Spätestens mit der Festnahme des katalanischen Regionalpräsidenten Carles Puigdemont in Deutschland im März 2018 ist der Katalonien-Konflikt auch hier im Bewusstsein angekommen. Dieser schwelt schon seit einigen Jahren; die Polizeieinsätze rund um das Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober 2017 bildeten lediglich einen (vorläufigen) Höhepunkt. Dabei ist der Separatismus in Spanien nicht allein ein katalanisches Phänomen, der Terror der ETA (Euskadi Ta Askatasuna) und der baskische Wunsch nach Sezession prägten Spanien über viele Jahrzehnte.
Was ist Separatismus?
Die Debatte und Analyse um den katalanischen Separatismus verlangen eine Trennschärfe der Begriffe, um sich nicht in unpräzisen Formulierungen, die sich rund um die Thematik des Regionalismus, Nationalismus und Separatismus drehen, zu verlieren. Katalonien ist zunächst eine Region in Spanien, definiert als "bestimmter Raumausschnitt innerhalb einer größeren Raumeinheit".
In Westeuropa hat sich der Regionalismus in den 1970er Jahren ausgebreitet und ist nicht nur in Katalonien zu einer relevanten politischen Kraft geworden. Als Regionalismus bezeichnet wird der Versuch, eine regionale Struktur und ein Programm von "innen" zu gestalten, indem ein Akteur in das politische System integriert wird, der diese Interessen widerspiegeln kann.
Schlussendlich soll der Begriff des Separatismus festgelegt werden, der als Folge eines extremen regionalen Nationalismus die Maximalforderung einer Sezession formuliert. Separatismus beschreibt gemeinhin die politische Absicht eines bestimmten Teils der Bevölkerung, sich aus einem zentral organisierten Staatenverbund zu lösen, um einen eigenen Staat zu gründen oder sich einem anderen bereits existierenden Staat anzugliedern. Das Beispiel Katalonien zeigt, dass es meist vielschichtige Gründe sind, die eine Separationsbewegung erstarken lassen – sprachliche, kulturelle oder ökonomische. Das Verhältnis zum Zentralstaat und die (eingeschränkten) Möglichkeiten, eine autonome Region auszugestalten, spielen ebenfalls eine Rolle. Ungelöste Fragen nach dem Status einer Nation oder ethnische Konfliktlinien, die nicht miteinander in Einklang zu bringen sind, sind weitere Ursachen.
Historische Einordnung des Katalonien-Konflikts
Historisch wird der Konflikt in Katalonien auf die Geschichte der vergangenen 300 Jahre zurückgeführt. Schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts besaß Katalonien politisch eine Sonderverfassung, die es rechtlich vom gesamtspanischen Konstrukt abhob. 1714, noch heute als Schicksalsjahr der katalanischen Bevölkerung gehandelt, brachte radikale Veränderungen mit sich: Nach jahrelangen Auseinandersetzungen mit den Bourbonischen Truppen des spanischen Königs Philipp V. musste Barcelona am 11. September 1714 kapitulieren.
Wie viele Länder in Europa war auch Spanien in den 1920er Jahre von Krisen geprägt. Generalstreiks, Kämpfe innerhalb des Militärs und ein Aufkeimen des katalanischen Nationalismus setzten das zentralistische System unter Druck. Als 1923 der General Miguel Primo de Rivera in Madrid die Macht ergriff, wurde jede Form des Separatismus unterdrückt. Rivera verfolgte eine antikatalanische Politik,
Der spanische Bürgerkrieg zwischen 1936 und 1939 veränderte die Rahmenbedingungen, die starke Machtposition Kataloniens wurde durch Francisco Franco abgeschafft. Auch die aus dem Bürgerkrieg resultierende Machtübernahme Francos 1939 prägte das katalanische Selbstverständnis. Es folgte eine repressive Herrschaft, in der Franco Katalonien besetzen ließ, weswegen führende Kräfte ins Exil nach Frankreich flohen. Per Dekret wurde das Statut von Nuria aufgehoben, das Katalanische verlor den Status als offizielle Sprache und wurde aus dem öffentlichen Leben verbannt, kurzum: Franco wollte jegliches regionales Nationalbewusstsein unterbinden und setzte dies – auch mithilfe ökonomischer Sanktionen – durch.
Die katalanische Identität fand in der Folge zivilgesellschaftlich statt, eine wirtschaftspolitische Neuausrichtung unter Franco sorgte für eine Phase beschleunigter Industrialisierung in Katalonien. Die Region blühte in den 1960er Jahren kulturell wieder auf, die Vitalität der regionalen Identität wurde sichtbar, und zugleich fand eine Politisierung der antifranquistischen Bewegung statt, die zuvor lediglich im Untergrund agiert hatte. Aus den zahlreich entstandenen Gruppierungen trat 1971 die Assemblea de Catalunya hervor, ein Zusammenschluss von Verbänden und Gemeinden unterschiedlichster Couleur.
Zwischen den katalanischen Parteien, die sich im Verlauf der Transición bildeten, lag ein Konsens vor, die Strukturen des Einheitsstaats zu brechen. Vor allem die sozialistische Partit Socialista de Catalunya (PSC) und die christdemokratische Convergencia Democratica de Catalunya (CDC) forderten Autonomie und gingen aus der Wahl 1977 für die verfassungsgebende Cortes gestärkt hervor. Mit dem Statut von Sau fand der langwierige Autonomieprozess und die Wiederherstellung der Generalitat ein vorläufiges Ende. Das vorgeschlagene Kompetenzniveau wurde zwar durch das spanische Parlament gesenkt, jedoch bestand die Generalitat dem Statut nach aus einem Parlament, das den katalanischen Haushalt verabschieden konnte und zugleich Gesetzgebungsbefugnisse besaß.
Die bürgerlich nationalistische CiU (Convergència i Unió) prägte nach ihrem Wahlerfolg im März 1980 fortan für die nächsten Jahrzehnte die katalanische Politik. Mit dem Wahlerfolg begann die 23 Jahre lang andauernde Ära Jordi Pujols. Getrieben vom Charisma und der Persönlichkeit Pujols erfolgte eine Personalisierung der katalanischen Politik.
Die Forderungen nach einem gesteigerten Kompetenzniveau wurden spätestens ab 2004 virulent. Mit der Esquerra Republicana (ERC) gewann eine für den Separatismus eintretende Partei signifikant an Stimmen. Der Eintritt der ERC in die Regierung unter dem Sozialisten Pasqual Maragall als Regierungschef bedeutete qualitativ eine andere Ebene der Forderungen nach Autonomie und einem neuen Statut. Auch in Madrid war Dialogbereitschaft vorhanden; der Sozialist José Luis Zapatero versprach, die Reform des Statuts zu einem seiner Kernstücke in der Regierungstätigkeit zu machen.
Durch ein Autonomiestatut wollte die katalanische Regierung das Geflecht zwischen Madrid und Barcelona strukturieren: Eine Neuordnung der Kompetenz- und Finanzzuweisungen sollte wie der plurinationale Charakter Spaniens geregelt werden. Das aktualisierte Statut wurde von beiden Kammern des spanischen Parlaments verabschiedet und im Juni 2006 ratifiziert, die Durchsetzung des Statuts schien trotz Verwässerung durch Madrid auf einem guten Weg.
Doch die Situation eskalierte wenig später mit einer Verfassungsklage der christdemokratischen Partido Popular (PP) gegen das Statut. Begründet wurde dieser Schritt mit dem Risiko einer möglichen Anerkennung Kataloniens als Nation. Vier Jahre später traf das Verfassungsgericht eine Entscheidung: Das Urteil besagte, dass 14 der 223 Artikel verfassungswidrig seien, insbesondere Kompetenzen in Fiskalfragen. Folge dessen war eine Mobilisierung der Kräfte – noch heute wird das Urteil als maßgeblicher Indikator der Ereignisse 2017 gesehen, die politischen Vertreter sahen sich in ihrem Selbstentscheidungsrecht beschnitten. Unmittelbar nach dem Urteil gingen in Barcelona hunderttausende Demonstranten auf die Straße und forderten ihr Recht auf Selbstbestimmung ein. Verschärft wurde die Situation in dieser Phase durch die europäische Finanz- und Wirtschaftskrise, von der Katalonien stark betroffen war – unter anderem stieg die Arbeitslosigkeit von 9,4 (2004) auf über 18 Prozent (2010). Erkennbar ist daher ein Zusammenhang zwischen dem Aufkommen einer zivilgesellschaftlichen Bewegung, die sich explizit für die Sezession ausspricht, und einem Umschwung auf der politischen Ebene, bei dem das Thema seit 2010 von Jahr zu Jahr stärker verbalisiert wurde.
Bei der Regionalwahl im November 2010 konnte die CiU mit ihrem Spitzenkandidaten Artur Mas nach sieben Jahren wieder die Mehrheit erlangen. Ein Jahr später fand in Spanien die vorgezogene Parlamentswahl statt, bei der die PP die sozialistische Partido Socialista Obrero Español (PSOE) ablöste und Mariano Rajoy Ministerpräsident wurde, der bis zu seiner Abwahl im Juni 2018 den Separationsbestrebungen äußerst kritisch gegenüberstand. Schon zu diesem Zeitpunkt ließ sich eine erste Radikalisierung der Unabhängigkeitsbestrebungen erkennen. Mas, zuvor aus Rücksicht gegenüber dem wirtschaftsliberalen Flügel seiner Partei eher vorsichtig in den Formulierungen, sprach sich für eine Sezession aus.
Zuspitzung des Konflikts ab 2014
Erstmalig wurden im Februar 2013 Ideen über die Abhaltung eines Referendums diskutiert, als Mas einen Rat der nationalen Transición einsetzte, der die juristischen Voraussetzungen prüfen sollte. Rajoy beharrte darauf, dass die Abstimmung in ganz Spanien stattfinden oder aber die katalanische Regierung sich um eine Verfassungsänderung bemühen müsse. Dies war aber utopisch, da weder das Kabinett Rajoy noch die Regierungsfraktion zu Gesprächen bereit waren. Rajoy verwies auf Artikel 147, nach dem die spanische Verfassung keine provinzielle oder lokale Souveränität kennt.
Letztendlich wurde nach zahlreichen fehlgeleiteten Wegen, die Befragung (legal) vorzunehmen,
Bei der Wahl konnten die separatistischen Parteien die absolute Mehrheit erzielen, jedoch nicht die Mehrheit der Stimmen der Wahlberechtigten einholen (47,7 Prozent zu 51,7 Prozent). Junts Pel Si erreichte 62 Sitze, die neomarxistische Candidatura d’Unitat Popular (CUP) zehn, was eine Mehrheit aufgrund des besonderen Wahlsystems ermöglichte.
Eskalation rund um das Referendum am 1. Oktober 2017
Madrid sah auch nach dem Amtswechsel keine Basis für Verhandlungen. Für die katalanische Regierung stand fest, dass eine Sezession das einzig logische Ergebnis von Verhandlungen wäre. Ein erster Indikator für die Zuspitzung des Konflikts, der im Verlauf des Jahres 2017 kontinuierlich verschärft wurde, fand sich in der Ankündigung vom 9. Juni 2017 wieder, als Puigdemont ein Referendum für den 1. Oktober festlegte. Die Katalanen sollten dabei die Fragestellung "Wollen Sie, dass Katalonien ein unabhängiger Staat in Form einer Republik ist?" beantworten. Idealtypisch wird nach Vorstellung der Regierung Katalonien eine Republik, die sowohl der EU als auch der Eurozone und der NATO angehört. Umfragen sahen Puigdemont in seinem Vorhaben bestärkt: Drei Viertel der spanischen Bevölkerung meinten, dass das Vorgehen Rajoys den Konflikt eher verschärfen würde,
In Katalonien gewannen nach dem Referendum die "Stimmen von der Straße"
Die Wahlliste Puigdemonts Junts per Catalunya ging mit 34 Mandaten als Siegerin hervor. Ähnlich wie bei der Wahl 2015 konnten die separatistischen Bewegungen zwar die Mehrheit erzielen (70 von 135 Mandaten), das Kräfteverhältnis wippte leicht zugunsten Spaniens, da die liberale, sich gegen die Unabhängigkeit aussprechende Ciudadanos Stimmen dazu gewann. Das Wahlergebnis brachte wenig Veränderung, auch ließen die justiziablen Ermittlungen den Ton schriller werden. Da die ERC keine Wiederwahl Puigdemonts akzeptierte und dieser nicht nach Spanien einreisen konnte, wurde nach langen Verhandlungen Mitte Mai 2018 Quim Torra als Regionalpräsident gewählt, der politisch Puigdemont nahe steht, aber von der veränderten Situation in Madrid profitierte und eher den Dialog mit der Zentralregierung suchen konnte. Daher sprach Torra kurz nach der Übernahme des Amtes zwar davon, das "Mandat des 1. Oktober" aufrechtzuerhalten, allerdings will er keine "unilateralen Wege" gehen und andere Lösungen der Konfliktbefriedung suchen.
Aktuelle Debatten und Entwicklungen in Katalonien
Zwei Aspekte prägen die Debatte in Katalonien derzeit in besonderem Maße: Zum einen ist dies die veränderte Lage in Madrid: Die sozialistische PSOE übernahm mit Pedro Sánchez aufgrund eines Misstrauensvotums Anfang Juni 2018 Regierungsverantwortung. Zum anderen ist die katalanische Separationsbewegung nach wie vor aktiv und verfolgte zuletzt vor allem eine Internationalisierung des Konflikts, was durch die Flucht Puidgemonts nach Brüssel und dessen kurzzeitige Inhaftierung in Deutschland gelang. Zwar brachte die Polizeigewalt am 1. Oktober 2017 nicht wie von den Separatisten erhofft internationale Solidarisierung, da sowohl die EU als auch die Vereinten Nationen und die Vereinigten Staaten den Schulterschluss mit Rajoy suchten.
Auch wenn Sánchez und die PSOE das Referendum abgelehnt und die Absetzung der Regionalregierung durch Artikel 155 mitgetragen haben, verlor der Konflikt zuletzt an Schärfe. Das zeigt sich sowohl durch die personelle Besetzung einzelner Ministerien
Fazit
Deutlich wird bei einer Analyse der separatistischen Bewegung in Katalonien, dass ein Großteil der Bevölkerung eine Veränderung des Status quo will; zwar hat eine Abspaltung Kataloniens keine demokratische Legitimation, ein "Weiter so" erscheint in dem Konflikt aber nicht sinnvoll. Ähnlich dem Abstimmungsverhalten des Brexit ist Katalonien derzeit in zwei Lager unterteilt, was dadurch bedingt wird, dass die nordspanische Region eine traditionelle Einwanderungsgesellschaft ist, die zwar stark plural ist, durch den Nationalismus mit Elementen kultureller Souveränität aber Forderungen nach Sezession ableitet. Die katalanische Gesellschaft ist keine homogene, was auch die Vorbehalte gegenüber einer Abspaltung in den urbanen Regionen erklärt. Diese Heterogenität kann künftig für politische Instabilität sorgen, zumal seit 2014 Bündnisse wie die Societat Civil Catalan mit Befürwortern eines Verbleibs Kataloniens in Spanien auf die Straße gehen. Primär sind es jedoch historische und aus dem Aufbau des spanischen Staates entwickelte Probleme, die die Grundlage der katalanischen Separationsbestrebungen bilden. Als während der Transición die spanische Dezentralisierung entwickelt wurde, legte man die Ungleichheit zwischen den Regionen durch die Verfassung fest. Eine sukzessive Angleichung in den Jahren darauf wurde von den Katalanen nicht akzeptiert, zumal multinationale Elemente, die die verschiedenen Teile Spaniens miteinander verbinden könnten, nicht vorhanden sind.
Die politische Entwicklung gepaart mit historischen Erfahrungen und der ökonomischen Krise in Spanien bildeten das Fundament dafür, dass ab 2012 aus dem gemäßigten Nationalismus ein radikaler Separatismus wurde. Die regionale Identität ist in Katalonien stark ausgeprägt, jedoch bedarf es zusätzlich ökonomischer Faktoren, die den Konflikt ausarten ließen. Katalonien, ähnlich wie die Region Madrid mit etwa 19 Prozent am spanischen BIP beteiligt, gilt als industrialisierte Region, die zudem vergleichsweise exportstark ist. Zwar kann von einer ökonomischen Dominanz nicht zwingend gesprochen werden, dennoch leistete Katalonien in Spanien einen beträchtlichen Anteil bei der Bewältigung der Krise.
Separatistische Bewegungen in Europa fordern nationale Souveränität, Demokratie und Partizipation ein. Jedoch fördert dies auch Missgunst und Streit, etwa um territoriale Grenzen, wenn etwa die CUP ein "Gesamt-Katalonien" bilden will, das auch Teile Frankreichs umfassen soll. Der Separatismus in Spanien wird so lange bestehen, bis ein gesellschaftlicher Konsens gefunden ist. Separatismus lässt sich nicht mit Polizisten oder Paragrafen nachhaltig lösen, sondern mit Dialog, Begegnungen und Vertrauen.