Deutschlands ordnungspolitische Krise
Wer den Amtsantritt von Bundespräsident Horst Köhler im Sommer 2004 verfolgte, fühlte sich sogleich an dessen Vorvorgänger Roman Herzog erinnert und geriet darüber ins Grübeln: Hat sich in den vergangenen zehn Jahren trotz aller tagespolitischen Turbulenzen unterm Strich so wenig in Deutschland getan? Gewiß neigen manche Zeitdiagnostiker bisweilen zur alarmistischen Übertreibung, aber es lässt sich nicht leugnen, dass das Land im internationalen Vergleich kontinuierlich zurückfällt, ein wenig apathisch auf die Herausforderungen blickt, auf die es zutreibt, und die Chancen verstreichen lässt, die andere Nationen selbstbewusst ergreifen.
Seit mehreren Jahrzehnten wächst die Staatsverschuldung unaufhörlich, steigt die Arbeitslosigkeit schubweise und bleiben Wachstum und Innovationskraft des Landes hinter anderen Nationen zurück. Nicht zuletzt drohen die Sozialversicherungssysteme angesichts des seit langem absehbaren demographischen Wandels zu einer sozialen Falle für Millionen von zwangsrekrutierten Beitragszahlern zu werden: ohne grundlegenden Systemwechsel werden die mit viel Reformrhetorik gewürzten Versprechungen des kollektivistischen Wohlfahrtsstaats wie eine Seifenblase zerplatzen. Deutschland steckt in einer ernsten ordnungspolitischen Krise, aus der es sich selbst befreien muss. Galt die zweite deutsche Republik dank der von Ludwig Erhard vorgenommenen ordnungspolitischen Weichenstellungen lange Zeit als vielbewundertes Vorbild, so wird inzwischen von der "deutschen Krankheit" gesprochen, wenn man die sklerotische Wirkung von Status-quo-Verliebtheit, schwerfälligen Entscheidungsprozessen, finanz- und sozialpolitischen Kostenillusionen und kollektiver Verschleierung von Macht und Verantwortung prägnant benennen will. Nicht zuletzt durch föderale Kartellbildungen und wirtschaftliche Überregulierung hat das Land seine Offenheit, Lernfähigkeit, Nachhaltigkeit und Dynamik eingebüßt. Es mangelt ihm an einer Kultur der Freiheit, Kreativität, Initiative und Eigenverantwortung, statt dessen sind mangelnde Anpassungsfähigkeit und Veränderungsunwillen zum Leitmotiv der dritten deutschen Republik in Berlin geworden.
Aufbruch und Ernüchterung: Die erste Regierung Schröder 1998 - 2002
Gemessen an diesem Befund bot die erste Amtszeit der Regierung Schröder ein trübes Bild, in dem neben wenig Licht viele Grau- und Dunkeltöne in den einzelnen Politikfeldern überwogen.
In der Finanzpolitik deutete nach dem spätkeynesianischen Intermezzo Oskar Lafontaines zunächst einiges darauf hin, dass unter Hans Eichel ein beachtlicher Paradigmenwechsel gelingen könnte. Doch nach vielversprechenden Anfängen blieb dessen Konsolidierungsstrategie, die auf einen Haushaltsausgleich 2006 ausgerichtet war, stecken. Auch die im Jahr 2000 eindrucksvoll durchgesetzte Steuerreform entfaltete keine nachhaltige Wirkung, da sie unter handwerklichen Unzulänglichkeiten litt, die unstete Regierungspolitik kein Vertrauensklima für wirtschaftliche Dynamik aufkommen ließ und die angestrebten Entlastungseffekte durch Belastungen an anderer Stelle konterkariert wurden.
In der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik erwiesen sich die Hoffnungen, die man in das "Bündnis für Arbeit" setzte, erwartungsgemäß als haltlos. Die Regierung versäumte es, Wirtschaft und Arbeitsmarkt zu flexibilisieren und Abgaben- und Regulierungslasten spürbar zu senken. An den strukturellen Ursachen zielte die allzu interventionistische und punktualistische Regierungspolitik im Wesentlichen vorbei. Etliche Entscheidungen wie die Regelungen zu den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, den "Scheinselbständigen", den befristeten Arbeitsverhältnissen sowie zur Betriebsverfassung erwiesen sich als beschäftigungspolitisch wirkungslos, wenn nicht sogar deutlich kontraproduktiv. Nur dank der konjunkturellen Belebung 2000/2001 sank die Arbeitslosigkeit vorübergehend.
In der Sozialpolitik behalf sich die Regierung Schröder nach der Abschaffung des von der Regierung Kohl eingeführten "demographischen Faktors" zunächst damit, die Beitragssätze für die Rentenversicherung durch die Einführung der so genannten "Ökosteuer", also durch weitere Steuersubventionen, zu stabilisieren und den Kostendruck umzulenken. Damit verschenkte sie wertvolle Zeit und drückte sich um die Sanierung der Altersvorsorge herum, zumal sie sich wie in der Finanzpolitik in optimistische Prognosen von geringer Halbwertzeit flüchtete. Immerhin eröffnete sie 2001 mit der Einführung der so genannten "Riester-Rente" neue Perspektiven. Da diese das bestehende Umlagesystem nicht teilweise ersetzte, sondern zusätzliche Lasten bedeutete, war von Beginn an zweifelhaft, ob diese geförderte Form der kapitalgedeckten Vorsorge sich als Erfolg erweisen würde. Aber mit ihrer Einführung wurde das Dogma der paritätischen Finanzierung der Altersvorsorge durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufgegeben und die Tür zu neuen Diskussionen über private, nicht an das Arbeitsverhältnis gebundene Formen der sozialen Absicherung aufgestoßen.
Insgesamt nutzte die Regierung die vielversprechende Konstellation, die sich ihr ab Herbst 1999 bot, zu wenig. Nach der Kanzlerblüte des Jahres 2000 schwenkte die Regierung schon bald auf einen Kurs ein, der die eigene Anhängerschaft durch eine Politik der Konzessionen und beruhigenden Signale mit Blick auf die Bundestagswahl 2002 zusammenführen sollte. Ihre widersprüchlichen und kurzatmigen Entscheidungen ließen den Glauben an eine stetige Erneuerungsstrategie dahinschmelzen. Unter dem Eindruck steigender Arbeitslosigkeit und leichter Rezession geriet die Regierung wieder in die Defensive und konnte sich bei der Bundestagswahl 2002 nur dank günstiger Umstände und des populistischen Machtinstinkts des Kanzlers behaupten.
Eine neue Chance: Die zweite Regierung Schröder
Ihre knappe Wiederwahl schien die Koalition recht unvorbereitet zu treffen. Innerhalb kürzester Zeit verspielte sie den knappen Vertrauensvorsprung, den sie bei der Bundestagswahl errungen hatte. Der am 16. Oktober 2002 unterzeichnete Koalitionsvertrag
Auch innerhalb der Regierung wurde die Notwendigkeit erkannt, sich konzeptionell neu auszurichten und dem Handlungsbedarf in zentralen Politikfeldern gerecht zu werden. Am 14. März 2003 stellte Kanzler Schröder in einer Regierungserklärung unter dem Motto "Mut zum Frieden - Mut zur Veränderung" den neuen Kurs vor und legte in einer bemerkenswert realistischen und ernsthaften Tonlage dar, welcher Handlungsbedarf in den Bereichen Konjunktur und Haushalt, Arbeit und Wirtschaft sowie soziale Absicherung im Alter und bei Krankheit bestehe. Die so genannte "Agenda 2010"
Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik
Die wirtschafts- und arbeitmarktpolitischen Aktivitäten der Regierung standen nach ihrer Wiederwahl unter dem beherrschenden Eindruck der Vorschläge, die eine Kommission unter dem VW-Vorstand Peter Hartz im August 2002 vorgelegt hatte. Sie waren zum einen eine unmittelbare Reaktion auf das Missmanagement in der Bundesanstalt für Arbeit, schrieben zum anderen einen Paradigmenwechsel fort, der schon in dem Anfang 2002 in Kraft getretenen "JobAktiv"-Gesetz angelegt war. Er zielte darauf ab, die Vermittlungstätigkeit der Bundesanstalt zu verbessern und den Arbeitslosen durch eine Kombination von "Fördern und Fordern" mehr Anreize für Beschäftigung zu setzen. Die unmittelbar gesetzgeberisch umzusetzenden Vorschläge der Hartz-Kommission hatten mehrere Maßnahmenbündel "für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" zum Gegenstand: "Hartz I" sah insbesondere die Einrichtung von so genannten "Personal-Service-Agenturen" durch die Arbeitsämter vor, deren Ziel darin bestand, Arbeitslosen über Zeitarbeitsverträge die Integration in den ersten Arbeitsmarkt zu erleichtern. Auch Erleichterungen zur befristeten Einstellung älterer Arbeitnehmer sowie eine Neuausrichtung der Weiterbildungsförderung und eine Änderung der Zumutbarkeitsregelungen wurden vorgenommen, um Qualifikation und Beschäftigungswillen der Arbeitslosen zu erhöhen.
Das parallel beschlossene "Hartz II"-Gesetz sah die Umwandlung der Arbeitsämter in "Job-Center" vor und versuchte durch Einführung von "Ich-AGs", Existenzgründungen durch Arbeitslose zu erleichtern. Zudem gab das Gesetz im Bereich der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse den bisherigen restriktiven Kurs auf und führte "Mini-Jobs" bis 400 EUR ein, die mit Pauschalabgaben inHöhe von 25 Prozent belastet wurden. Für Beschäftigungsverhältnisse mit Einkommen zwischen 400 und 800 EUR ("Midi-Jobs") wurde eine Gleitzone mit steigenden Abgabenbelastungen eingerichtet. Sowohl die Einführung von "Ich-AGs" als auch die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse waren zumindest partiell als Dementi der Arbeitsmarktpolitik der ersten Regierungsperiode zu verstehen.
Das in der Agenda 2010 konkretisierte "Hartz III"-Gesetz hatte den internen Umbau der Bundesanstalt für Arbeit zum Gegenstand, die als "Bundesagentur für Arbeit" fortan die Zielgenauigkeit und Effizienz ihrer aktiven Arbeitsmarktpolitik verbessern sollte. Bedeutsamer, aber auch im sozialdemokratischen Hinterland umstrittener, waren die Inhalte des "Hartz IV"-Gesetzes. Es sah die Zusammenführung der bislang parallel von Arbeitsverwaltung und Kommunen betreuten Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu einem neuen "Arbeitslosengeld II" vor, dessen Leistungen an dem Niveau der bisherigen Sozialhilfe orientiert wurden und das daher erhebliche Einschnitte für viele Betroffene bedeuten musste. Anders als das bisherige Arbeitslosengeld wurde es nicht mehr in Abhängigkeit des zuletzt bezogenen Arbeitseinkommens bemessen, statt dessen wurde der Grundsatz der Bedürftigkeit zugrunde gelegt sowie für die Berechnung die Vermögensverhältnisse und die Einkommen von Familienangehörigen herangezogen.
Dieser sozialpolitische Paradigmenwechsel von der Versicherungs- zur Fürsorgeleistung diente dazu, den Druck auf Arbeitslose zur Rückkehr in ein Beschäftigungsverhältnis zu erhöhen, und wurde um Maßnahmen ergänzt, welche die finanziellen Anreize zur Qualifizierung und Eingliederung in den Arbeitsmarkt erhöhten. Bemerkenswert war darüber hinaus, dass im Rahmen der Neuregelung eine Optionsmöglichkeit für die Kommunen und Landkreise eingeräumt wurde, um gegen Kostenerstattung durch den Bund die Administration des Arbeitslosengeldes II selbst in die Hand zu nehmen. Diese Regionalisierung der Sozial- und Beschäftigungspolitik bot zumindest ansatzweise die Aussicht auf einen non-zentralen, institutionellen Wettbewerb, der auf lange Sicht innovativer wirken könnte als alle Bemühungen, die schwerfällige und umfängliche Bürokratie der Bundesagentur für Arbeit zu entschlacken.
Die Hartz-Gesetze enthielten einige wegweisende Ansätze, aber man musste sich von Beginn an vor übertriebenen Erwartungen hüten, da der Schwerpunkt der Kommissionsvorschläge und der nachfolgenden Gesetzgebung auf der Verbesserung der Vermittlungstätigkeit der Bundesanstalt für Arbeit lag und nicht in einer Flexibilisierung und Entriegelung des Arbeitsmarkts oder gar auf einer Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Wie schon in der ersten Amtsperiode erwiesen sich viele der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der Regierung Schröder als zu symptomatisch und zielten insbesondere aus Sicht der ostdeutschen Länder an den eigentlichen Ursachen der Arbeitslosigkeit vorbei. Zudem waren bürokratische Umsetzungsprobleme, wie sie die Arbeitspolitik der Regierung von Beginn an überschatteten, auch diesmal nicht auszuschließen. Nicht alle der eingeführten Instrumente erwiesen sich als Erfolg, auch der Personal- und Finanzbedarf der Bundesagentur stieg weiter an, und für die termingerechte Einführung des Arbeitslosengeldes II zum 1. Januar 2005 zeichneten sich wegen des hohen Verwaltungsaufwandes und des hohen Zeitdruckes erhebliche Komplikationen ab.
Sozialpolitik
Die Koalitionsvereinbarung von 2002 ließ in der Sozialpolitik klare Vorstellungen vermissen, wie auf die demographischen Herausforderungen zu antworten sei. In der Rentenpolitik wurde zwar angekündigt - und 2004 umgesetzt -, gemäß einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf eine nachgelagerte Rentenbesteuerung umzustellen, neue Maßnahmen zur Stabilisierung des Rentensystems wurden jedoch nicht aufgezeigt. Auch in der Gesundheitspolitik fehlten wegweisende Neuansätze, hier kündigte die Koalition lediglich an, die Einnahmesituation durch Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze, also durch Zurückdrängung des privaten Sektors, zu verbessern.
Die Agenda 2010 zeichnete demgegenüber ein geschärftes Problembewusstsein aus. Als Korrektur der Korrektur waren die neuen Schritte in der Rentenpolitik zu sehen. So entschloss sich die Regierung nicht nur zu neuerlichen Akutmaßnahmen wie einer Nullrunde für Rentner zum 1. Juli 2004, der Auszahlung von Neurenten erst zum Monatsende und dem nochmaligen Abschmelzen der Schwankungsreserve, sondern rang sich nach fünfjährigen Windungen auch dazu durch, den "demographischen Faktor" der Blüm'schen Rentenreform in leicht veränderter Gestalt als "Nachhaltigkeitsfaktor" wiedererstehen zu lassen. Bei weiterhin steigenden Beitragslasten wurde damit langfristig das Rentenniveau abgesenkt. Entlastung für Rentenversicherung und Belastung für die Rentner bedeutete auch die Entscheidung, dass die Beiträge zur Pflegeversicherung, die sich wenige Jahre nach ihrer Einführung als zusätzlicher Krisenherd entpuppte, künftig in voller Höhe von den Rentnern selbst zu übernehmen sei.
Als ausgesprochen unpopulär erwiesen sich die Maßnahmen, welche die Regierung in Abstimmung mit der Opposition in der Gesundheitspolitik ergriff. Die wichtigste strukturelle Neuregelung war die Auslagerung von Zahnersatzleistungen, Krankengeld und Sterbegeld aus der gesetzlichen Krankenversicherung, für die künftig gesonderte Beiträge im Rahmen entweder der gesetzlichen oder einer privaten Versicherung erforderlich werden. Innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung wurden zwar mit verschärften Zuzahlungsregelungen für Medikamente und der Einführung einer Praxisgebühr in Höhe von 10 EUR je Quartal gewisse Anreize für eine kostenbewusste Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen gesetzt. Da aber im Übrigen die Steuerung des Gesundheitswesens ausgesprochen planwirtschaftlich und interventionistisch blieb und kein funktionstüchtiger Wettbewerb etabliert wurde, war durch diese Maßnahmen nach dem Abflauen der Übergangseffekte im ersten Halbjahr 2004 wie schon bei früheren Gesundheitsreformen nur eine kurzzeitige Verzögerung der Beitragsentwicklung zu erwarten.
Finanzpolitik
Spätestens seit Jahresbeginn 2002, als Deutschland nur unter Einsatz robuster Diplomatie der Einleitung eines Defizitverfahrens nach Maßgabe des EU-Stabilitätspakts entging, war immer fraglicher, ob die Koalition das Ziel, bis 2006 den Haushalt auszugleichen, erreichen könnte. Den im Koalitionsvertrag neu vorgesehenen Ausgaben für ein Ganztagsschulprogramm, für die Subventionierung erneuerbarer Energien und für das Beschäftigungsprogramm "JumpPlus" stand keine substanzielle Aufgaben- und Ausgabenkritik gegenüber. Vielmehr kündigte die Koalition an, auf europäischer Ebene "unfairen Steuerwettbewerb" einzuschränken, "Steueroasen" auszutrocknen und auf eine "Harmonisierung" oder "Koordinierung", sprich: Kartellbildung, in der Steuer-, Beschäftigungs-, Wachstums- und Strukturpolitik hinzuwirken. Die Einnahmesituation versuchte die Koalition durch den Abbau von "Steuerbegünstigungen" und die Schließung von "Steuerschlupflöchern" zu verbessern. Das daraufhin vorgelegte "Steuervergünstigungsabbaugesetz" erfasste im Wesentlichen die Körperschafts-, Einkommens- und Umsatzsteuer und sah Einschränkungen bei der Eigenheimzulage und bei der Gewährung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes vor. So berechtigt der Privilegienabbau in mancher Hinsicht war, so wenig war aus der Steuer-, Finanz- und Haushaltspolitik insgesamt ernsthafter Konsolidierungswille erkennbar.
Für die Finanzpolitik brachte die Agenda 2010 keine wesentlichen Fortschritte, da die Regierung neben die sozialpolitischen Konsolidierungsbemühungen auch einige konjunktur- und wachstumspolitisch motivierte Ausgabenprogramme stellte. Vor allem zwei steuerpolitische Vorhaben waren von Bedeutung: zum einen die Neugestaltung der Gemeindefinanzen, die an der besonders problematischen Gewerbesteuer ansetzte, und zum anderen die Vorwegnahme der letzten Stufe der Steuerreform aus dem Jahre 2000, die erst im Vorjahr zur Finanzierung der Flutschäden in Ostdeutschland um ein Jahr verschoben worden war. In den Auseinandersetzungen mit der Opposition trat abermals zutage, dass das Dilemma zwischen steuerlicher Entlastung einerseits und Eindämmung der Staatsverschuldung andererseits ohne substanzielle Staatstätigkeitskritik nicht zu lösen war.
Nicht von ungefähr mahnte der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten 2003/04 bei aller Zufriedenheit über die Agenda 2010 eine Finanzpolitik an, "die ihre Energien nicht auf kurzfristig wenig effektive, langfristig oft sogar schädliche Versuche einer diskretionären Stabilisierung konjunktureller Schwankungen konzentriert, sondern mit einer konsistenten Konsolidierungsstrategie die Solidität der Staatsfinanzen zurückgewinnt."
Der jahrzehntelange Trend der öffentlichen Verschuldung setzte sich daher weiter fort, ohne dass er im Laufe der Zeit erträglicher geworden wäre. Wachsende Zinslasten werden den Spielraum noch weiter einschränken, obwohl in wichtigen Politikfeldern wie der Bildungs- oder der Verteidigungspolitik im internationalen Vergleich längst eine auffällige Unterfinanzierung eingetreten ist. Von der vollmundigen Konsolidierungsrhetorik ist nicht nur nicht mehr viel übrig geblieben, vielmehr setzte die Bundesregierung im Zusammenspiel mit der französischen Regierung einiges daran, den europäischen Stabilitätspakt schon bei der ersten Gelegenheit auszuhebeln, und entwertete damit recht mutwillig ein ordnungspolitisches Instrument der Geldwertstabilität und Haushaltsdisziplin, das eine wesentliche Voraussetzung für die Schaffung der europäischen Währungsunion gewesen war.
Gegensignale nach dem "Agenda"-Kraftakt
Bei aller Problematik stellte die Agenda 2010 eine beachtliche Kurskorrektur dar, deren Durchsetzung einer von der Union geführten Regierung ohne Zweifel um einiges schwerer gefallen wäre. Aber nicht inhaltliche Überzeugung, sondern machtpolitische Disziplin schweißte die Regierungsmehrheit für die entscheidenden Abstimmungen zusammen. Nach dem von Kanzler Schröder im Februar 2004 unter dem Eindruck der anhaltenden Widerstände in den eigenen Reihen verkündeten Verzicht auf den Parteivorsitz zugunsten des Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering bekräftigten beide, an der Agenda 2010 festhalten zu wollen. Dass sich die Regierung unter dem gestiegenen Einfluss Münteferings inhaltlich aber auf die Kritiker zubewegte, zeigte sich bei dem symbolträchtigen Projekt einer Ausbildungsplatzumlage, die von linken Sozialdemokraten seit vielen Jahren gefordert wurde. Auch wenn die Regierung schließlich den Vollzug des Gesetzes aussetzte, nachdem man sich mit den Arbeitgeberverbänden auf einen freiwilligen Ausbildungspakt verständigt hatte, wurde sichtbar, dass sie über kein klares ordnungspolitisches Leitbild der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik verfügte, sondern bereit war, sich zur Beruhigung innerparteilicher Kritiker wieder in einen kontraproduktiven Interventionismus zurückfallen zu lassen.
Ernste Zweifel, ob die Regierung den Teilerfolg der Agenda 2010 wirklich zu einer entschlossenen Erneuerungsstrategie ausbauen will, kamen auch in der Gesundheitspolitik auf. Mit ihrem Konzept der "Bürgerversicherung" zielt die Koalition wählerwirksam auf die Umstellung des Gesundheitssystems auf eine zweite Säule der Einkommensbesteuerung. Es könnte ihr bei der Bundestagswahl 2006 durchaus noch einmal ihre Mehrheitsfähigkeit sichern, lässt aber hinsichtlich seiner Tragfähigkeit erhebliche Zweifel aufkommen. Durch die Austrocknung des Marktes für private Krankenversicherungen und die damit angestrebte Monopolstellung der staatlichen Zwangsversicherung sind zwar kurzfristige Einnahmeverbesserungen nicht auszuschließen, aber es ist abzusehen, dass die Finanzierungsprobleme einer solchen "Bürgerversicherung" nach dem Vorbild des britischen "National Health Service" über kurz oder lang in ausufernde Rationalisierung der Gesundheitsleistungen münden und zu einer "Mangelverwaltungswirtschaft für alle"
Auch andere programmatische Signale wie Ankündigungen höherer Mindeststeuern für Unternehmen, Erbschaftssteuer, kommunale Konjunkturprogramme und Mindestlohn weckten Zweifel an der Nachhaltigkeit des mit der Agenda 2010 begonnenen Kurswechsels. Realistisch urteilte die "Neue Zürcher Zeitung" Ende Juni 2004, dass unter diesen Vorzeichen von einer Fortsetzung der Reformpolitik keine Rede sein könne und eine "eine qualvolle Verlängerung des Reformstaus" zu erwarten sei: "Die Auseinandersetzungen werden sich wohl im besten Fall darauf beschränken, ein Zurückrudern durch die Gewerkschaften und Parteilinken abzuwehren und stellenweise gewisse Konzessionen einzugehen."
Schumpeterianische Reitkünste statt politischer Führung
Kanzler Schröder stellte zwar eine Reihe von sozialpolitischen Gewissheiten seiner eigenen Partei in Frage und verdeutlichte ihr, dass unter den Bedingungen der Globalisierung und des demographischen Wandels eine programmatische Revision in einem gewissen Maße unvermeidlich war. Aber er setzte auch diesmal nichts Neues an dessen Stelle, sondern verlegte sich auf eine ausgesprochen defensive Argumentation, welche die Agenda 2010 als einen von äußeren Umständen erzwungenen, nur unter großen Skrupeln verfolgten Kraftakt erscheinen ließ. Eine ins positive gewendete, Orientierung stiftende Zielvision vermochte er nicht zu formulieren. So bestätigte sich der Eindruck, den man schon aus der ersten Amtsperiode der Regierung gewinnen musste: Nach schwachem Auftakt und einer kurzen Phase ambitionierten Gestaltungswillens fiel die Regierung auch diesmal wieder in eine unstete Pendeldiplomatie zwischen Erneuerung und Beschwichtigung zurück. Ihren machtpolitischen Instinkt und ihr situatives Geschick hat die Regierung - der Kanzler allen voran - immer wieder eindrucksvoll demonstriert, aber es mangelt ihr nach sechs Jahren immer noch an einem inneren Kompass, der auf berechenbare Leitideen ausgerichtet gewesen wäre. Auf keinen anderen Bundeskanzler trifft besser als auf Schröder das Bonmot Joseph Schumpeters zu, dass der demokratische Politiker wie ein Reiter sei, "der durch den Versuch, sich im Sattel zu halten, so völlig in Anspruch genommen wird, dass er keinen Plan für seinen Ritt aufstellen kann"
Gewiss spiegeln sich in einem solchen Befund die institutionellen und mentalen Blockaden, die jede deutsche Regierung in Rechnung zu stellen hat. Gerade deshalb ist zu wünschen, dass in der Föderalismus-Kommission Ergebnisse erzielt werden, die politische Kartellbildungen und kollektivistische Illusionen zurückdrängen und die politischen Entscheidungsprozesse hin zu mehr Verantwortung, Transparenz, Dezentralisierung und Wettbewerb öffnen können, damit die Ausübung von Führung auf allen Ebenen besser belohnt wird. In diesem Sinne zahlt es sich aus, Regierung und Opposition gleichermaßen jene Forderung nach politischer Führung in der Demokratie nahezubringen, die Woodrow Wilson 1887 erhob: "Wer immer eine Veränderung in einer modernen verfaßten Regierung erreichen will, muss zuerst seine Mitbürger dazu erziehen, überhaupt Veränderung zu wollen. Ist das getan, muss er sie davon überzeugen, genau die Veränderung zu wollen, die er will. Er muss erreichen, dass die Meinung des Volkes bereit ist, auf ihn zu hören und dann dafür zu sorgen, dass es auf die richtigen Dinge hört. Er muss sie zu einer Suche nach einer Meinung aufrütteln und es dann fertigbringen, die richtige Meinung in ihren Weg zu legen."