Einleitung
Wie kaum eine andere Macht haben der Nationalismus und seine Begleiterscheinungen in den letzten Jahrhunderten die Geschichte der europäischen und auch der außereuropäischen Welt geprägt. Bis sich die Nation als oberste Legitimationsinstanz politischen Handelns durchgesetzt hatte, bedurfte es jedoch einer langen historischen Entwicklung.
Nach einer einführenden Definition des modernen Nationalismus wird diese Entwicklung in der deutschen Geschichte seit den Anfängen des mittelalterlichen "nationes"-Bewusstseins skizziert. Anschließend zeige ich, dass zwar bereits seit der Mitte des 18. Jahrhunderts alle wesentlichen Strukturmerkmale in den Kreisen der adlig-bürgerlichen Eliten zur Verfügung standen, sich das nationale Prinzip aber selbst in den Kriegen gegen Napoleon noch nicht in allen Bevölkerungsschichten durchsetzen konnte. Danach wird das Wechselspiel von Partizipation und Ausgrenzung als zentrales Kriterium des modernen Nationalismus bestimmt und diese Dialektik schließlich am Beispiel der nationalen Frauenbewegung im 19. und frühen 20. Jahrhundert dargestellt.
Was ist Nationalismus?
Mustert man die Literatur nach den Kriterien, die der Bestimmung des "modernen Nationalismus" zugrunde gelegt werden, kreisen die Definitionen trotz unterschiedlicher Akzentuierungen um ein zentrales Bündel von zwölf Merkmalen.
Aus kulturalistischer Sicht wird Nationalismus 1.als ein System gedachter Ordnungen verstanden, das geeignet ist, Menschen zu Gruppen zu integrieren. 2. Die Abgrenzung gegenüber "anderen" ist für den Nationalismus konstitutiv. Er ist eine Integrationsideologie, in der Inklusion und Exklusion einander bedingen. 3. Nationalismus beruft sich auf einen scheinbar überzeitlichen ethnischen Kern, den er jedoch selbst erst hervorbringt. Deswegen sind 4. nationale Mythologeme für seine Legitimation und Verbreitung von entscheidender Bedeutung. 5. Weiterhin ist die Konstruktion spezifischer Geschlechtsidentitäten dem Nationalismus inhärent.
Unter politischem Gesichtspunkt wird unter Nationalismus 6. ein säkulares Glaubenssystem verstanden, das als oberstes Legitimationsprinzip Anspruch auf Loyalität und Vorrang vor anderen Werten erhebt. Nationalismus bezieht sich 7. auf ein bestimmtes Territorium und tendiert dazu, die Grenzen von Nation und Staat zur Deckung zu bringen. 8. Zwischen Nationalismus und Krieg herrscht eine innige Wechselbeziehung. 9. Nationalismus enthält eine Teilhabeverheißung und greift damit über bestehende politische Ordnungen hinaus. Unter Berufung auf den Nationalismus lassen sich Partizipationsansprüche anmelden. 10. Daher vermag Nationalismus Menschen zum Handeln zu bewegen.
Sozialgeschichtlich gesehen werden 11. nationale Vorstellungen zunächst von einer bestimmten, sozial abgrenzbaren Trägerschicht mit spezifischen Interessen artikuliert. Später zeichnen sich diese Vorstellungen 12. durch eine hinreichende Verbreitung aus und lassen sich dauerhaft über einen längeren Zeitraum hinweg beobachten. Zu dieser Ausdehnung muss ein Mindestmaß an strukturellen Voraussetzungen vorliegen - etwa ein gemeinsamer Kommunikations- und Wirtschaftsraum oder übergreifende Institutionen.
Vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert
Nationale Vorstellungen im Sinne einer gedachten Ordnung, die, zentriert um eine gentile oder dynastische Herrschaft, an ein bestimmtes Territorium gebunden ist, eine projektierte Gemeinschaft integrieren soll, als gemeinschaftsbildende Faktoren auf Mythen zurückgreift und damit eine Ethnie erst hervorbringt, sind offenkundig die älteste Schicht des komplexen Phänomens "Nationalismus". Dieser Strang hat den Status einer notwendigen Bedingung und lässt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Nach gegenwärtigem Kenntnisstand diente das natio-Prinzip der Binnendifferenzierung innerhalb einer weiterhin christlich-universalistischen Grundordnung. Es war das Bewusstsein einer gemeinsamen Zugehörigkeit, die gleichwohl in andere Ordnungssysteme eingelassen war, also mit und neben anderen Zuordnungen existierte.
Wann genau dieses vieldeutige Modell von enger gefassten Vorstellungen abgelöst wurde, ist unter Mediävisten und Frühneuzeithistorikern umstritten.
Gleichzeitig lässt sich erstmals der Appell an eine "deutsche Nation" als Instrument der politischen Propaganda in Krisen- oder Kriegssituationen nachweisen. Das galt vor allem im Zusammenhang mit den Türkenkriegen. Hier wurde zwar auch "pro Christo" gefochten, gleichzeitig aber nicht Christ und "Muselman", sondern "deutsch" versus "türkisch" zu den entscheidenden Oppositionsbegriffen formiert und der Krieg somit nationalisiert.
Ebenfalls in den Jahrzehnten um 1500 nahmen die Humanisten im Rahmen eines intellektuellen Elitendiskurses eine "Historisierung des Eigenbewusstseins"
Im weiteren Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts verschwand der Nationaldiskurs nicht, aber die nationale Zuordnungen traten hinter Prozessen der Territorialisierung und Konfessionalisierung zurück. Weiterhin markierte "deutsch" zunächst vor allem einen Abgrenzungsbegriff gegenüber den "Welschen" und den Osmanen. Im Schmalkaldischen und im Dreißigjährigen Krieg verband die evangelische Seite gezielt konfessionelle Politik mit der Beschwörung einer deutschen Abstammungsgemeinschaft. Trotz dieser instrumentellen Nationalisierung blieb jedoch die Konfliktkonstellation weiterhin religiös dominiert.
Dagegen wurden nationale Vorstellungen seit dem frühen 17. Jahrhundert in den Sprachgesellschaften und Tugendbünden gepflegt, die sich im Umkreis der Landesherrschaften entwickelten und vorwiegend von adligen und bürgerlichen Hofbeamten besucht wurden. Sie formulierten einen Tugendkanon, der sowohl die patriotische Verbesserung des jeweiligen Lebensumfeldes als auch die moralische Ausgestaltung einer deutschen Nationalkultur im deutschen Sprachraum umfasste. Mit diesen Vorstellungen war ein Superioritätsanspruch gegenüber anderen Sprachgemeinschaften verbunden. Als gesellige Vereinigungen griffen diese Assoziationen über den bisher verbalen Nationendiskurs hinaus. Aber ihr Nationalismus beschränkte sich auf kleine, überwiegend protestantische Zirkel, und selbst dort bewahrte bis weit in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts die Religion ihre primäre Zuständigkeit für den Sinnhorizont und die Handlungsmotive der Menschen.
Die allmähliche Überwindung der Spaltungen des Dreißigjährigen Krieges und das Ende der türkischen Bedrohung Mitteleuropas ließen die Notwendigkeit einer zwar reichsnational begriffenen, aber von christlichen Vorstellungen dominierten konfessionellen Allianz gegen einen religiös-ethnischen "Erbfeind" verschwinden. An die Stelle der Türkenkriege rückte die Bedrohung des Reiches durch die Eroberungszüge Ludwigs XIV. und im Spanischen Erbfolgekrieg. Der christlich-muslimische Gegensatz wurde von der Frontstellung des habsburgisch dominierten Reiches gegen das ebenfalls katholische Frankreich abgelöst. Gleichzeitig beschränkte die Aufklärung die Wirkungsmächtigkeit christlicher Loyalitätsbeziehungen unter den Gebildeten und legte damit den Grundstein für eine allmähliche Sakralisierung des Nationalen. Die Appelle an die nationale Solidarität während der Kriege gegen Ludwig XIV. griffen vielfach auf publizistische Vorbilder aus dem Dreißigjährigen Krieg zurück und aktualisierten sie für den gegenwärtigen Bedarf. Auch im Spanischen Erbfolgekrieg betrieb der österreichische Hof eine intensive nationale Agitation.
Freilich stellte der habsburgische Kaiser in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehr und mehr dynastische Eigeninteressen in den Vordergrund. Auch das Fehlen eines äußeren Feindes begünstigte zeitweilig ein eher dynastisches denn nationales Reichsverständnis. Der gelehrte Stand richtete seine Loyalität, aber auch seine Ansprüche zunehmend an den aufstrebenden Fürstenresidenzen aus und entwickelte allmählich jene "Patriotismus" genannte moralisch-politische Haltung, die sich in einem für das Deutsche Reich charakteristischen Föderalismus sowohl auf die übergeordnete Einheit des Reiches als auch auf den jeweiligen Territorialstaat beziehen konnte. Im Zuge des Ausbaus der Landesherrschaften zu modernen Staaten war damit jedoch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem das regionale Umfeld des Patrioten gemeint.
Nationale Sattelzeit
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzten - unter Weiterführung bereits vorhandener In- und Exklusionsmechanismen - neue Entwicklungen ein, die es rechtfertigen, von einer "nationalen Sattelzeit" zu sprechen und hier die Entstehungsphase des "modernen" Nationalismus zu sehen.
Im Kontext der österreichischen Erbfolgekriege wurde erneut der Arminius-Mythos aufgegriffen.
In den Arminius-Dramen kündigte sich zugleich ein Strukturprinzip an, das für den "modernen" Nationalismus konstitutiv war und ihn grundlegend von älteren Formen des nationalen Bewusstseins unterschied: die Koppelung von Tod und Vaterlandsliebe, die ultimative Aufforderung an jeden Mann, sein Leben auf dem "Altar" des Vaterlandes zu lassen. Im politischen Wertesystem des modernen Nationalismus ging damit die Gleichheit im Tode der politischen Egalität voran. Erst die willige Inkaufnahme der eigenen physischen Vernichtung begründete ein Anrecht auf Aufgehobensein in der nationalen Gemeinschaft, aus dem infolge der partizipativen Impulse der Patriotismusdiskussion das Recht auf Mitgestaltung abgeleitet wurde. Aus dem Martyrium in der Nachfolge Christi wurde der Opfertod fürs Vaterland, mit dem man(n) sich zwar keinen Platz im Himmel, wohl aber die Aufnahme in das Pantheon der Nation erwerben konnte. Religiöse Erlösungshoffnungen und Ewigkeitsphantasien wurden auf das "politische Kollektiv" übertragen.
Standen publizistische Aufrufe zum "Tod für das Vaterland" noch im Kontext des Siebenjährigen Krieges zwischen Österreich und Preußen, enthob die Mitte der 1760er Jahre einsetzende Debatte um deutschen "Nationalgeist", "Nationalstolz" und die "Vaterlandsliebe" den Vaterlandsdiskurs erstmals dem Dunstkreis der Kriegspropaganda. Nachdem die Kriegsjahre die Konkurrenz ganz unterschiedlicher "Vaterländer" offenbart hatten, begann nun die theoretische Auseinandersetzung der Gelehrten um ein präziseres Verständnis der Begriffe "Vaterland", "Patriotismus" und "Nation". Intensiv wurde über die Verfassung des Alten Reiches debattiert, und es wurden Verbesserungsvorschläge eingebracht - ein deutlich partizipatorisches Element.
Nur wenig später hatte das "Deutsche" Konjunktur. Dichter und Publizisten gründeten seit den 1770er Jahren "deutsche" Zeitschriften, schlossen sich zu Bünden zusammen und träumten von der "Gelehrtenrepublik" - einer Nation, gebildet aus der Gemeinschaft des lesenden Publikums. Sie imaginierten sich als Nationalerzieher, nobilitierten den Volksbegriff und banden die Deutschsprechenden an eine unentrinnbare Sprach- und Kulturgemeinschaft mit gemeinsamem "Nationalcharakter".
In den Frauenzeitschriften der Spätaufklärung schaltete sich auch die gebildete Weiblichkeit in die Debatte ein. Gegenüber den Vorurteilen ihrer männlichen Kollegen forderten die Publizistinnen die Beteiligung von Frauen an der nationalpatriotischen Bewegung und entwickelten gleichzeitig ein als "deutsch" apostrophiertes Weiblichkeitsideal, das sich in scharfer Abgrenzung gegen Frankreich um die bürgerlichen Tugenden der Mäßigung, Ernsthaftigkeit und Innerlichkeit zentrierte. Nationalcharakter und Geschlechtscharakter gingen eine enge Verbindung ein.
Am Ende des 18. Jahrhunderts waren bereits alle Faktoren vorhanden, die in der neueren Forschung als konstitutiv für den modernen Nationalismus angesehen werden: die Vorstellung einer spezifischen Identität aller Deutschen als Abstammungsgemeinschaft mit gemeinsamer Kultur und Sprache, einem geteilten - auf bürgerlich-geschlechtsspezifischen Tugenden beruhenden - Wertesystem und einer gemeinsamen Geschichte, die in Mythen beschworen werden konnte; die Entwicklung dieser nationalen Identität in kriegerischer wie kultureller Abgrenzung zu anderen Sozialkollektiven, insbesondere gegenüber dem als hegemonial betrachteten Frankreich; der Versuch der Übertragung emotionaler Bindungen auf das Kollektiv; die Sakralisierung des "Vaterlands" als oberste Legitimationsinstanz einschließlich der Forderung, das eigene Leben dafür zu opfern; eine geschlechtsspezifische Formulierung der Loyalitätspflicht gegenüber der Nation; die Existenz einer sozialen Trägergruppe, die solche Vorstellungen nicht nur artikulierte, sondern auch über die kommunikative Infrastruktur zur Herstellung eines nationalen Diskurses verfügte; die Diskussion über die politische Ausgestaltung eines Gemeinwesens, das die Herrschergewalt des Fürsten einschränken und an gesetzförmige Regelungen binden sollte; die Erprobung der Wirkung politischer Propaganda im Krieg, in der nationale Feindbilder an die Seite und zunehmend auch an die Stelle konfessioneller Mobilisierung traten. All diesen Faktoren standen neben den Beschränkungen des bürgerlichen Elitediskurses nur noch zwei wesentliche Hindernisse entgegen: der mit konfessionellen Spannungen verknüpfte preußisch-österreichische Dualismus und die Schwierigkeiten, die von der Traditionsform des Reiches mit unzähligen souveränen Fürsten ausgingen.
Um Bewegung in die dynastischen Eigeninteressen zu bringen, bedurfte es eines gemeinsamen äußeren Feindes, der in Gestalt der Französischen Revolution und der napoleonischen Expansion erstand. Bis die beiden deutschen Großmächte dauerhaft zu einer gemeinsamen Politik fanden, sollten nach Beginn der französischen Expansion allerdings noch zwanzig Jahre vergehen. In der Zwischenzeit zielten patriotische Hoffnungen nicht ausschließlich auf die geeinte Nation, sondern konnten sich auch - solange es noch bestand - auf das Reich unter habsburgischer Führung und später auf den Rheinbund richten.
Allerdings wäre es unzulässig, vom Bemühen um die Popularisierung dieser Vorstellungen schon gleich auf deren Erfolg zu schließen. Wenn in Preußen Freiwillige ins Militär eintraten und die Daheimgebliebenen ihr Scherflein auf dem "Altar des Vaterlandes" niederlegten, richteten sich diese Aktivitäten auf den preußischen Einzelstaat und nicht auf die deutsche Nation. Der nationale Impetus der Bildungseliten ging an der breiten Bevölkerung auch 1813 noch vielfach vorbei. Auch wenn die meisten Menschen am Ende einer mehr als zwanzigjährigen Kriegs- und Krisenzeit den Frieden und damit den Sturz der napoleonischen Herrschaft herbeisehnten, war ihre Loyalität immer noch weniger auf eine gemeinsame deutsche Nation als auf ihre Heimatregion gerichtet. Immerhin existierte jetzt ein gemeinsamer äußerer Feind, der die Abgrenzung zwischen "In-" und "Out-group" erleichterte. Die Gedichte, die zum Hass gegen Frankreich aufriefen, waren Legion, und nicht umsonst wurde nun die alte Erbfeind-Terminologie auf Frankreich angewandt, um damit das Echo der Türkenkriege zu evozieren.
Krieg, Partizipation und Ausgrenzung
Führt man sich die Geschichte des deutschen Nationalismus von den Anfängen bis zur Ausformulierung des nationalen Paradigmas in der "Sattelzeit" um 1800 vor Augen, so zeigen sich drei Prämissen, über die auch in der Forschung Einigkeit besteht.
Zum einen scheint sicher, dass es sein Gleichheits- und Partizipationsversprechen war, das dem Nationalismus in Deutschland wie anderswo zu seinem einzigartigen Aufstieg verhalf. Zum zweiten erfuhren nationale Vorstellungen in Kriegszeiten die größte Verbreitung. Drittens ging der Anspruch auf Mitwirkung im Innern mit der Abgrenzung gegenüber allen einher, die nicht der nationalen Gemeinschaft zugerechnet wurden. Ausgrenzung fungierte als Bestandteil der Selbstkonstitution. Diese Grenzziehung implizierte in aller Regel Aggressivität - entweder gegenüber einem äußeren Gegner oder gegen einen hypostasierten "Feind" im Innern.
Welche dieser ambivalenten Tendenzen zwischen "Partizipation und Aggression"
Frauen und Nation
Anknüpfend an die literarische Diskussion um weibliche Handlungsformen zum Wohl des Vaterlands in den Frauenzeitschriften der Spätaufklärung formierten sich in den antinapoleonischen Kriegen vor allem in Preußen und im Rheinland Frauenvereine, die sich durch ihre nationalpolitische Ausrichtung von früheren weiblichen Organisationsversuchen unterschieden.
Gleichzeitig diente die Legitimationskraft der Nation aber auch dazu, im Namen der Nation die Beteiligung des weiblichen Geschlechts an der politischen Diskussion einzufordern. Wie ihre Vorgängerinnen in der Spätaufklärung hatte Rahel Varnhagen 1807 das als "heilig" postulierte Recht jeden Volkes auf politisch-nationale Selbstbestimmung zur Rechtfertigung des öffentlichen Auftretens von Frauen genutzt.
In den Jahren der Reichseinigung trug der "Allgemeine deutsche Frauenverein" durch "vaterländische" Vorträge und Lazarettdienst im Krieg zur inneren Nationsbildung bei. Analog zur männlichen Trias von Wehrpflicht, Wahlrecht und Patriotismus leitete seine Gründerin Louise Otto von weiblichem Engagement und Opferbereitschaft fürs Vaterland das Recht auf politische Ebenbürtigkeit ab.
Im wilhelminischen Kaiserreich stilisierten die Verfechterinnen des Deutschtums in Flotten-, Kolonial- und Auslandsvereinen Frauen zu "Hüterinnen deutscher Art und Sitte", die mit kultureller Hegemonie die imperialistische Macht der Männer in den eroberten Kolonien und deutschen Siedlungsgebieten absichern sollten. Politische Brisanz wuchs diesem Kulturimperialismus besonders an den Ostgrenzen des Kaiserreichs zu, wo die polnische Volksgruppe auf die ethnische Unterdrückungspolitik der Regierung mit Streiks zur Durchsetzung kultureller Selbstbestimmung reagierte. Völkische Frauen betrachteten sich unter Rückgriff auf das "germanische Weib" als "Arbeits- und Kampfgenossin des Mannes", dazu ausersehen, bei der "Pflege des deutsche(n) Sippen- und Rassenempfindens" zu helfen. Allmählich kamen die Funktionäre der völkischen und nationalistischen Vereine nicht mehr umhin, bei aller öffentlichen "Die-Frau-gehört-ins-Haus"-Rhetorik dem Beitrag der Frauengruppen zur Verbreitung ihrer politischen Vorstellungen Tribut zu zollen. Im Verlauf des Ersten Weltkriegs nahmen etliche dieser Organisationen Frauen als gleichberechtigte Mitglieder auf. Die chauvinistische Vaterlandspartei schließlich, 1917 gegründet, mochte von Anfang an nicht auf die Mitarbeit weiblicher Gleichgesinnter verzichten.
Wie wirksam das nationale Paradigma war, zeigte sich daran, dass es sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg selbst in Gruppen durchzusetzen begann, denen das Stigma des "inneren Reichsfeindes" anhaftete: bei den Katholikinnen und unter den Anhängerinnen der Sozialdemokratie. Der katholische Frauenbund gedachte in Dankbarkeit der Reichsgründung, warb für Aufrüstung und arbeitete eng mit kolonialen Frauenvereinen zusammen. Im Ersten Weltkrieg schlossen sich dann auch sozialdemokratische Frauenvereine den lokalen Organisationen des Nationalen Frauendienstes an und probten unter dem Druck außenpolitischer Ereignisse den Schulterschluss zum Wohl des Vaterlands.
Sozialistische, bürgerlich-gemäßigte und radikale Frauenrechtlerinnen arbeiteten im Ersten Weltkrieg erstmals Hand in Hand, und dass - anders als noch vor dem Krieg - im Frühjahr 1918 die deutschen Frauenvereine fast ausnahmslos die Wahlrechtsforderung unterstützten, lag in der Konsequenz eines Modells, das nationale Einsatzbereitschaft mit Mitbestimmung zu honorieren versprach. Indem Frauen Politik als angewandte Vaterlandsliebe definierten, legitimierten sie damit öffentliches Auftreten und politisches Engagement. Nationalismus fungierte so als Emanzipationsstrategie nach innen bei Abgrenzung nach außen. Früher oder später, so darf angenommen werden, wäre es daher auch ohne die Revolution von 1918/19 zur Durchsetzung des Frauenwahlrechts gekommen.