Einleitung
Die heutige Schülergeneration hat im fünfzehnten Jahr nach der friedlichen Revolution in der DDR keine eigene Erinnerung mehr an diesen Teil der deutschen Geschichte. Was sollen die Schülerinnen und Schüler in unserem Land heute über die SED-Diktatur wissen? Welchen Beitrag kann der Schulunterricht leisten? Erwerben die Schülerinnen und Schüler hinreichende Fähigkeiten, um Lehren für die Gegenwart zu ziehen? Um der Beantwortung dieser Fragen näher zu kommen, wurde eine Lehrplananalyse vorgenommen, welche die gegenwärtig gültigen Lehrpläne der allgemein bildenden Schulen in Deutschland auf denStellenwert des Themas SBZ/DDR hin untersuchte.
Anstöße für eine solche Analyse ergaben sich nicht zuletzt durch kritische Äußerungen aus der Politik, der politischen Bildung sowie aus allgemeinen Vermutungen zum wenig befriedigenden Wissensstand der Schülerinnen und Schüler über den zweiten deutschen Staat. Vorausgegangene wissenschaftliche Untersuchungen konnten diesen Gegenstandsbereich bislang nicht in dieser Breite und Tiefe abbilden.
Eine Analyse der gegenwärtigen Lehrpläne musste die nach Bundesländern und auch die nach Unterrichtsfächern bestehenden Unterschiede berücksichtigen und in Kauf nehmen. Die Ausführlichkeit der Pläne reicht von allgemeinen Hinweisen der Rahmenpläne bis zu detaillierten Darstellungen der Fachlehrpläne auf unterschiedlichen Ebenen. In die Untersuchung wurden 107 gültige Lehrpläne, die einen direkten Bezug zur DDR-Geschichte aufweisen, einbezogen. Das betraf die Lehrpläne für die Fächer Geschichte (Anteil 55 Prozent), Gemeinschaftskunde, Sozialkunde, Politik und verwandte Fächer (33 Prozent) sowie Deutsch und Religion. Um Vergleichbarkeit herzustellen, ging die Lehrplananalyse von der Betrachtung von fünf Geschichtsfeldern aus. Dieser Schwerpunktsetzung folgen die weiteren Darlegungen.
Der politische Neubeginn
Die Darstellung des politischen Neubeginns ab 1945 schließt an die Unterrichtsthemen zum Nationalsozialismus und zur Niederlage im Zweiten Weltkrieg an. Die wichtigsten Schwerpunkte für den Unterricht bilden die Bewältigung der unmittelbaren Kriegsfolgen, die Vertreibung und der Wiederaufbau.
In einigen Lehrplänen wird der politische und gesellschaftliche Neuanfang als gesonderte Einheit behandelt. Abgeschlossen wird dieser Zeitabschnitt mit der Gründung der beiden deutschen Staaten. Beispielsweise heißt es im Lehrplan Geschichte für den Leistungskurs 13 aus Baden-Württemberg in der Zielstellung der LPE 13.4 "Der politische Neubeginn in Deutschland": "Die Schülerinnen und Schüler untersuchen das Entstehen eines neuen politischen Bewusstseins in Ost und West unter den Voraussetzungen der bedingungslosen Kapitulation und erörtern die Vorstellung von der 'Stunde Null' in der deutschen Geschichte. Sie verfolgen das Zusammenwirken von demokratischer Tradition und politischer Neubesinnung, von alliierten Einflüssen und deutscher Selbstbestimmung bei der Neugestaltung des politischen Lebens in den Besatzungszonen." Sehr differenziert werden die Ausgangsbedingungen einschließlich des politischen Neubeginns, die Weichenstellungen zur staatlichen Teilung und die Gründung der beiden deutschen Staaten im Lehrplan dargestellt.
An den Hauptschulen wird im Fach Geschichte der Zeitabschnitt des Neubeginns kürzer behandelt. So sieht der Lehrplan in Hessen für die Hauptschule in der 10. Klasse den Schwerpunkt 10.2 "Deutschland nach 1945 - von der Teilung zur Einheit" vor. Im verbindlichen Unterrichtsinhalt 1 "Aus vier Besatzungszonen werden zwei Staaten" sollen folgende Problemkreise behandelt werden: Konsequenzen der Potsdamer Konferenz; demokratischer Neubeginn auf kommunaler und Länderebene; Politiker/innen und Parteien; unterschiedliche Entwicklungen in den Westzonen und der SBZ; Marshallplan und Wiederaufbau; Ost-West-Konflikt und Teilung Deutschlands; Entstehung zweier Staaten in Deutschland.
Aus der Perspektive der insgesamt gesichteten Lehrpläne ergibt sich, dass die Darstellung des politischen Neubeginns im Nachkriegsdeutschland in den Geschichtslehrplänen ausführlich und ausgewogen erfolgt. Die ersten Ansätze unterschiedlicher politischer Systeme und Gesellschaftsordnungen werden allerdings lediglich angedeutet. Ein möglicher Vergleich der Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands einschließlich ihrer ideologischen und politischen Grundlagen ist nur in relativ geringem Umfang ausgeführt. Der Zeitabschnitt vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten erhält in den Lehrplänen einen angemessenen Stellenwert, so dass bei seiner Umsetzung wesentliche Erkenntnisse über die Anfangsjahre der deutschen Teilung vermittelt werden können.
Das Gesellschafts- und Machtsystem unter der SED-Herrschaft
Das Verständnis der DDR-Gesellschaft in ihrem Systemcharakter ist für die Schülerinnen und Schüler zweifellos schwierig. Es erfordert einen Blick auf die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft unter besonderer Berücksichtigung der Ausübung der politischen Macht durch die SED mit dem dazu geschaffenen Apparat. Dieser komplexen Aufgabe, die den Kern der SED-Diktatur berührt, kommen die Lehrpläne nur ansatzweise nach.
Der Begriff Gesellschaftssystem wird in den Lehrplänen insgesamt nur fünfmal benutzt. So wird im Schwerpunkt Geschichte des Lehrplans Gemeinschaftskunde der Gymnasialen Oberstufe in Rheinland-Pfalz in der 12. Klasse beim Teilthema 3 "Die Durchsetzung der Demokratie in Deutschland" von den Schülerinnen und Schülern erwartet, dass sie den Prozess des Aufbaus und der Einbindung beider Teile Deutschlands in die unterschiedlichen Machtblöcke und Gesellschaftssysteme kennen.
In den Real- und Hauptschullehrplänen für Geschichte wird das Gesellschafts- und Machtsystem der DDR in nur wenigen Fällen zur Behandlung vorgeschlagen. So wird in der 10. Klasse der Erweiterten Realschule des Saarlandes in der Unterrichtseinheit "Vom Zusammenbruch zur Wiedervereinigung" als eines der Lernziele die Kenntnis der "unterschiedlichen Entwicklung der beiden deutschen Staaten bis 1989" formuliert. Als Lerninhalt wird aufgeführt: "Zweimal Deutschland: unterschiedliche Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme".
Vor allem das gesellschaftliche Modell des Sozialismus mit seinen theoretisch-ideologischen Quellen wird in den Lehrplänen des Faches Geschichte nicht thematisiert. Ansätze finden sich eher in den Fächern Gemeinschaftskunde und Politik. So wird beispielsweise im gymnasialen Grundkurs Politik des Saarlands in der Jahrgangsstufe 12 das Thema "Marxismus-Leninismus" behandelt. Dabei ist unter anderem das Lernziel fixiert, dass die Schülerinnen und Schüler am Beispiel eines sozialistischen Staates nachweisen sollen, wie die theoretischen Vorstellungen von Marx und Lenin realisiert wurden ("real existierender Sozialismus").
Zur Auseinandersetzung mit der ideologischen Komponente des Machtsystems der SED finden sich in den übrigen Lehrplänen nur wenige Hinweise. Die Ideologie als wesentliches Moment wird lediglich im Thüringer Geschichtslehrplan für das Gymnasium im Kurshalbjahr 12/II beim Thema "Der Weg von der Konfrontation zur Entspannung bis zum Ende des Ost-West-Konflikts" mit der Formulierung: "Funktion und Wirksamkeit der Ideologie im System der DDR" erwähnt.
Eine weitere Untersuchungsfrage war es, inwieweit in den Lehrplänen mit dem Begriff Repression gearbeitet wird. Er wird nur in wenigen Lehrplänen aufgegriffen. Direkte Erwähnung finden Repressionen nur viermal, wobei im Lehrplan Geschichte für die Realschule in Bayern vor allem die Repressionen in osteuropäischen Ländern gemeint sind.
Mit dem Begriff Unterdrückung werden relativ undifferenziert politische Prozesse sowohl in der unmittelbaren Nachkriegszeit als auch in der Zeit der SED-Diktatur gekennzeichnet. Der Lehrplan Geschichte für die Realschule in Baden-Württemberg sieht für die Klasse 10 in der Lehrplaneinheit 1 "Die deutsche Teilung als Spiegelbild der ideologischen Gegensätze zwischen Ost und West" Hinweise zu Unterschieden in der Besatzungspolitik vor. Dabei wird auch die "Politische Unterdrückung in der SBZ" erwähnt.
Im Hamburger Lehrplan Geschichte/Politik für die Haupt- und Realschule wird für die Sicht der "Entwicklungen nach 1949"u.a. vorgeschlagen: "Die Bundesrepublik Deutschland und die DDR im Kalten Krieg (Integration in unterschiedliche Bündnissysteme, Aufstand des 17. Juni, der Mauerbau, Unterdrückung und Bevormundung durch die SED, Vertreibungen an der innerdeutschen Grenze)"
Auch der Begriff der (politischen) Gewalt spiegelt sich in den Lehrplänen kaum wider. Der Rahmenplan Geschichte für das Hamburger Gymnasium formuliert für die Jahrgangsstufe 9/10 das Thema "9/10 - 5 Ost-West-Konflikt und deutsche Frage seit 1945". Bei den Zielstellungen heißt es: "Den Schülerinnen und Schülern wird bewusst, dass die Geschichte Deutschlands und Europas nach 1945 in wesentlichen Teilen eine Folge des von Hitler verursachten Zweiten Weltkrieges ist. Sie erkennen die Ursachen und Auswirkungen des Ost-West-Konfliktes. Dabei wird ihnen deutlich, dass in Westeuropa ein weitgehend selbstbestimmter politischer und ökonomischer Integrationsprozess beginnt, während sich die Sowjetisierung Ostmitteleuropas mit militärischer Gewalt und gegen den Willen der betroffenen Völker vollzieht."
Eine zentrale Funktion für den Machterhalt der SED-Diktatur hatte die Staatssicherheit bzw. das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) mit vielfältigen Verflechtungen innerhalb der Gesellschaft. Zu dieser Thematik finden sich in den Lehrplänen insgesamt 21 Nennungen. Diese betreffen vor allem das Fach Geschichte in den Sekundarstufen I und II. Lediglich im Fach Sozialkunde von Mecklenburg-Vorpommern wird in der Jahrgangsstufe 9 beim Thema "Das politische System der Bundesrepublik Deutschland" als methodischer Hinweis "ein Gespräch mit dem Stasi-Beauftragten" angeregt.
Ein Blick auf die Verteilung dieser Thematik zwischen alten und neuen Bundesländern zeigt, dass eine Auseinandersetzung mit der Staatssicherheit vor allem im Osten angeregt wird. Fundiertes Wissen über die Rolle des MfS in der Gesellschaft der DDR zu erwerben heißt, einen wichtigen Wesenszug der SED-Diktatur zu erkennen. Die in den Lehrplänen vorhandenen Bezüge greifen zu kurz und eröffnen keinen Weg zur Auseinandersetzung mit dem Aufbau und der Funktionsweise dieses zentralen Machtinstrumentes der SED.
Andere Instrumente der Machterhaltung und Systemsicherung wie Polizei und Nationale Volksarmee werden nicht aufgeführt, also auch nicht in einen Zusammenhang zur Staatssicherheit gebracht. Lediglich im Thüringer Lehrplan Geschichte für das Gymnasium wird im Kurshalbjahr 12/II beim Lerninhalt "Entwicklung in der Bundesrepublik und in der DDR von der Teilung über Konfrontation und Kooperation im Rahmen der bipolaren Welt von 1949 bis 1990" der Schwerpunkt "Auseinandersetzung um Wiederbewaffnung - von der 'Kasernierten Volkspolizei' zur 'Nationalen Volksarmee'" aufgeführt. Im selben Lehrplan wird mit dem Hinweis auf das "Speziallager Buchenwald" die Möglichkeit eröffnet, auf die politische Verfolgung in der sowjetischen Besatzungszeit einzugehen.
Das Gesellschafts- und Machtsystem der DDR erfährt somit in nur wenigen Fällen eine relativ geschlossene Darstellung. Die grundsätzliche Charakterisierung des gesellschaftlichen Systems mit seinen politischen, ideologischen und ökonomischen Komponenten findet zwar in Ansätzen statt, wird aber kaum detailliert ausgeführt. Die Durchdringung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft seitens der Staatspartei wird nicht transparent. Das Instrumentarium der Machtsicherung kann somit von den Schülerinnen und Schülern kaum in seiner Komplexität erfasst werden. Bedenklich ist auch die Tatsache, dass aus der Behandlung des Gesellschafts- und Machtsystems in der DDR kaum Gründe für die Krise des Systems und seinen Zusammenbruch im Herbst 1989 abgeleitet werden.
Gesellschaftsgeschichte der DDR
Die Gesellschaftsgeschichte der DDR (Alltagsgeschichte, wirtschaftliche Entwicklung, Sozialpolitik, Rolle der Frauen, Jugendbewegung, Kirche im Sozialismus) wird zwar in bestimmten Bereichen aufgegriffen, aber nur partiell in den Lehrplänen abgebildet. Am wenigsten Aufmerksamkeit erfährt die Kritik des gesellschaftlichen Modells des Sozialismus in seiner Entwicklung sowie mit seinen theoretisch-ideologischen Quellen. Einzelne Bereiche der Gesellschaftspolitik wie die Wirtschafts- und die Sozialpolitik werden in bestimmten Lehrplänen, vor allem der Sozialkunde, behandelt. Andere ausgewählte Bereiche wie Familie, Frauen und Jugend sind nicht eigenständig ausgewiesen, so dass vor allem der zweifellos die Schülerinnen und Schüler ansprechende Themenkreis Jugend nicht seiner Bedeutung nach ausgeführt wird.
Die Behandlung des Themas "Kirche im Sozialismus" wird in wenigen Fällen von der Religionslehre aufgegriffen, kommt aber bei der thematischen Fülle dieses Unterrichtsstoffes zu kurz. Damit wird ein Ansatzpunkt nicht genutzt, der das Zusammenwirken von Opposition und Kirche im Sozialismus der DDR deutlicher machen könnte.
Widerstand und Opposition in der DDR
Die Geschichte von Widerstand, Opposition, Dissidenz und nonkonformem Verhalten in der SBZ/DDR zwischen 1945 und 1989 empfiehlt sich als zentrales Unterrichtsthema für die Auseinandersetzung mit der Geschichte der DDR und der deutschen Teilung. Die Lehrpläne vermitteln jedoch ein sehr unterschiedliches Bild. Einige wenden sich der Frage von Widerstand und Opposition in relativ allgemeiner Weise zu. Beispielsweise wird im hessischen Lehrplan Geschichte für die Hauptschule, Klassenstufen 9/10, im Thema 9.4 "Europa im Aufbruch - Auseinandersetzungen um die Befreiung des Menschen" bei fakultativen Unterrichtsinhalten bzw. Aufgaben die Frage nach "Protestbewegungen in Deutschland - was erreichen sie?" gestellt. Für die Bundesrepublik werden die Friedens- und Umweltbewegung erwähnt, für die DDR der Leitspruch "Schwerter zu Pflugscharen" sowie der Hinweis auf die "Kristallisation einer Opposition im Schatten der Macht".
Der Opposition in der DDR wenden sich auch die Lehrpläne anderer Fächer zu. Ein Beispiel ist der Lehrplan im Fach Sozialkunde in Thüringen. In der Klasse 12 wird das Thema "Politische Systeme und politische Partizipation" behandelt. Als Problembereich wird genannt: "Das politische System der DDR". Inhalte des Unterrichts sind: "Das Alltagsleben in der DDR an Beispielen; die Politik in der DDR: Rolle der SED und der Blockparteien, Mechanismen der Herrschaftssicherung, Menschenrechtsproblematik, oppositionelle Gruppen; Wirtschafts- und Sozialsystem, ökologische Situation der DDR; Ursachen der ökonomischen Krise sowie die 'Wende' und der Zusammenbruch der DDR"
Besonderen Stellenwert beim Thema Opposition in der DDR hat der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 inne. Anlässlich des 50. Jahrestages dieses Ereignisses im Jahr 2003 wurde eine Reihe neuer Forschungsergebnisse vorgelegt, die den Aufstand neu bewerten und differenzierter einschätzen. Es ist an der Zeit, diese Ergebnisse in den Unterricht einzubeziehen und über eine Vertiefung des Themas nachzudenken sowie Lehrplanangebote und Lehrbücher dem neuen Erkenntnisstand entsprechend zu aktualisieren. Wegen der gewachsenen Bedeutung des Volksaufstandes wurde der Platz des 17. Juni 1953 in den Lehrplänen bereits näher besprochen.
Von besonderem Interesse für den Schulunterricht zur Opposition in der DDR ist der Einfluss von Reformprozessen, die mit der Perestroika in der UdSSR und den revolutionären Veränderungen 1989 in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas verbunden sind. Dazu finden sich in den Lehrplänen einige Ansätze wie z. B. in der bayerischen Realschule.
Der Einfluss der internationalen Faktoren auf den Widerstand in der DDR wird auch im Rahmenlehrplan Geschichte für die Sekundarstufe I in Brandenburg berücksichtigt. Im Themenfeld "Deutschland in der geteilten Welt - die beiden deutschen Staaten als Teil des Ost-West-Konflikts" wird als Zielstellung formuliert: "Der internationale Entspannungsprozess strahlt auf die deutsch-deutschen Beziehungen aus und ermöglicht eine Normalisierung. Die allgemeine Systemkrise in der DDR in den achtziger Jahren offenbart sich als Wirtschafts- und Glaubwürdigkeitskrise. Die Bevölkerung äußert ihren Unwillen durch eine Massenflucht im Spätsommer 1989. Die Zahl der Oppositionsgruppen, bisher im Verborgenen arbeitend, nimmt zu. Die Situation verändert sich schnell, ebenso der Staat DDR. Seine Eigenstaatlichkeit ist nicht zu erhalten." Bei ausgewählten Aspekten des Lebens im geteilten Deutschland weist der Lehrplan auch auf die Frage "Innerstaatliche Opposition und Anpassung" hin.
In weiteren Lehrplänen, etwa in der Sekundarstufe I des Landes Sachsen-Anhalt, werden in den Schuljahrgängen 9/10 fachspezifische Themen angeboten. Dazu gehört das Pflichtthema "Das vereinigte Deutschland im vereinigten Europa". Dabei sollen "Reformanstöße und -bewegungen Osteuropas: Ausgangs- und Bezugspunkt für Opposition und Protest in der DDR" behandelt werden.
Die Analyse zeigt, dass die Herausbildung von Widerstand und Opposition in der DDR in den Lehrplänen nur unsystematisch widergespiegelt wird. Die historischen Quellen von Widerstand und Opposition werden kaum aufgespürt, ebenso der Umfang des Wirkens oppositioneller Kräfte in und außerhalb der SED. Widerstand und Opposition werden vorwiegend in Bezug auf die Ära Honecker thematisiert. Der Widerstand gegen die SED-Diktatur in den vierziger und fünfziger Jahren - ob als Opposition der bürgerlichen Parteien in den früheren Jahren oder als parteiinterne Opposition - wird mit Ausnahme des 17. Juni 1953 nicht behandelt. Bedenklich ist ferner, dass in den Lehrplänen der ostdeutschen Bundesländer keine regionalen Beispiele von Opposition und Widerstand (z.B. die Vorgänge um die Werdauer Oberschüler) aufgenommen sind. Nicht diskutiert werden die realen Möglichkeiten und Chancen, unter der Gefahr massiver Repressionen Einfluss auf die Entwicklung des Landes nehmen zu können. Die Ergebnisse eines Reifeprozesses der Opposition in den siebziger und achtziger Jahren, auch unter dem Dach der Kirche, werden nicht ausgemacht, und neuere Forschungsergebnisse zur Entwicklung der Opposition sind in den Lehrplänen nicht zu finden.
Die Rolle der Opposition bei der friedlichen Revolution und deren Vorbereitung wird in den Lehrplänen zwar richtig dargestellt, jedoch werden die komplexeren Einflüsse endogener und exogener Kräfte bei der friedlichen Revolution (wirtschaftliche Krise; Ausreisebewegung; Perestroika und Glasnost; Entwicklungen innerhalb der Staaten des Warschauer Vertrages) nicht in ihrer Gesamtheit und wechselseitigen Verflechtung reflektiert.
Die deutsch-deutschen Beziehungen und die deutsche Einheit
Unterrichtsthemen, welche die deutsch-deutschen Beziehungen nach der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 aufgreifen, stellen ein wichtiges Politikfeld dar, auf dem viele innen- und außenpolitische Fragen miteinander verflochten sind. Nach dem Scheitern der Wiedervereinigungsgedanken und Konföderationsvorstellungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit wird in den Lehrplänen die Entwicklung in den beiden deutschen Staaten zunehmend parallel abgearbeitet. Die "offiziellen" deutsch-deutschen Beziehungen von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren finden als Spezialthema jedoch nur wenig Aufmerksamkeit. Erst die Neue Ostpolitik, die Ostverträge, der Grundlagenvertrag sowie der KSZE-Prozess rücken die gemeinsame Geschichte mit ihren Wechselwirkungen mehr in den Vordergrund. Diese Zeitabschnitte stellen entsprechend ihrer historischen Bedeutung in der Mehrzahl der Lehrpläne eine gesonderte Einheit dar.
Vor allem die gymnasialen Lehrpläne widmen sich ausführlich diesen Fragen. So wird beispielsweise im Lehrplan Geschichte für Baden-Württemberg, Jahrgangsstufe 13, das Thema "Deutschland nach 1945 im nationalen, europäischen und internationalen Kontext" in der Kursstufe (4-stündig) behandelt. Für die dazugehörende Lehrplaneinheit "Die staatliche Einheit" gilt die Zielstellung: "Die Schülerinnen und Schüler erkennen und erörtern die Ursachen des Niedergangs der DDR und die Besonderheiten der friedlichen Revolution. Sie verfolgen die nationale und internationale Umsetzung der deutschen Einigung und erörtern Chancen und Probleme des vereinigten Deutschland." Darauf aufbauend gibt der Lehrplan folgende inhaltliche Schwerpunkte vor: "Vom Zusammenbruch des SED-Regimes zur Einigung", "Der internationale Rahmen", "Die nationale Gestaltung" sowie "Chancen und Probleme des vereinigten Deutschland".
Das sächsische Gymnasium sieht im Lehrplan Geschichte für den Leistungskurs 12 die Behandlung von "Entwicklungen in Deutschland nach 1945 in ihrer europa- und weltpolitischen Bedeutung" vor. Im Lernbereich "Der Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands 1989/91" werden als Ziele und Inhalte vorgegeben: "1989: 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland - 40 Jahre DDR; 1990: gesamtdeutsche Wahlen und Beitritt der DDR zum Rechtsbereich des GG (gem. Art. 23); Freistaat Sachsen als Land der Bundesrepublik Deutschland; die Wiedervereinigung Deutschlands in ihrer europa- und weltpolitischen Bedeutung; neue Mächteordnung und das Problem der Friedenssicherung".
In den 10. Klassen der Sekundarstufe I werden die Fragen der deutschen Einigung zumeist als Abschluss eines umfangreichen Lehrplanteils zur deutschen Geschichte seit 1945 aufgegriffen. So wird im Rahmenplan Geschichte des Hamburger Gymnasiums für die Jahrgangsstufe 9/10 das Thema "Der Ost-West-Konflikt und die deutsche Frage seit 1945" als verbindlicher Unterrichtsinhalt festgehalten. In den Zielstellungen heißt es: "Die Schülerinnen und Schüler erkennen die historische Bedeutung der Epochenwende von 1989/90, die schließlich mit zur Auflösung des Sowjetimperiums beitrug. In der Auseinandersetzung mit diesem Thema begreifen sie, dass die Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten im Oktober 1990 und das langsame Zusammenwachsen Deutschlands seit 1990 Teil der Überwindung der Nachkriegsstrukturen und damit des grundlegenden Paradigmenwechsels im internationalen System am Ende des 20. Jahrhunderts ist."
In der hessischen Hauptschule beinhaltet der Lehrplan Geschichte für die Klassenstufe 9/10 das Thema "Die deutsche Einheit - wessen Erfolg?" mit folgenden Stichworten: "Liberalisierung in der Sowjetunion (Gorbatschow, Glasnost, Perestroika) und Auflösungserscheinungen im Warschauer Pakt; Opposition im Schatten der Macht ('Schwerter zu Pflugscharen', Montagsgebete); wirtschaftliche und politische Situation in der DDR vor der 'Wende', Massenflucht aus der DDR; Bürgerrechtsbewegungen; Demonstrationen und friedliche Revolution; Öffnung der Grenze und demokratischer Aufbruch/Neubeginn in der DDR (1989/90); vom Ruf 'Wir sind das Volk' zu 'Wir sind ein Volk'; 10-Punkte-Plan (Kohl) und Rolle der Bundesregierung im weltpolitischen Kontext".
In der Erweiterten Realschule des Saarlands ist im Lehrplan Geschichte, Jahrgangsstufe 10, die Unterrichtseinheit "Vom geteilten Deutschland zur neuen Bundesrepublik" mit folgenden Lernzielen vorgesehen: "Die Schülerinnen und Schüler sollen die Rolle der DDR-Bevölkerung beim Prozess der Wiedervereinigung beschreiben, die außenpolitischen Bedingungen für den Einigungsprozess untersuchen, die auftretenden innenpolitischen Probleme nach der Wiedervereinigung erklären und die Bedeutung der Wiedervereinigung für Deutschland beurteilen." Die avisierten Lerninhalte wie "Massenflucht und friedliche Revolution, der außenpolitische Weg zur Einigung, Probleme der Wiedervereinigung und ihre Bewältigung" schaffen mit der Behandlung der Begriffe "Friedensgottesdienste, Montagsdemonstrationen, 'Wir sind das Volk', 'Zwei-plus-Vier'-Verhandlungen, Wirtschafts- und Währungsunion, PDS, deutsche Einheit, Stasi-Akten, Einigungsvertrag, Nationalfeiertag; Aufbau Ost, Reformkommunismus" und mit dem Hinweis auf eine Zeitzeugenbefragung eine gute Basis für die Behandlung dieses historischen Zeitabschnittes.
Große Aufmerksamkeit wird in den Lehrplänen dem Verlauf der Erhebung der DDR-Bevölkerung im Herbst 1989 gewidmet. Im Zusammenhang mit der friedlichen Revolution wird verstärkt auch auf die Rolle der Opposition verwiesen. Die einzelnen Etappen der friedlichen Revolution, von der Zuspitzung der Unzufriedenheit der DDR-Bevölkerung über die Abstimmung mit den Füßen und die Montagsdemonstrationen bis zum Fall der Mauer, werden aufgezeigt. Das Zustandekommen und die Ergebnisse der "Zwei-plus-Vier"-Verhandlungen, der Wirtschafts- und Währungsunion sowie die Bedeutung des 3. Oktober 1990 als Tag der Deutschen Einheit werden in den Lehrplandokumenten durchgehend gewürdigt.
Der Verlauf und die Ergebnisse der friedlichen Revolution haben in den Lehrplänen verdientermaßen breiten Raum erhalten. Dabei werden sowohl die historischen Abläufe als auch die politischen Grundprozesse hervorgehoben. Eine stärkere Darstellung der Entwicklungen bei der Schaffung der deutschen Einheit und des beginnenden Zusammenwachsens in den neunziger Jahren nehmen vor allem diejenigen Lehrpläne vor, die in jüngerer Zeit in Kraft gesetzt worden sind.
Geschichtswissen und mündige Bürger
Die Komplexität des politischen Geschehens in der Gegenwart und die Probleme der Zukunft setzen hohe Maßstäbe an die politische Bildung und an das Geschichtsbewusstsein der Schülerinnen und Schüler. Der sich vollziehende Generationswechsel lässt die Erinnerungen verblassen, Nostalgie und Verdrängung behindern den Umgang mit einem wichtigen Teil der deutschen Geschichte. Es wäre unverantwortlich, Defizite im historisch-politischen Wissen zur deutschen Geschichte zuzulassen, weil dadurch das Profil der heutigen Schüler als mündige Bürger von morgen Schaden nehmen würde. Das Wissen über die DDR-Geschichte und über die Entwicklung Deutschlands von 1945 bis 1989/90 gehört zu den unverzichtbaren Bausteinen des Geschichtsbewusstseins der Jugend. Bei der Notwendigkeit von Bildungsreformen, der Einführung von Bildungsstandards und der Positionierung Deutschlands als Bildungsland im internationalen Vergleich dürfen die historischen Kenntnisse nicht ins Hintertreffen geraten.
Die Erstellung qualifizierter Lehrpläne, ihre zielgerichtete Umsetzung und Weiterentwicklung sind wichtige Schritte zur Vermittlung von Wissen über die DDR und damit zur deutschen Geschichte. Darüber hinaus sollte nach Möglichkeiten gesucht werden, die Aufnahme des aktuellen Forschungsstandes in den Schulbüchern zu evaluieren und den von den Schülerinnen und Schülern erreichten Wissensstand zu erfassen. Gleichzeitig sollte mehr Wert darauf gelegt werden, die akademische Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer besser durch entsprechende Lehrangebote zur Geschichte der DDR an den Universitäten zu unterstützen.