Einleitung
Das Thema Europa geistert durch die Medien meist in Form von moralischen Appellen zur überfälligen Überwindung des Nationalstaats.
Die Europäische Union (EU) hat die Strategie einer Legitimation von Integration durch Stiftung eines gemeinsamen Geschichtsbildes bisher kaum berücksichtigt. Zwar handelten die Gründungsväter aus dem expliziten Wunsch, die Wiederholung der historischen Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Schaffung von Gemeinsamkeiten jenseits des Nationalstaats zu verhindern.
Auch die Subdisziplin der Zeitgeschichte ist denkbar schlecht dafür gerüstet, die Erarbeitung eines europäischen Geschichtsbildes in Angriff zu nehmen, da sie noch immer primär nationalhistorisch ausgerichtet ist. Grundsätzliche Überlegungen zu ihrer Entwicklung und Periodisierung von Hans-Günter Hockerts und anderen sind hauptsächlich auf die Aufarbeitung der NS-Diktatur sowie das langsame Entstehen einer eigenständigen Nachkriegsgeschichte fokussiert.
Wie sollen Zeithistoriker mit der Treitschke-Versuchung umgehen, den Integrationsprozess durch die Konstruktion einer europäischen Meistererzählung zu rechtfertigen? Der Kölner Historiker Jürgen Elwert beantwortet diese Frage eindeutig positiv: "So wie die Nationalhistorie des 19. Jahrhunderts wesentliche Teile des Stoffes geliefert hatte, aus der die nationalen Identitäten gemacht wurden, muss eine moderne europäische Geschichtsforschung dazu beitragen, den europäischen Integrationsprozess flankierend-argumentativ zu unterstützen."
Defizite eines europäischen Geschichtsbewusstseins
Auch wenn europäische Schulbücher ein halbes Dutzend gleicher Bilder zur Illustration von dramatischen Momenten der Geschichte verwenden - ein gemeinsames "europäisches Geschichtsbild" belegen solche Überlappungen nicht. Susanne Popp hat in einer verdienstvollen Untersuchung festgestellt, dass etwa Davids Tuschezeichnung des Ballhausschwurs oder Goyas Ölbild der Erschießung der rebellierenden Madrilenen in vielen Lehrbüchern auftauchen, aber die 15 häufigsten Repräsentationen zu einem "Kanon" zu erklären, ist, gelinde gesagt, eine Überinterpretation.
Die Millionen von Touristen, die in den europäischen Hauptstädten in Kirchen, Schlösser und Museen pilgern, begegnen meist einer nationalen Verherrlichung der Vergangenheit, obwohl die bestaunten Artefakte oft das Produkt prä- oder transnationaler Beziehungen sind. So sind viele der herrlichen Kunstwerke in Prag während des Vielvölkerstaats der Habsburger entstanden, der Künstler aus Italien, Frankreich und Deutschland anzog, um repräsentative Gebäude auszuschmücken. Auch wenn die Herkunft der Schöpfer erwähnt wird, werden ihre Werke doch in ein Narrativ tschechischer Nationswerdung eingebettet, das europäische Bezüge zugunsten der Betonung des Nationalstaats weitgehend unterschlägt. Statt als europäische Stadt stellt sich Prag in populären Broschüren als Hauptstadt Tschechiens dar - zutreffend für die Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert, aber irreführend für die Epochen davor, die von anderen dynastischen, kirchlichen und ständischen Traditionen geprägt sind.
Der Eklat auf der jüngsten Leipziger Buchmesse über die Gleichsetzung von Hitlers und Stalins Verbrechen zeigte, wie weit Ost- und Westeuropäer von einer "gemeinsamen Erinnerungskultur" entfernt sind. Als die lettische EU-Kommissarin Sandra Kalniete behauptete, "die beiden Totalitarismen - Nazismus und Kommunismus - waren gleichermaßen verbrecherisch", verließ Salomon Korn, Mitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland, demonstrativ den Saal, weil er die Behauptung als Affront empfand.
Auch die Ausstellung des Deutschen Historischen Museums über "Die Idee Europas" im vergangenen Jahr zeigte, wie schwierig die musealische Repräsentation eines europäischen Geschichtsbildes ist. Die Plastiken und Malereien mögen den"Europa-Mythos" anschaulich repräsentieren, jedoch werfen schon die alten Landkarten das Problem der Abgrenzung des Kontinents auf. Zwar lassen sich Gemeinsamkeiten wie die Glaubenseinheit im römischen Christentum oder die politischen Einigungsversuche im Kaisertum graphisch illustrieren, aber die Entwicklung von Souveränität belegt eher das Ausmaß territorialer Zersplitterung. Die Geschichte des Aufstiegs der Nationalstaaten weist auf die Desintegration des Kontinents, während gegenläufige Entwürfe von Ordnungen eines "ewigen Friedens" eher Hoffnungen auf Pazifizierung der ganzen damaligen Welt belegen. Die im letzten Ausstellungsraum vorgestellten Artefakte des Einigungswillens sind Zeugnisse einer allzu knappen Gegenreaktion auf Jahrhunderte der Zwietracht und des Krieges.
Erste These: Ein gemeinsames europäisches Geschichtsbewusstsein ist bestenfalls in ersten Ansätzen vorhanden.
Paradoxe von Forschung ohne Resonanz
Ein kurzer Überblick der wissenschaftlichen Bemühungen um das Europathema ergibt ein widersprüchliches Bild intensiver Bemühungen und fehlender Resonanz. Leitdisziplin ist die Politikwissenschaft, die schon Ende der fünfziger Jahre mit Forschern wie Ernst B. Haas eine europäische Integrationsforschung entwickelt hat.
Im Bereich der Geschichte bemühen sich vor allem Schulbuchautoren, durch den Abbau von nationalen Stereotypen zu einem europaverträglicheren Geschichtsbild zu gelangen. Schon in den fünfziger Jahren rang eine deutsch-französische Schulbuchkommission um die Formulierung einer gemeinsamen Erklärung zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die vom Verdikt des Versailler Vertrages abrückte.
Auch Fachhistoriker haben dem Europathema Aufmerksamkeit gewidmet, ohne aber die Mehrheit ihrer Kollegen dafür begeistern zu können. Einige Verlage haben Buchreihen wie "Europa bauen" aufgelegt, und der Beck-Verlag hat eine polyglotte Zeitschrift mit dem nicht ganz originellen Titel "Journal of Modern European History" gegründet.
In der Teildisziplin Zeitgeschichte ist die Lage noch problematischer, da ihre Entstehung eng mit der Verarbeitung der ideologischen Diktaturen im 20. Jahrhundert zusammenhängt, die erhebliche Disparitäten in Entwicklung und Thematik hervorgebracht hat. Während in den postfaschistischen Demokratien Zeitgeschichte als Reaktion auf die eigene Vergangenheit entstand, ging es bei den westeuropäischen Ländern eher um den Zweiten Weltkrieg und die NS-Repression; in Ostmitteleuropa hingegen steckt die Aufarbeitung des Kommunismus noch in den Anfängen. Daher sind die Periodisierungen disparat, die in Mitteleuropa meist mit dem Ersten Weltkrieg beginnen, in Frankreich aber schon mit der Revolution von 1789 einsetzen, während sie sich in Osteuropa eher auf die Zeit nach 1945 beziehen.
Zweite These: Die wissenschaftliche Forschung zeigt eine paradoxe Diskrepanz zwischen intensiver Arbeit in einigen Bereichen und Defiziten in anderen wie der Zeitgeschichte sowie zwischen hoher politischer Aufmerksamkeit und enttäuschender öffentlicher Resonanz.
Ungelöste inhaltliche Probleme
Eine der Hauptursachen für das verbreitete Desinteresse sind ungelöste inhaltliche Fragen, mit denen sich jede Konzipierung einer europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert auseinandersetzen muss. Ein Blick in ein halbes Dutzend neuer amerikanischer Lehrbücher deckt die neuralgischen Punkte auf. Die erste Schwierigkeit ist die Unbestimmtheit der Grenzen Europas, von denen eine positive Beurteilung seiner "Wiedergeburt" oder eine negative Einschätzung des "dunklen Kontinents" abhängt.
Ein zweiter Problemkomplex betrifft den von unterschiedlichen methodischen Perspektiven gesponnenen thematischen Faden oder in postmoderner Terminologie die Metanarrative, die eine Darstellung interpretatorisch zusammenhält. Reicht es, wie in Handbüchern eine Geschichte der internationalen Beziehungen, der Kriege und Friedensschlüsse vorzulegen, die durch länderspezifische Kapitel zur Innenpolitik komplettiert wird?
Ein dritter umstrittener Bereich ist die reale oder wahrgenommene Beziehung Europas zur Außenwelt, da sich das Klischee der "Einheit in der Vielfalt" nur durch den Kontrast mit der Alterität des Anderen erschließen lässt. Meist wird die postkoloniale Dekonstruktion des Eurozentrismus, welche die Leiden des von Europa vorangetriebenen Imperialismus betont, in Überblicksdarstellungen ignoriert, da sie das positive Selbstbild der kulturellen Überlegenheit Westeuropas verdunkeln würde. Verschwammen nicht in der Sicht der Kolonialvölker die sonst so stark betonten nationalen Unterschiede, so dass die Weißen nur als "Europäer" wahrgenommen wurden?
Ein letzter, aber wichtiger Streitpunkt ist die Frage der Grundwerte Europas, die den gemeinsamen Kern dieser faustischen Zivilisation ausmachen. Auch wenn die judäo-christliche Herkunft europäischer Moralbegriffe generell unbestritten ist, widerlegt die Reformation Vorstellungen von katholischer Einheit des Abendlandes - von der fatalen Beimischung des in beiden Konfessionen enthaltenen Antisemitismus ganz zu schweigen.
Dritte These: Ein wichtiger Grund für die historische Amnesie Europas ist die Ungelöstheit einer Reihe von grundlegenden Interpretationsfragen der europäischen Entwicklung im 20. Jahrhundert.
Ansätze zu einer kritischen Europageschichte
Wie könnte eine kritische Zeitgeschichte Europas jenseits der affirmativen Rhetorik von Sonntagsreden aussehen? Erstens erscheint es notwendig, Europa als Terrain konfligierender Erinnerungen zu verstehen, die sich nicht magisch zu einem einheitlichen Geschichtsbild zusammenfügen lassen. Während sich Pierre Noras Ansatz der französischen lieux de memoire mutatis mutandis noch auf Deutschland übertragen ließ, ist der Versuch, ihn auf Europa auszuweiten, kläglich gescheitert, weil die nationalen Erinnerungskulturen zu disparat sind.
Zweitens wird es notwendig sein, Europa nicht als harmonischen Kontinent, sondern als blutigen Konfliktraum zu betrachten, also seine fast permanente Zwietracht endlich ernst zu nehmen. Religionsstreitigkeiten, Klassenkämpfe, Nationalitätenkonflikte, ethnische Säuberungen, Weltkriege und Genozide sind keine punktuelle Ausnahme, sondern eine zentrale Linie europäischer Entwicklung. Sie haben in den Ruinen der Städte, den Verwüstungen der Landschaften, den ubiquitären Soldatenfriedhöfen und den privaten Fotoalben auf dem ganzen Kontinent ihre Schreckensspuren hinterlassen, die nur eine naiv fortschrittsgläubige Betrachtungsweise leugnen könnte. Zweifellos haben dabei, wie etwa die Aktivitäten der Kriegsgräberfürsorge demonstrieren, die Deutschen als Aggressoren und Unterdrücker eine zentrale Rolle gespielt, aber auch andere Europäer haben weit von ihren Heimatorten entfernt als Täter oder Opfer gehandelt. Die vorherrschende Perspektive nationaler Betroffenheit sollte zu einer breiteren Sicht der europäischen Interaktionen erweitert werden.
Drittens gibt es glücklicherweise auch eine positivere Vergangenheit von transnationalen Transaktionen, die es stärker zu erkunden gilt. Auch wenn sich das europäische Konzert nicht als dauerhaft erwies und politische Initiativen wie die Haager Landkriegsordnung die Konflikte nur kanalisieren konnten, waren in Bereichen wie der Wissenschaft die internationalen Verbindungen viel enger. Ausstellungsprojekte, die um Hauptstädte wie Paris, Berlin und Moskau kreisen, demonstrieren, dass die kulturelle Avantgarde in regem Austausch miteinander lebte, so dass sich Künstler wie Kandinsky nur schwer einem nationalen Kontext zuordnen lassen.
Viertens ist es unumgänglich, anhand der EU den spannenden Prozess der Entstehung eines neuen politischen Akteurs zu erforschen, um Chancen und Risiken dieser Staatenbildung besser einzuschätzen. Dabei kann auf eine eindrucksvolle ideengeschichtliche Literatur zurückgegriffen werden, welche die Entwicklung der verschiedenen Europakonzeptionen dokumentiert.
Vierte These: Als Alternative zur Integrationsrhetorik ist die Entwicklung einer kritischen Europageschichte notwendig, die negative Aspekte wie Differenzen der Erinnerung und blutige Konflikte genauso ernst nimmt wie positive Seiten von Transaktionen und Integrationsprozessen.
Methodische Umsetzung
Da essentialistische Versuche der Konzipierung einer einheitlichen Geschichte Europas immer wieder gescheitert sind, ist es an der Zeit, sich der Vielfalt von europäischen Geschichten zu öffnen. Die Überwölbung von disparaten Nationalgeschichten bleibt ebenso unbefriedigend wie dieteleologische Betonung des "aufklärerische(n) und liberal-demokratische(n) Erbe Europas" oder das Bemühen der Retroprojizierung von Integrationsversuchen in die Periode vor 1945. Gerade weil Erkenntnisinteressen, Wertbezüge und nationale Perspektiven drastisch variieren, ist "die Pluralität der interpretatorischen Ansätze zur europäischen Geschichte gänzlich unvermeidlich". Um nicht in Beliebigkeit zu enden, muss ein solch konstruktivistischer Ansatz auf die Identifizierung der spezifisch europäischen Dimension multipler Entwicklungen zielen. Nach Hannes Siegrist geht es "nicht um Homogenisierung oder gar Harmonisierung der europäischen Geschichte, sondern um Kohärenzbildung und Relationierung von Geschichten, die Europäer gemacht haben".
Ein Königsweg, der es erlaubt, gemeinsame Tendenzen wie individuelle Unterschiede analytisch zu fassen, ist der systematische Vergleich zwischen nationalen, regionalen und lokalen Entwicklungen. Allerdings ist es notwendig, quantitative Indikatorenvergleiche kulturell zu hinterfragen, um der Gefahr ihrer Oberflächlichkeit zu entgehen. Statt Europa normativ zu setzen, könnten empirische Kontrastierungen mit anderen Kontinenten Ähnlichkeiten europäischer Eigenschaften über die nationalen Ausprägungen hinweg identifizieren. Heinz-Gerhard Haupt plädiert für eine kulturelle Erweiterung des sozialwissenschaftlichen Ansatzes zu "diskurs- und ideengeschichtliche(n) Vergleiche(n)". Dadurch wird Europa "aus einer fixen Größe zu einem variablen Ensemble von Zuschreibungen, die sich je nach Interessenlage, Autoren und Konjunktur verändern".
Eine weitere Perspektive, die stärker auf Beziehungen abhebt, ist die "transnationale Geschichte". In seiner Antrittsvorlesung bezieht Kiran Klaus Patel den Begriff auf "Abhängigkeiten und Transfers über (nationale) Grenzen hinweg sowie für die wechselseitigen Wahrnehmungen" und schließlich auf "Formen der Verflechtung", d.h. auch auf strukturelle Verbindungen unterhalb des Nationalstaates und über ihn hinaus. Ein solches Erkenntnisinteresse durchbricht nationalgeschichtliche Mauern, aber im Gegensatz zur internationalen Geschichte zwischen Staaten richtet es sich eher auf soziale Prozesse. Die sich daraus ergebende Thematisierung der Raumvorstellungen, Transferprozesse und Transaktionen könnte sich für eine Analyse der wechselnden Identitätsbilder und Zusammenhänge quer durch Europa als außerordentlich fruchtbar erweisen. Statt eine neue Geschichtsteleologie zu etablieren, "könnte der Ausgangspunkt einer transnationalen Perspektive auf die europäische Einigung die Frage sein, was zu verschiedenen Zeiten überhaupt unter 'Europa' verstanden wurde".
Ein letzter Ansatz könnte eine selbstreflexive Historiographiegeschichte sein, die den Zusammenhang zwischen politischem Anliegen, methodischem Vorgehen und interpretativen Schlussfolgerungen der Historiker zum Thema macht. Ein vergleichendes Nachdenken über die Wirkung von Geschichtsbildern in der Nationswerdung europäischer Staaten hat auf die zentrale Rolle der Historiker als Konstrukteure einer "imaginierten Gemeinschaft" hingewiesen. Auch die Gleichzeitigkeit der wissenschaftlichen Professionalisierung mit der selbst gewählten Prophetenrolle ist über nationale Grenzen hinweg belegt worden.
Fünfte These: Ein konstruktivistisches Geschichtsverständnis verlangt die Pluralisierung von Europavorstellungen sowie die Anwendung von Methoden des Vergleichs, der transnationalen Geschichte und der historiographischen Selbstreflexion.
Herausforderungen der Europäisierung
Ziel dieser Überlegungen zum europäischen Erinnerungsdefizit ist es, eine Diskussion über das Geschichtsbild Europas anzuregen. Dabei ist Stephan Martens' Warnung aus Anlass der EU-Osterweiterung zu beherzigen: "Phantastische Visionen und ahistorisches Denken der politischen Elite, insbesondere der deutsch-französischen, sollten Europas Zukunft nicht aufs Spiel setzen." Der technokratische Pragmatismus der Europapolitiker und der Brüsseler Bürokraten, der hauptsächlich um die Lösung gegenwärtiger Integrationsprobleme ringt, greift zu kurz, denn er vernachlässigt die auf gegensätzlichen historischen Selbstbildern aufbauenden Identitätsvorstellungen der Mitgliedernationen. Dafür sind die aus zwei Weltkriegen und dem verlorenen Weltreich stammenden Ressentiments der Briten gegen ein Engagement auf dem Kontinent ein schlagendes Beispiel, denn das angekündigte Referendum könnte das ganze Verfassungsprojekt gefährden. Die von Hubert Markl vorgeschlagene "Kultur des Vergessens" ist ebenso problematisch, weil sie eine Auseinandersetzung mit der Geschichte verhindert.
Voraussetzung für die diskursive Erarbeitung einer "gemeinsamen Erinnerungskultur" ist ein Perspektivenwechsel der Zeithistoriker von der Ausrichtung auf die Nation zu breiteren europäischen Bezügen hin. Gerade die verständliche Fixierung auf die eigene Opferrolle sollte die Notwendigkeit einer solchen Veränderung deutlich machen, da Krieg und Unterdrückung einen "Anderen" als Täter implizieren, der häufig im Namen einer feindlichen Nation handelte. Eigenes und fremdes Leiden sind meist interdependent, werfen also Fragen auf, die über den nationalen Horizont hinausgehen.
Voraussetzung für eine europäische Angleichung der Zeitgeschichtsschreibung ist die Erarbeitung einer gemeinsamen Periodisierung des kurzen oder langen 20. Jahrhunderts, für die der Vorschlag von Hans-Peter Schwarz einer Dreiteilung in ältere, neuere und neueste Zeitgeschichte eine flexible Lösung bieten könnte.
Es gibt also ein weites Feld von europäischen Themen, die einer transnationalen Diskussion harren. Doch der überfällige Abschied von der Nation darf nicht zu einer unkritischen Affirmation des europäischen Projekts als neuer geschichtspolitischer Norm führen. Die Ersetzung der Nationalgeschichte als Metanarrative durch eine neue Europageschichte brächte Historiker vom Regen in die Traufe, wenn sie von einer ähnlichen Mythologisierung begleitet wäre, denn auch im Namen Europas können Kriege geführt und Menschen unterdrückt werden.