Der Hindu-Nationalismus in Indien hat eine jahrzehntelange politische Tradition. Lange bevor in Europa und den USA nationalistische und rechtspopulistische Parteien und Politiker ihre gegenwärtige Bedeutung erreichten, stellte die hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP, "Indische Volkspartei") die Regierung in Neu-Delhi. Nach ihrer zwischenzeitlichen Abwahl kehrte sie 2014 unter dem umstrittenen Parteiführer Narendra Modi triumphal an die Macht zurück und schickt sich an, die indische Gesellschaft nachhaltig zu verändern.
Die Ursprünge des modernen Hindu-Nationalismus liegen in der Zeit der britischen Kolonialherrschaft über Südasien. Im 19. Jahrhundert begannen die Briten, hinduistische Traditionen und religiöse Praktiken zu kritisieren. Vor allem christliche Puritaner waren entsetzt über die "Götzenanbetung" und Vielgötterei der Hindus. Sie wiesen verstärkt auf die Missstände des Kastenwesens, auf die problematische Rolle der Frau im Hinduismus und auf die verabscheuenswürdigen Traditionen der Kinderheirat und der Witwenverbrennung (Sati) hin. Manche gebildeten, englischsprachigen Hindus zeigten sich durchaus empfänglich für diese Kritik. Sie reagierten aber nicht mit der von den Briten erwarteten Konvertierung zum Christentum, sondern versuchten, innerhalb ihres eigenen Glaubens Verbesserungen zu bewirken. Im Umfeld religiöser Reformatoren entstanden neo-hinduistische, puristische Erweckungsbewegungen, die versuchten, den Hinduismus von innen heraus zu erneuern. Sie übernahmen die christlichen Kritikpunkte, nicht aber das Christentum.
Mit den neo-hinduistischen Reformbewegungen in Indien waren auch Bestrebungen verbunden, eine vermeintlich vormals existierende, glorreiche "arische" Zivilisation wieder aufleben zu lassen, die im Laufe der Jahrhunderte verkümmert sei.
Die "Hindu-Nation"
Der Fortgang dieser Bewegung und die Definition einer nationalen Hindu-Identität wurden besonders stark von Vinayak Damodar Savarkar geprägt, dem vielleicht wichtigsten ideologischen Vordenker des modernen Hindu-Nationalismus. Mit seinem 1923 in Haft entstandenem Buch "Hindutva: Who is a Hindu?" schuf er eine Art Grundsatzprogramm des politischen "Hindutums" (Hindutva), das bis heute Gültigkeit beansprucht.
Mit seinem Werk hatte Savarkar nichtsdestotrotz eine für Hindu-Nationalisten selbstverständliche Wahrheit klar umrissen: "Indien ist das Land der Hindus, die indische Nation ist eine Hindu-Nation, Inder zu sein heißt Hindu zu sein."
Diese radikale Vision Golwalkars wurde allerdings nicht das Leitbild des unabhängigen Indiens. Der politische Einfluss der Hindu-Nationalisten blieb zunächst begrenzt. Sie hatten in der Unabhängigkeitsbewegung gegenüber einem übermächtigen Indian National Congress (INC, "Kongresspartei") nur eine nachrangige Rolle gespielt und gravierende organisatorische Nachteile gegenüber der indienweit perfekt eingespielten Kongress-Maschinerie. Nach der Ermordung Gandhis durch das RSS- und Hindu Mahasabha-Mitglied Nathuram Godse 1948 wurde der RSS verboten.
Ayodhya und der politische Aufstieg
Die "Politik der Angst" und die Konstruktion eines bedrohlichen "Anderen" haben sich für hindu-nationalistische Parteien wie die BJP als überaus wirksame Instrumente zur politischen Mobilisierung erwiesen und ihren politischen Aufstieg begleitet und ermöglicht.
Die Stadt Ayodhya in Nordindien wird von Hindu-Nationalisten als Geburtsstätte des Gottes Rama, der siebenten Inkarnation des Vishnu, angesehen. Seine Lebensgeschichte, das Ramayana ("Weg des Rama"), zählt zu den bedeutendsten Epen Indiens und gilt als ein zentrales Element des Hindu-Glaubens. Die folgenschwere Kontroverse bezieht sich auf eine Moschee, die 1528 vom ersten indischen Großmogul Babur in Ayodhya errichtet und als Babri Masjid ("Baburs Moschee") bekannt wurde. Hindu-Nationalisten behaupten, dass die Moschee genau an der Geburtsstelle Ramas gebaut und ein hier zuvor befindlicher, Rama geweihter Hindu-Tempel zerstört wurde. Seit Mitte der 1980er Jahre forderten hindu-nationalistische Organisationen wie der Vishwa Hindu Parishad (VHP, "Welt-Hindu-Rat") immer lautstärker den Abriss der Babri Masjid und die Befreiung Ramas aus seinem "muslimischen Gefängnis".
Die Ayodhya-Kampagne erwies sich für die Hindu-Nationalisten als effektive Mobilisierungsstrategie. Die Betonung des Hindu-Muslim-Gegensatzes als unauflöslicher Konflikt in der Geschichte Indiens und das Schüren von Überfremdungsängsten wurden wesentlicher Teil der politischen Rhetorik, beispielsweise in den Reden der radikalen Aktivistin Sadhvi Rithambara. Der immer lautere Ruf nach Taten führte schließlich am 6. Dezember 1992 zur Zerstörung der Babri Masjid, als hunderttausende Anhänger von RSS und VHP die Moschee zum Teil mit bloßen Händen dem Erdboden gleichmachten und damit das Signal für landesweite Unruhen mit zahlreichen Todesopfern gaben. Das umstrittene Gelände wurde abgesperrt und aufgrund ungeklärter Eigentumsfragen bis heute nicht für den Bau des Rama-Tempels freigegeben. Die BJP übernahm die politische Verantwortung für den Abriss der Babri Masjid und feierte die Tat als Symbol für die Überwindung der muslimischen Fremdherrschaft über Indien. Meinungsumfragen zeigten jedoch, dass eine Mehrheit der indischen Bevölkerung die Zerstörung der Moschee nicht billigte.
Von Ayodhya nach Gujarat
Im westindischen Bundesstaat Gujarat, einer Hochburg der BJP und Heimat des amtierenden Premierministers Narendra Modi, zeigt sich seit Mitte der 1990er Jahre exemplarisch die Verfestigung der politischen Macht der Hindu-Nationalisten. Die BJP nutzte eine Strategie der gesellschaftlichen Polarisierung und den Ausbruch von Gewalt auf kommunaler Ebene für ihre Zwecke. Im Februar 2002 kam es nahe des Bahnhofs Godhra im Bundesstaat Gujarat zu einem Brand in einem Zug mit Hindu-Pilgern, der sich auf der Rückreise aus Ayodhya befand. Die Brandursache ist bis heute nicht vollständig geklärt, knapp 60 Hindus starben in den Flammen.
Die erschreckende Bilanz der Ausschreitungen waren mindestens 2.000 überwiegend muslimische Tote, ungezählte Körperverletzungen und Vergewaltigungen, die Zerstörung von etwa 270 Moscheen und islamischen Heiligtümern, die Plünderung und Brandschatzung tausender muslimischer Geschäfte und die Vertreibung von schätzungsweise 150.000 Menschen.
Übernahme der nationalen Macht
Auf nationaler Ebene konnte sich die BJP seit Beginn der 1990er Jahre auf ein stabiles Stimmenpotenzial von 20 bis 23 Prozent stützen. Das genügte dank der Verzerrungen des Mehrheitswahlrechts, um nach der Parlamentswahl 1996 zum ersten Mal die meisten Sitze im indischen Unterhaus (Lok Sabha) zu stellen. Die Schwäche des INC und die Uneinigkeit der übrigen Parteien spülten die BJP kurzzeitig in Neu-Delhi in die Regierungsverantwortung. 1998 übernahm die BJP mit Premierminister Atal Behari Vajpayee an der Spitze einer breiten Koalition erneut die Regierung und gewann nach dem Zerfall des Bündnisses auch die vorgezogene Wahl 1999. Die neue Allianz erwies sich als stabiler und trug die Hindu-Nationalisten über eine komplette Legislaturperiode. Die Heterogenität des Bündnisses zwang die BJP jedoch zu einer pragmatischen und moderaten Politik und verhinderte die Durchsetzung einer nationalen "Hindu-Leitkultur".
Spätestens jetzt wurde deutlich, dass die Hindutva-Karte allein nicht genügen würde, um dauerhaft auf nationaler Ebene ernsthaftes Machtpotenzial entfalten zu können. Neben die Propagierung einer geschlossenen Hindu-Identität und dem Versuch, aus dem säkularen ein hinduistisches Indien zu machen, trat nun verstärkt ein weiteres politisches Standbein: ökonomische Reformen. Erneut war Gujarat das "Labor" der Hindu-Nationalisten. Modi hatte hier als Ministerpräsident mit einer klassisch neoliberalen Wirtschaftspolitik im indischen Vergleich überdurchschnittliche Wachstumsraten erreicht. Dabei musste sich die BJP keineswegs völlig neu erfinden. Unternehmerfreundliche Klientelpolitik gehörte schon immer zum Kern der mehrheitlich im städtischen und höherkastigen Milieu angesiedelten Partei. Auch ideologisch ist ein neoliberaler Marktradikalismus durchaus anschlussfähig an Hindutva-Prinzipien.
Die ausgeprägte Wechselstimmung ließ die BJP einen Anti-Establishment-Wahlkampf gegen die von Korruptionsskandalen erschütterte INC-Regierung führen. Hindu-nationalistische Rhetorik spielte lediglich eine untergeordnete Rolle, auch Modi hielt sich hierbei auffällig zurück. Stattdessen wurden seine bescheidene Herkunft aus einer niederen Kaste und sein asketisches, abstinentes und zölibatäres Leben als RSS-Funktionär stärker in den Mittelpunkt gestellt. Zum Image des "Machers" kam damit das Bild des unabhängigen und nicht korrumpierbaren Außenseiters, der nur das Wohlergehen der Nation im Sinn hat und hierbei weder an sich selbst denkt noch einer Familiendynastie verpflichtet ist – für viele Wähler genau der richtige Mann, um die lange verschleppten Reformen in Neu-Delhi anzugehen und dem gesamten Land neuen Schwung zu geben. Die persönliche Popularität dieses "neuen" Narendra Modis trug die BJP zu einem Wahltriumph, der in dieser Form kaum vorherzusehen war. Der BJP glückte, was zuvor nur dem INC in der Hochphase seiner Macht gelang, nämlich eine absolute Mehrheit in der Lok Sabha zu erreichen. Ein solches Szenario war angesichts eines stark ausdifferenzierten, zunehmend fragmentierten und regionalisierten Parteiensystems in Indien von den meisten Experten ausgeschlossen worden.
Auf dem Weg in einen Hindu-Staat?
An der grundlegenden Zielsetzung des hindu-nationalistischen Projekts mit der Homogenisierung des Hindu-"Volkskörpers" hat sich seit den Tagen Savarkars und Golwalkars wenig geändert; das republikanische Modell indischer Politik wird abgelehnt. Anstelle des säkular-pluralistischen Staatswesens soll ein Hindu-Suprematismus mit korporatistischen Elementen treten. Die föderale Struktur Indiens soll einem starken, homogenen Zentralstaat weichen. Der Universalismus demokratischer Teilhabe soll langfristig durch den Hegemonialismus einer "Hindu-Demokratie", in der nur vollwertige Hindus zugelassen sind, ersetzt werden.
Die Versuche, diese Ziele zu erreichen, vollziehen sich weniger politisch-institutionell als vielmehr gesellschaftlich-kulturell. Es deutet wenig darauf hin, dass die BJP ernsthaft den formalen Versuch unternehmen könnte, die säkulare Verfassung und damit die Grundfesten der indischen Demokratie strukturell zu verändern. Die größere Gefahr für ein freiheitlich-demokratisches Zusammenleben in Indien geht von den hindu-nationalistischen Organisationen aus, die außerhalb des politischen Spektrums agieren.
Ohnehin hat die hindu-nationalistische Administration schon nach kurzer Zeit für eine spürbare Veränderung der politischen Kultur gesorgt, in der sich die Grenzen des Denk- und Sagbaren verschieben. Führende Hindutva-Vertreter liefern sich einen bizarren Überbietungswettstreit um die Frage, wie viele Kinder eine gute und vaterlandsliebende Hindu-Frau zum Wohle der Hindu-Nation zur Welt bringen sollte – vier, sechs oder doch lieber gleich zwölf? Parlamentsabgeordnete und Kabinettsmitglieder mit RSS-Verbindungen greifen religiöse Minderheiten mit "Hassreden" an, bezeichnen Muslime als "Bastarde" und feiern den Gandhi-Attentäter Godse als "Patrioten".
Nichtsdestotrotz verweisen optimistische Beobachter darauf, dass das Fundament der Demokratie in Indien gefestigt ist und sich auch die BJP-Regierung freien und fairen Wahlen stellen muss.