Einleitung
Massiver, zuweilen aggressiv vertretener Ethnonationalismus
Für ethnonationalistische Bewegungen eröffnet sich vor allem immer dann ein breites Aktionsfeld in noch nicht stabilisierten Institutionen- und Parteiensystemen, wenn der Systemübergang nicht nur den Umbau des Regierungssystems, sondern auch eine "offene nationale Frage" betrifft. Vor allem Systemwechsel wie die in Europa nach dem Untergang des Ostblocks sind Situationen besonderer Unsicherheit. Parallel zur Demokratisierung verlaufende Nation-Building-Prozesse wie seit Ende der achtziger Jahre in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion und Jugoslawiens
Die Kraft des Ethnonationalismus
Selten kommt es zum aktiven Aufbegehren all derer, die sich als Teil einer Nation begreifen. Deshalb treten ethnonationalistische Bewegungen als die maßgeblichen sozialen Akteure in Erscheinung. Ihnen obliegt die notwendige Politisierung der ethnischen Identität, die Formulierung nationalistischer Forderungen und Ziele sowie die Mobilisierung von Mitgliedern und Sympathisanten. Ethnizität wird hier nicht als naturgegebenes, ewiges gesellschaftliches Ordnungsprinzip, sondern als konstruiertes bzw. "erdachtes" Ergebnis eines Prozesses sozialen Handelns von Akteuren definiert. Differierende kulturelle Merkmale sind Ressourcen, die den Akteuren zur eigenen Abgrenzung dienen, jedoch zunächst aktiviert werden müssen.
In ethnisch gemischten Gesellschaften kann ethnische Zugehörigkeit als "emotionale Sicherheitskategorie" fungieren:
Ethnonationalismus ist somit als moderne Spielart des Nationalismus zu kennzeichnen. Nationalistische Vorstellungen orientieren sich unabhängig von ihren historisch-konkreten Erscheinungsformen immer an der Idee einer Nation, die es zu verteidigen oder aber erst zu konstruieren gilt. Grundsätzlich kann zwischen zwei Nationsverständnissen unterschieden werden: dem der politisch-subjektiven, etatistischen Nation, die auf gemeinsamen Wertvorstellungen sowie auf dem Bekenntnis zu einem gemeinsamen Staat basiert, und dem der kulturell-objektiven, auf vermeintlich vorgegebenen, unwandelbaren Kriterien gründenden Nation.
Mittlerweile hat sich die noch vor wenigen Jahren weit verbreitete Vermutung, Nationalismus sei im Zeitalter der Globalisierung eine längst überwundene politische Kraft, als falsch erwiesen. Die bis in die sechziger Jahre hinein einflussreiche modernisierungstheoretische These, sozio-ökonomischer und technologischer Fortschritt werde dem Aufbegehren unzufriedener Minderheiten allmählich ein Ende bereiten, ist von der neueren politikwissenschaftlichen Forschung längst umfassend revidiert worden. Gerade in den letzten Jahren ist die Rückkehr des ethnischen Nationalismus - ob als "Ersatzideologie" für den obsolet gewordenen Marxismus-Leninismus
Diskurse, Ziele und Strategien nationalistischer Bewegungen
Der Charakter nationalistischer Bewegungen wird vor allem durch ihre Diskurse, Zielsetzungen und Strategien geprägt. Vereinfacht gesagt, haben sie entweder das Ziel, einen bestimmten gesellschaftlichen oder politischen Status quo aufrechtzuerhalten, oder sie streben nach dessen Veränderung. Das Spektrum der Zielsetzungen reicht von Forderungen nach erhöhter politischer Mitbestimmung im bestehenden System bis hin zur völligen Loslösung aus dem existierenden Staatsverband. Oft greifen nationalistische Wortführer auf populistische Strategien und Rhetorik zurück. Generell liegt nationalistischen Diskursen die Absicht zu Grunde, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Zentralstaat zu erschüttern und durch eine andere politische Loyalität zu ersetzen. So geraten nationalistische Bewegungen trotz ihrer antizentralistischen Protesthaltung paradoxerweise in die Abhängigkeit von eben diesem Zentrum.
Unabhängig von der Reichweite ihrer Zielsetzungen geht es ethnonationalistischen Bewegungen stets um die Gestaltung der Beziehungen der Minderheit zur Mehrheit. Ihre Diskurse verweisen in der Regel auf wahrgenommene Missstände und Entwicklungsdefizite in den betroffenen Gebieten und Regionen, geben dem Zentralstaat durch die Inszenierung einer "rhetorischen Feindschaft" einen erheblichen Teil der Schuld und sehen in der Zunahme eigener Kompetenzen die einzige Chance für langfristige Verbesserungen. Einen wichtigen Bestandteil ethnonationalistischer Diskurse machen Werte und Begriffe aus, mit denen die eigene "Besonderheit" illustriert und positiv hervorgehoben werden soll. Geeignet erscheinen insbesondere Merkmale der kollektiven Identität, die von den Betroffenen als besonders relevant eingeschätzt werden und sich besonders wirkungsvoll inszenieren lassen, so zum Beispiel eine eigene sprachliche Tradition, kulturelle Werte und nicht zuletzt auch die kollektive Erinnerung an in der Vergangenheit bestehende Rechte und Institutionen.
Begründen lässt sich die Existenz nationalistischer Bewegungen ganz allgemein zum einen mit dem Gefühl der Diskriminierung der von ihnen Vertretenen auf politischer, wirtschaftlicher oder gesellschaftlich-kultureller Ebene.
Anthony D. Smith unterscheidet sechs Zielsetzungen nationalistischer Bewegungen: Isolierung, Anpassung, Kommunalismus (der Versuch der Selbstbehauptung auf lokaler Ebene mit nur begrenztem Einfluss auf die politische Willensbildung), Autonomie, Separatismus und Irredentismus, d.h. das Streben nach Vereinigung mit dem Staat, in dem die eigene ethnische Gruppe die Mehrheit bildet.
Oft ist es kaum möglich, eine eindeutige Klassifikation nationalistischer Bewegungen anhand ihrer Zielsetzungen vorzunehmen. So können sich die Ziele im Laufe der Zeit verändern.
Allerdings können sich die Diskurse auch stetig verschärfen. Verschiedene Ursachen dafür sind denkbar: Erstens können die konsequente Missachtung ihrer Forderungen durch den Gesamtstaat, die Ablehnung von Verhandlungen sowie Diskriminierung oder Unterdrückung eine nationalistische Bewegung in die Radikalität drängen. Zweitens kann jedoch auch gerade die erfolgreiche Dezentralisierung in demokratischen, auf politischem Wettbewerb basierenden Systemen zu einer Verschärfung nationalistischer Strategien und Ziele führen. Diese auf den ersten Blick paradoxe Entwicklung ist dann zu erwarten, wenn Begriffe und Konzepte wie Autonomie oder Selbstbestimmung zum "Allgemeingut" geworden sind und nationalistische Parteien deshalb das Monopol über einst "ureigene" Themen einbüßen. Um sich auch weiterhin ein im politischen Wettbewerb auf Dauer unterscheidbares Profil zu sichern, sehen sie sich in der Folge oft dazu gezwungen, zu noch radikaleren Forderungen überzugehen. Nur wenn sie glaubhaft machen können, dass das bisher Erreichte nicht als Endzustand akzeptiert werden kann, ist das Überleben nationalistischer Bewegungen als "natürliche" Interessenvertretung der Nation bzw. Ethnie langfristig garantiert.
Ein derartiges Szenario zeigt sich beispielsweise im spanischen Baskenland. Dort war die gemäßigt nationalistische PNV (Partido Nacionalista Vasco, Baskisch-Nationalistische Partei) während des Systemwechsels Mitte der siebziger Jahre die Kraft, die besonders engagiert und erfolgreich für die Kompetenzverlagerung von Madrid in die Region eintrat, während insbesondere die konservativen nicht-nationalistischen Parteien Dezentralisierung und Autonomie ablehnten.
Die Ziele nationalistischer Bewegungen sind vage, unbestimmt oder auch widersprüchlich. Der Grund dafür mag darin liegen, dass sie verschiedene gesellschaftliche Gruppen "bedienen" müssen, vor allem, wenn sie nicht nur auf substaatlicher Ebene politisch aktiv sind, sondern auch an der Willensbildung des Gesamtstaates teilhaben. "Doppelzüngigkeit" ist insbesondere dann zu erwarten, wenn die erwünschte Kooperation mit dem Zentrum eine Mäßigung der Ziele verlangt, die eigene regionale Wählerschaft jedoch auf der Wahrung und Förderung der "Besonderheiten" und der spezifischen Interessen pocht. Je unbestimmter und vieldeutiger die Parolen sind, desto eher scheinen sie geeignet, zu mobilisieren und zugleich der nationalistischen Bewegung den notwendigen Handlungs- und Argumentationsspielraum für unterschiedliche politische und gesellschaftliche Konstellationen zu gewähren.
Im spanischen Baskenland beispielsweise kündigte die von der PNV geführte Regionalregierung über Jahre hinweg ein Referendum über die "Selbstbestimmung" (autodeterminación) an, weigerte sich jedoch lange, deren Inhalte zu präzisieren. Es scheint, als habe die PNV bewusst auf die Klarstellung der Frage verzichtet, ob Selbstbestimmung tatsächlich die Sezession des Baskenlandes vom spanischen Staat bedeutet. Zwar gab und gibt es in der PNV Anhänger dieser Forderung; ob sie allerdings mehrheitsfähig ist, muss bezweifelt werden.
Nationalistische Handlungen umfassen mehr oder weniger bewusste, automatisierte Strategien. Allerdings wird politisches Handeln auch durch strukturelle Gegebenheiten, zeitliche Zwänge und eine Reihe anderer politischer und sozioökonomischer Faktoren beeinflusst. Idealtypisch kann zwischen konstruktiven, bewahrenden bzw. rechtfertigenden sowie verändernden bzw. destruktiven Strategien unterschieden werden. In der Regel treten sie in "gemischter" Form auf. So wird zumeist gleichzeitig versucht, ein beschädigtes Selbstbild zu reparieren und zu stärken, bestimmte Forderungen und Verhaltensweisen zu rechtfertigen und den bestehenden Status quo zu verändern.
Nationalistische Bewegungen als Parteien
Nationalistische Bewegungen verfügen über unterschiedliche politische Reichweiten. Insgesamt sind ihre Möglichkeiten im Rahmen mehrheitsdemokratischer politischer Entscheidungsprozesse jedoch begrenzt. Außerparlamentarische, meist intellektuell geprägte Gruppen beschränken sich gezwungenermaßen auf die Beeinflussung des regionalen Meinungsklimas. Im Gesamtstaat gehen ihre Forderungen leicht verloren oder aber werden von anderen Kräften aufgegriffen und in deren Programmatik integriert. Ihre geringe Durchsetzungskraft kompensieren diese Bewegungen daher oft mit spektakulären Schwerpunktaktionen im regionalen oder gar lokalen Rahmen. Die Unzufriedenheit bestimmter Schichten, Sektoren oder Gruppen wird so als Folge der nicht vollends garantierten Lebens- und Funktionsfähigkeit der Region oder des lokalen Kontextes dargestellt. Nicht-parlamentarische nationalistische Bewegungen müssen versuchen, regionale Sonderinteressen so stimmig, überzeugend und plakativ wie möglich zu inszenieren und dadurch politischen Druck auszuüben. Nur so sind sie auch ohne institutionelle Verankerung unter Umständen in der Lage, zentrale Institutionen oder Akteure in deren politischem Handeln zu beeinflussen. Besondere Wirkungskraft ist dann zu erwarten, wenn es deutlich sichtbare, für den einzelnen Menschen leicht nachvollziehbare ethnische Spezifika gibt, mit denen sich Forderungen einerseits und Kritik andererseits begründen lassen. Zudem ist es günstig, wenn innerhalb der nationalistischen Bewegung ein gewisser Konsens über die Inhalte der Forderungen und insbesondere deren antizentralistische Stoßkraft herrscht.
In modernen, liberal-demokratischen Staaten versuchen nationalistische Bewegungen meist, als politische Parteien aufzutreten.
Interessant ist das Verhältnis zwischen nationalistischen und nicht-nationalistischen Parteien. Kommt es zwischen ihnen zur Zusammenarbeit, oder stehen sie sich in scharfer ideologischer Konfrontation gegenüber? Eine tiefe Kluft zwischen nationalistischen und nicht-nationalistischen Akteuren, zu der es umso eher kommt, je radikaler die Forderungen der Nationalisten sind, vermindert die Chancen zu Kooperation und zur Aushandlung von politischen Kompromissen. Darüber hinaus birgt die Gegenüberstellung von Nationalisten und Nicht-Nationalisten im Parteiensystem stets die Gefahr, sich auf die Gesellschaft zu übertragen und so auf Dauer das Zusammenleben der Menschen im Staatswesen zu erschweren.
Unabhängig von der Stärke und dem Erfolg formalisierter nationalistischer Parteien im staatlichen Institutionensystem werden diese kaum auf außerparlamentarische Strategien verzichten. Protestmärsche, Streiks oder symbolische Aktionen erscheinen auch deshalb notwendig, weil sich nationalistische Parteien bzw. Bewegungen stets als überparteiliche Vertreter aller Mitglieder der Nation bzw. Ethnie begreifen und somit auch dazu tendieren, "für alle" sprechen zu wollen. Dabei wird selten unterschieden zwischen denen, die sich tatsächlich vertreten lassen wollen und nationalistische Ziele befürworten, und denen, die keinen Dissens zwischen ihrer parallelen Zugehörigkeit zu einer substaatlichen Einheit und einem multiethnischen Staat sehen.
Insbesondere in Systemwechselprozessen stellt sich für nationalistische Bewegungen bereits früh die grundlegende Frage nach ihrer Bereitschaft, im neu entstehenden demokratischen System mitzuarbeiten. In größerem Ausmaß als in bereits vollständig institutionalisierten, stabilen politischen Systemen bieten sich beim Übergang eines Staates vom Autoritarismus zur Demokratie Handlungsspielräume für nationalistische Bewegungen und Parteien. Unter Umständen gelingt es ihnen, sich konstruktiv am Verfassungsgebungsprozess zu beteiligen. So können nationalistische Forderungen, Ziele und Werte Bestandteil des neuen demokratischen Staats-"Gerüstes" werden. Juan J. Linz weist zu Recht darauf hin, dass gerade die Befürwortung der Mitarbeit im neuen System zur Spaltung der nationalistischen Bewegung führen kann, da sich mutmaßlich auch Teile derselben für den Boykott der neuen Strukturen aussprechen. Am ehesten sei eine einheitliche nationalistische Bewegung dann zu erwarten, wenn keine Aussicht bestehe, künftig an der politischen Macht teilzuhaben.
Einfache Lösungen in schwierigen Zeiten
Die Wiederkehr des Nationalismus auch in Europa steht spätestens seit den neunziger Jahren außer Frage. Das enorme Potenzial nationalistischer Bewegungen ist vor allem in Situationen besonderer politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Unsicherheit keinesfalls gering zu schätzen. Es scheint, als ob das Bedürfnis an deutlich erkennbaren und leicht erklärbaren Gemeinsamkeiten in dem Ausmaß wächst, in dem Anonymisierungsprozesse das Leben in modernen Gesellschaften kennzeichnen. Insbesondere in Identitäts- und Legitimitätskrisen sind nationalistische Bewegungen geeignet, durch die Propagierung eines auf der Nation bzw. der Ethnie beruhenden Gemeinschafts- und Solidaritätsgefühls ein als schmerzlich empfundenes Ideen- und Wertevakuum zu füllen.
Die Stärke des Nationalismus liegt offenbar gerade in seiner inhaltlichen Unbestimmtheit und Wandlungsfähigkeit.
Nationalistische Bewegungen verfügen daher in politischen und gesellschaftlichen Krisen über einen erheblichen Mobilisierungsvorteil gegenüber anderen, "normalen" Parteien. Und bei ihnen handelt es sich um deutlich mehr als bloße Übergangsphänomene in Zeiten gesellschaftlicher Transformation. Vielmehr kann der demokratische politische Wettbewerb zur Zementierung des ethnonationalistischen Cleavages