert. Deren Bevölkerungen haben unterdurchschnittliches Vertrauen in die Partnervölker und werden umgekehrt von diesen auch in unterdurchschnittlichem Maße als vertrauenswürdig betrachtet. Die Süderweiterung war folglich eine zentrifugale, desintegrative Erweiterung, zumindest unter dem Aspekt des gegenseitigen Vertrauens.
- Die Norderweiterung von 1995 um Finnland, Schweden und Österreich wirkte integrativ (im Falle Österreichs nur als Empfänger von Vertrauen, als Geber neutral).
Die Erfahrung zeigt, dass sich die Aufnahme ärmerer Länder mit geringer Institutionenqualität und geringerer Geltungskraft universalistischer Verhaltensstandards negativ auf das Vertrauensvermögen der EU auswirkt.
Der Effekt der Osterweiterung
Diese Merkmale treffen im Wesentlichen auch auf die zehn neuen Mitgliedsstaaten zu. Hinzu kommen kulturelle Unterschiede zwischen West und Ost sowie im Falle der postkommunistischen Gesellschaften auch unterschiedliche politisch-ideologische Erfahrungen. So ist es keine Überraschung, dass die Osterweiterung das durchschnittliche transnationale Vertrauen in der EU verringert (vgl. Tabelle 1: PDF-Version) - es ist Ausdruck der Tatsache, dass die EU-15-Bürger den Menschen aus den Beitrittsländern überwiegend nur geringes Vertrauen entgegenbringen. Allerdings können wir den Effekt der Osterweiterung derzeit nicht vollständig beziffern, weil erstens nur einige der Beitrittsländer in den Eurobarometer-Umfragen als zu bewertende Nationalitäten enthalten sind; und weil wir zweitens nicht wissen, wie viel Vertrauen die Menschen aus den neuen Mitgliedsstaaten untereinander und gegenüber den Völkern der "alten" EU aufbringen.
Der vorhandene Ausschnitt des Bildes zeigt aber, dass die Westeuropäer den Polen, Ungarn, Tschechen und Slowaken nur wenig Vertrauen entgegenbringen (vgl. Tabelle 2: PDF-Version). In vielen Ländern überwiegen negative Haltungen, besonders in den Anrainerstaaten Deutschland und Österreich (jeweils besonders gegenüber den Polen und Slowaken, während die Einstellung gegenüber den Ungarn neutral ist). Nun mag man Deutsche und Österreicher ob ihrer ablehnenden Haltung den östlichen Nachbarn gegenüber schelten - Tatsache ist, dass hier große Ängste vor Zuwanderung, Arbeitsplatzkonkurrenz, Lohndumping und Kriminalität vorherrschen, in den Grenzgebieten noch mehr als im Binnenland.
Negativ eingestellt sind auch die Belgier, Luxemburger und Griechen, letztere selbst Anrainer des ehemals sozialistischen Blocks. Leicht überwiegendes Vertrauen haben die Spanier, Iren, Holländer, Briten und Schweden - allesamt Bevölkerungen von Ländern ohne Landesgrenze zur Erweiterungszone. Sie werden die Osterweiterung, ausgenommen die Schweden mit ihrer traditionell hohen Verflechtung mit den baltischen Staaten, eher virtuell über die Medien erleben, im Falle Spaniens und Irlands auch in Gestalt einer anonymen Kürzung von EU-Finanzhilfen. Als Fußnote ist interessant, dass die Briten den Polen, Ungarn und Tschechen deutlich mehr vertrauen als den Deutschen und Franzosen. Insbesondere im Falle des britisch-deutschen Verhältnisses sind die Wunden des Zweiten Weltkrieges offenbar noch nicht verheilt. Eine alternative Erklärung wäre eine gewisse Skepsis der Briten angesichts der engen deutsch-französischen Partnerschaft.
Den Ostmitteleuropäern wird von der EU-15-Bevölkerung also nur wenig Vertrauen entgegengebracht. Und es ist unwahrscheinlich, dass sich die Situation für die anderen Beitrittsländer fundamental unterscheidet, sieht man einmal von Sonderbeziehungen ab, wie die der Griechen zu den Zyprioten. Dies lässt auch eine deutsche Umfrage vermuten, nach der die Deutschen von den Beitrittsländern Ungarn die meiste Sympathie entgegenbringen, gefolgt von Malta, Estland und Zypern.
Problematischer noch als die Osterweiterung würde unter dem Aspekt des Vertrauens mit Sicherheit ein Beitritt der Türkei sein. Leichtes bis tiefes Misstrauen den Menschen aus der Türkei gegenüber ist die dominante Haltung in den alten Mitgliedsstaaten, nicht nur in Griechenland, dem traditionellen Rivalen der Türkei. Die Türkei als muslimisches Land hat geographisch und kulturell eine große Distanz zu (West-)Europa.
Die Beispiele Süd- und Osterweiterung (und auch Türkei) belegen ein verallgemeinerbares Muster: Die schrittweise Expansion der Staatengemeinschaft, vom Kern zur Peripherie, ist mit steigenden Kosten der Sozialintegration verbunden. Wird die Gemeinschaft größer und heterogener, schrumpft das mobilisierbare Vertrauensvermögen. Dies deutet auf einen Konflikt zwischen Erweiterung und Vertiefung der Union hin, der von EU-Politikern wie Staats- und Regierungschefs nicht hinreichend reflektiert wird.
Wachsendes transnationales Vertrauen
Gleichwohl ist davon auszugehen, dass die Westeuropäer langfristig mehr Vertrauen in die Menschen aus den neuen Mitgliedsstaaten entwickeln werden. Diese optimistische Sicht lässt sich mit den in Westeuropa zu beobachtenden Trends seit den siebziger Jahren begründen. Im Zeitraum von 1976 bis 1997 ist das Vertrauensklima zwischen den Europäern freundlicher geworden. Dies ergibt sich z.B., wenn man als Indikator das durchschnittliche Vertrauen in Menschen aus den EU-9 Ländern betrachtet. In acht von zwölf Ländern, für welche die Trendanalyse möglich war, ist dieses transnationale Vertrauen über die zwei Jahrzehnte gewachsen. Mehr Vertrauen haben insbesondere die Italiener, Spanier, Luxemburger, Niederländer und Dänen entwickelt. Vom allgemeinen positiven Trend weichen nur vier Länder ab: In Irland, Großbritannien und Portugal ist das Vertrauen konstant geblieben (in Portugal bei heftigen Schwankungen), während es in Griechenland gesunken ist, nach einem vorübergehenden Anstieg zwischen 1980 und 1990. Im Falle der Griechen hat die EU-Mitgliedschaft nicht zu einer langfristig positiveren Einstellung gegenüber den Partnern geführt.
Als Vertrauensempfänger haben nun nahezu alle Nationen - mit Ausnahme der Deutschen - von der insgesamt positiven Entwicklung profitiert. Besonders interessant ist in unserem Zusammenhang, dass die Italiener, Iren, Portugiesen und Spanier überdurchschnittlich starke Gewinne an zugeschriebener Vertrauenswürdigkeit verzeichnen konnten - also gerade die nationalen Gruppen, mit denen sich weite Teile der EU-Bevölkerung in den siebziger und achtziger Jahren nicht so vertraut gefühlt haben. Geringeres Vertrauen als in den siebziger Jahren wird nur den Deutschen entgegengebracht, vermutlich ein Resultat der Vereinigung. Denn bis 1990 waren auch die Deutschen in der Gunst der EU-Partnervölker gestiegen. Doch seither werden die Deutschen wieder argwöhnischer betrachtet, möglicherweise aus Sorge vor einem zu starken wieder vereinigten Deutschland.
Ähnlich wie für Italien, Irland, Portugal und Spanien ist auch für die neuen Mitgliedsnationen ein allmählicher Imagegewinn zu erwarten. Hilfreich wird sein, dass sich Ostmitteleuropa in der Staatengemeinschaft politisch, gesellschaftlich und kulturell weiter an Westeuropa annähern wird. Mit der jüngsten Erweiterung (und davor bereits im Zuge der Systemtransformation und der Anpassung an die Beitrittskriterien) hat das westliche Europa sein Gesellschaftsmodell in wesentlichen Zügen nach Osten transportiert. Der Westen hat sich also gleichsam nach Osten ausgedehnt - die "Osterweiterung" ist deshalb zugleich eine Ost- und Westerweiterung. Sozialpsychologisch funktioniert die zu erwartende Verringerung sozialerDistanz als self-fulfilling prophecy: "Wenn sich die da drüben dem Westen anschließen, können sie wohl schlecht Osteuropäer bleiben."
Unterschiede zwischen den Generationen
Ein zweites Ergebnis deutet auf ein zukünftig wachsendes Sozialkapital in der erweiterten EU hin: die unterschiedliche Bereitschaft von Jung und Alt, Menschen anderer Nationalität zu vertrauen. Unabhängig davon, ob es um die Vertrauenswürdigkeit der EU-15-Völker oder der Menschen aus Polen, Ungarn und Tschechien geht - stets schenken die jüngeren Altersgruppen mehr Vertrauen als die älteren. Sofern die kosmopolitische Haltung der Jüngeren tatsächlich auf einen Generationen- und nicht auf einen Lebenszykluseffekt zurückzuführen ist, werden sich die Völker Europas auch durch den Austausch der Generationen näher kommen. Stärker als jede andere Altersgruppe vor ihr wachsen die 15- bis 24-Jährigen in einer globalisierten MTV-Kultur auf, und auch die Ost-West-Konfrontation hatte auf sie nur eine geringe sozialisierende Wirkung.
Doch ungeachtet dieses Generationeneffekts - das grundlegende soziometrische Muster, nach dem die Nordeuropäer als besonders vertrauenswürdig eingestuft werden, während die Ostmitteleuropäer auf reserviertes Vertrauen stoßen, finden wir auch bei den jungen Westeuropäern wieder.
Nation und Europa: ein Gegensatz?
Generell gilt in Europa auch heute noch: Die eigenen Landsleute sind uns immer noch am nächsten. In aller Regel haben die EU-Bürgerinnen und Bürger in die eigene Gruppe mehr Vertrauen als in Menschen anderer Nationalität. Mit anderen Worten: Man zieht immer noch eine soziale Grenze zwischen "sich" (die eigene Nation) und "den anderen" (Europa). Diese Grenze ist in einigen Fällen zwar stärker als in anderen, doch gezogen wird sie überall. Der Tendenz nach ist der Ethnozentrismus im Süden Europas stärker als im Norden; besonders die Griechen und Portugiesen vertrauen den Landsleuten weit mehr als Menschen aus anderen Ländern. Eine Ausnahme von der Regel sind die Italiener. Doch deren geringer Ethnozentrismus kommt nicht etwa dadurch zustande, dass sie den anderen Europäern so positiv gegenüberstünden. Vielmehr haben die Italiener kein großes Vertrauen in die eigenen Landsleute.
Die Grenze zwischen Nation und Europa ist zudem erstaunlich stabil. Die Trendanalyse seit den siebziger Jahren ergibt, dass sie kaum durchlässiger geworden ist. Ist dies nicht ein Widerspruch zur obigen Feststellung, dass das transnationale Vertrauen über die Jahre gestiegen ist? Nein, denn das Vertrauen in die eigenen Landsleute ist seinerseits fast überall angestiegen - bisweilen sogar stärker als das transnationale. Nur in drei Ländern - Belgien, Westdeutschland
Noch aus einem weiteren Grund geht von dem stärkeren Vertrauen in die eigenen Landsleute keine Gefahr für Europa aus: Diejenigen, die ihren Landsleuten Vertrauen schenken, haben tendenziell auch mehr Vertrauen in Menschen anderer Nationalität als diejenigen, die selbst die eigenen Landsleute mit Skepsis sehen. Vertrauen beginnt also in der Heimat. Wer den eigenen Landsleuten vertraut, hat auch eine positivere Einstellung gegenüber anderen Nationen.