Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Prozesse der europäischen Identitätsstiftung | Europäische Identität | bpb.de

Europäische Identität Editorial Prozesse der europäischen Identitätsstiftung Transnationales Vertrauen in der erweiterten EU Europäische Werte - Passt die Türkei kulturell zur EU? Europäische Identität und die Zukunft Europas Nationalismus und Europaskepsis in den postkommunistischen Staaten Mittel-und Osteuropas Soziale Ungleichheit in der Europäischen Union

Prozesse der europäischen Identitätsstiftung

M. Rainer Lepsius

/ 8 Minuten zu lesen

Europäische Identität wird gestiftet durch die Institutionalisierung von Wertvorstellungen in konkreten Verhaltenskontexten. Die Europäische Union bietet dafür die Organisationsstruktur und die Verfahren für die Willensbildung und Entscheidungsfindung.

Einleitung

Die europäische Identität ist vieldeutig. Von außen betrachtet erscheint Europa eher als Einheit als von innen. Die Europäer empfinden sich als eine Pluralität von Nationen, Sprachen und kulturellen Traditionen, von Selbstverständnissen je eigener Prägung. Identitätsbildung setzt immer ein Bezugsobjekt voraus, sei es eine Person, eine Wertvorstellung oder eine institutionalisierte Ordnung. Über diese bildet sich eine Selbst- und Fremdbeschreibung von Individuen und Kollektiven. Je größer die Zahl der Bezugsobjekte, desto vielfältiger sind die Identitäten, die untereinander in einem Spannungsverhältnis stehen. Da mit jedem Identifikationsmuster eine Verhaltensorientierung verbunden ist, vervielfältigen sich auch die Verhaltenserwartungen. Die mit den verschiedenen Identitäten verbundenen Verhaltensweisen werden jedoch nicht gleichzeitig ausgeübt, sie bestehen nebeneinander und werden in spezifischen Situationen ungleichmäßig aktiviert. Man verhält sich nicht in jeder Situation als Mann oder Frau, jung oder alt, obgleich die Differenzierungen nach Geschlecht und Alter die Basisstrukturierungen der eigenen Selbstwahrnehmung sind. Welche Identitätsvorstellung verhaltensorientierend wirkt, ergibt sich aus der Verhaltenssituation. Die Vorstellung von der Identität als einer einheitlichen und kontinuierlichen Orientierungsprägung ist sicher zu einfach. Das gilt auch für kulturelle und nationale Identitäten. Sie werden durch Institutionalisierungsprozesse gestiftet, verändern ihren Charakter, vermischen sich in den Sinnbezügen untereinander.

Für kollektive Identitätsbildungen, für die Entwicklung eines verbindlichen "Wir-Gefühls", einer Solidarität mit unbekannten Menschen, bedarf es der Institutionalisierung von Ordnungsideen. Durch diese werden Standards für bestimmte Verhaltenskontexte verbindlich. Solche Prozesse stiften die Identitätsbildung. Als der Nationalstaat zur Ordnungsidee für die staatliche Struktur der modernen europäischen Gesellschaft entwickelt wurde, entstanden neue Kategorien für die Selbst- und Fremdidentifikation in Europa: die Begründung der demokratisch legitimierten Herrschaftsordnung durch einen Souverän, die Nation. Der Nationalstaat stiftete die nationale Identifikation der Bürger. Es entwickelte sich ein Prozess der kumulativen Identifikation mit dem Nationalstaat und den von ihm vertretenen Wertvorstellungen. Die Maxime der Gleichheit der Angehörigen einer Nation erzwang eine Solidaritätsverpflichtung zu allen Nationsbürgern, gleichviel, wie landsmannschaftlich fern und religiös fremd sie auch sein mochten. Die Nationenbildungen führten zu einer inneren Homogenisierung der Wertvorstellungen, auf denen die Identifikationsprozesse aufruhten. Auch europäische Identifikationsvorstellungen sind weitgehend durch den Sieg des Nationalstaatsmodells geprägt worden. Die Idee, Europa solle politisch in Nationalstaaten organisiert sein, hat zu Diskriminierungen, Verfolgungen und Vertreibungen von Minderheiten, zu Grenzkriegen und Zwangsassimilationen geführt, die bis heute in Südosteuropa nicht abgeschlossen sind. Das Ergebnis ist ein Europa der ethnisch und kulturell homogenisierten Nationalstaaten, getragen von dem Glauben an eine nationale Legitimität staatlicher Herrschaft im Übergang vom Feudalismus zur Demokratie.

Europa war ein Konglomerat von gleichartig konstruierten Nationalstaaten, die untereinander in Konkurrenz standen, ihre Autonomie verteidigten und auf Abgrenzungen bestanden. Einig war das Europa der Nationalstaaten im Kampf gegen jede Hegemonie, im Anspruch auf Gleichwertigkeit der Nationen, auch bei materieller Ungleichheit, und in der Sorge, im Konkurrenzkampf der Nationen einen gerechten Anteil zu erhalten. Der Selbstbehauptungswille richtete sich stets gegen andere europäische Nationalstaaten. Die Idee eines Europas der Nationalstaaten überdauerte auch die militärische, ökonomische und ideologische Überlagerung Mittel- und Osteuropas durch die Sowjetunion, führte schließlich zu deren Auflösung ebenso wie zum Zerfall der Jugoslawischen Föderation. Große Kriege mit verheerenden Folgen wurden im Namen des europäischen Nationalstaates geführt, haben Europa mehrfach verwüstet und in seiner internationalen Bedeutung geschwächt. Die Identität Europas bestand in der Selbstbezogenheit seiner staatlichen Komponenten, wenngleich es darüber hinaus auch immer ein Bewusstsein der Gemeinsamkeiten in geschichtlichen Traditionen und kulturellen Prägungen gab. Aber diese Vorstellungen von einer europäischen Identität waren im Ernstfall doch nachrangig gegenüber den nationalstaatlichen Identitäten.

In der Europäischen Gemeinschaft entfaltete sich nach dem Krieg ein neues europäisches Modell, eine gemeinsame Herrschaftsordnung europäischer Staaten für ausgewählte Politikbereiche. Ein neuer institutionalisierter Bezugspunkt für die Identität von Europa entstand. Europa ist nicht mehr eine bloße Idee, eine Projektion von Hoffnungen, es hat eine neue Form gefunden, es ist im Sprachgebrauch zur Bezeichnung der verfassten Europäischen Union geworden. Damit hat ein neues Kapitel in der Geschichte Europas und der europäischen Identitätsstiftungen begonnen. Von Westeuropa, der Gemeinschaft der sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1951), ausgehend, hat sich über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (1958) die Europäische Union zunächst auf fast alle Staaten außerhalb des "Eisernen Vorhangs" ausgeweitet und umfasst heute auch Mittel- und Osteuropa. Noch fehlen die Staaten Südosteuropas, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch sie Mitglieder sein werden. Man kann also sagen, ganz Europa sei erstmals in eine gemeinsame wirtschaftliche und politische Ordnung eingebunden, habe eine Grundordnung mit verbindlichen Wertorientierungen erhalten.

Der Erfolg der europäischen Integration im Ordnungsrahmen der Europäischen Union ist eng verbunden mit der Methode der Institutionenbildung, die man als die "Methode Monet" bezeichnet hat. Dieser Prozess beruhte auf der sektoralen Überführung von Politikbereichen in einen neuen, supranationalen Handlungskontext. Die Nationalstaaten behalten zwar ihre Souveränität, sind - wie man sagt - die "Herren der Verträge", üben aber Teile ihrer Souveränitätsrechte nur noch gemeinsam aus. Sie können in vielen Bereichen nicht mehr als Einzelne entscheiden und unterliegen einem Vollzugszwang der gemeinsam gefassten Beschlüsse, der durch den Europäischen Gerichtshof mit Rechtssanktionen eingefordert werden kann.

Die Europäische Union hat daher einen doppelten Charakter: Sie ist einerseits ein Vertragsbündnis der Mitgliedsstaaten und hat andererseits eine supranationale Willensbildung und Entscheidungsstruktur. Auch die Legitimationsbasis ist dual, einerseits durch die demokratisch gewählten Regierungen der Mitgliedsstaaten, andererseits durch das direkt gewählte Europäische Parlament. Diese duale Struktur ist komplex, aber im Vergleich mit den Verfassungen der klassischen Nationalstaaten innovativ. Sie wirkt als eine "Konsensmaschine" mit der zentralen Agentur der Europäischen Kommission. Diese muss in einer Vielzahl von formellen und informellen Kontakten dafür sorgen, dass sowohl die nationalen Regierungen wie auch das Europa-Parlament ihren Beschlussvorlagen zustimmen.

In diesem engen Informations- und Kontaktaustausch bilden sich neue Rationalitätskriterien für die Willensbildung auf europäischer Ebene heraus, die qualitativ verschieden sind von den Interessen der Nationalstaaten. Auch sie werden auf diese Weise langsam europäisiert. Es entsteht eine gesamteuropäische Kooperation zwischen staatlichen, nichtstaatlichen und europäischen Behörden und Organisationen, das so genannte Mehrebenensystem des Regierens in Europa. Die Mitgliedsstaaten sind fest eingebunden in europäische Prozesse der Willensbildung und Entscheidung. Eine klare Zurechnung von Entscheidungen auf die europäischen Rationalitätskriterien oder die nationalen Interessenlagen ist nur schwer möglich, zumal europäische Verordnungen in nationale Gesetze übertragen werden und die Verwaltungskompetenz bei den Mitgliedsstaaten liegt. Diese Struktureigentümlichkeiten hemmen die Ausbildung einer spezifisch europäischen Identität.

Nationale und europäische Kriterien für Identitätsbildungen verknüpfen und vermischen sich fallweise. Dementsprechend ist die dominante Identifikation mit dem Herrschaftsverband Europa gering, weit geringer als mit den staatlichen Ordnungen. Bei jeder Europawahl wird die geringe Wahlbeteiligung bedauert und beklagt, dass europäische Themen die Wahlen nicht bestimmen. Europawahlen sind noch immer nationale Wahlen, bei denen die Zufriedenheit und Unzufriedenheit mit den nationalen Regierungen und Parteien zum Ausdruck kommen. Die emotionalen und kognitiven Gehalte bleiben nationalstaatlich geprägt und werden auch von den Parteien und politischen Eliten überwiegend als solche definiert. Der inzwischen eingetretene Kompetenztransfer von den nationalen Regierungen auf die europäische Ebene und die damit verbundene Einschränkung nationalstaatlicher Handlungsfähigkeit haben noch nicht zu einer Politisierung auf der europäischen Ebene geführt. Sie gilt vielen Bürgerinnen und Bürgern als eine zusätzliche Handlungsebene der Nationalstaaten, nicht als eigenständige Einwirkung auf die Mitgliedsstaaten.

Das entspricht der Art der Institutionalisierung der Europäischen Union. Die europäische Politik ist eine Integrationspolitik auf Systemebene, konzentriert sich auf ausgewählte Politikbereiche, insbesondere die Vereinheitlichung von Regulierungen des Wirtschaftslebens, die zumeist nur indirekt in die nationalen Verteilungskämpfe eingreifen. Nur gelegentlich haben sich kumulierende Ergebnisse der gewissermaßen "stillen" Europäisierung von wirtschaftlichen Normen, Wettbewerbsregeln, Berufsordnungen, Gesundheitsstandards und vieles mehr zum Dissens auf der Ebene symbolischer Wertrepräsentanz geführt. Insoweit brauchte die Europäische Union auch keinen hohen Grad der Identifikation durch ihre Bürger. Solange alle wesentlichen Interessen über die nationalstaatlichen Verfahren, Regulierungen und Organisationen formiert und repräsentiert werden, bestand keine Notwendigkeit für eine den Nationalstaat übergreifende Identifizierung und Selbstbeschreibung von Kollektiven mit der europäischen Ebene.

Dieser Zustand verändert sich schrittweise durch die zunehmenden Kompetenzen der europäischen Organe für die Sozialpolitik, die Innenpolitik und inzwischen auch schon die Kulturpolitik. Alle diese Politikfelder greifen in nationalstaatlich seit langem paktierte und gewohnte Ordnungen ein, die mit tradierten Wertvorstellungen und Erwartungen verbunden sind. Es ist also zu erwarten, dass die bisher "stille Regulierungspolitik" in eine "laute Umverteilungspolitik" übergeht. Zudem nehmen die Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat zu. Dies alles führt zu einer Politisierung der Europapolitik und zu einer Aktivierung von Solidaritätsbedürfnissen auf der europäischen Ebene. Der Anteil der Beihilfen für Mitgliedsstaaten, die deutlich unter den Durchschnittswerten des europäischen Sozialprodukts liegen, steigt, die Problematik des Finanzausgleichs wächst, und eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik mit möglichen Auslandseinsätzen europäischer Streitkräfte kommt hinzu. Dies wird zu einer erhöhten Legitimitäts- und Solidaritätsgabe für die europäische Politik zwingen. Damit wird sich auch das Bedürfnis für eine stärkere europäische Identifikation einstellen. Solche Prozesse bewirken mehr für die Ausbildung einer europäischen Identifikation als Bemühungen um eine symbolische Identitätspflege, etwa durch die Wahl eines europäischen Präsidenten oder durch Volksabstimmungen über die neue europäische Verfassung. Europäische Ordnungen werden vielmehr durch verbindliche Normierungen mit Verhaltensprägung konkretisiert. Sie bestimmen Einkommenserwartungen, sozialpolitische Standards oder Ausbildungsstrukturen.

Dennoch, der Nationalstaat wird als zentrales politisches Identifikationsobjekt nicht an Bedeutung verlieren. Die Europäische Union soll ja nicht dem Modell des alten Nationalstaates folgen, keine Kompetenz-Kompetenz für alle Lebensbereiche erhalten, kein europäischer Hegemon gegenüber ihren Mitgliedern werden. Die Nationalstaaten bleiben in ihren sozial paktierten und bewährten Verfahren und Solidaritätsstrukturen zentral für den Interessenausgleich in den Mitgliedsstaaten. Ökonomische und soziokulturelle Konflikte bedürfen für ihre institutionalisierte Austragung einer interaktiven Dichte und sprachlichen Homogenität, welche auf der europäischen Ebene nicht gegeben sind. Insofern bilden die Nationalstaaten auch die Basis der Europäischen Union für den sozialen Frieden im Innern. Dies gilt gerade auch für die Bewältigung von Migrationsströmen, der Ausbildung von ethnischen und religiösen Minderheiten und der zunehmenden sozioökonomischen Differenzierung innerhalb der ehemals homogenen Nationalstaaten. Breite Partizipationschancen ermöglichen die konsensuale Paktierung von Ungleichheiten und bieten damit auch die Chance für die Gewaltlosigkeit von Konfliktaustragungen. Die Integrationskraft der nationalstaatlich verfassten Gesellschaft kann nicht durch die neuen europäischen Ordnungen ersetzt werden. Zugleich werden aber die Nationalstaaten europäisiert und mit ihnen auch die Identitätskriterien der Nationalstaaten. Mehrsprachige Funktionseliten werden sich rascher mit den europäischen Ordnungen identifizieren und aus der nationalen Orientierung lösen als die breite Bevölkerung. So werden sich verschiedene Trägergruppen für eine mehr europäische oder mehr nationalstaatliche Identifikation ausbilden. Verschiedene identitätsstiftende Ordnungen treten nebeneinander, werden situationsspezifisch abgewehrt und müssen untereinander vermittelt werden.

Dr. oec. publ., Dr. h.c., geb. 1928; emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Heidelberg; Mitherausgeber der Max Weber-Gesamtausgabe.
Anschrift: Institut für Soziologie, Sandgasse 9, 69117 Heidelberg.
E-Mail: E-Mail Link: rainer.lepsius@urz.uni-heidelberg.de

Veröffentlichungen u.a.: Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990; Demokratie in Deutschland, Göttingen 1993.