Der Nationalstaat, so ist in wissenschaftlichen wie öffentlichen Diskussionen seit Anfang des Jahrtausends oft zu hören, sei an sein historisches Ende gelangt. Popularisiert wurde dies in der Vorstellung, die Politik werde von den multinationalen Konzernen ihrer Richtlinienkompetenz beraubt. Zunehmend gewinnt die völkische Variante Zulauf, etwa in der Kritik des AfD-Politikers Björn Höcke, Staaten seien zu "Wurmfortsätzen global agierender Konzerne gemacht" worden.
Zum anderen ist aktuell eine Re-Nationalisierung innerhalb Europas zu beobachten, die eher auf postdemokratische Verhältnisse als auf eine Auflösung von Nationalstaaten verweist. Hier ist die Nation das Natürliche, Organische oder, wie es die extrem rechte Zeitschrift "Sezession" formuliert, die "natürliche Ordnung",
Doch dem Aufstieg rechtspopulistischer bis -extremer Parteien und ethnoseparatistischer Bewegungen werden in den vergangenen Jahren neue Versuche entgegengestellt, jenseits der Nation zu denken. Vielfach geschieht dies in Form einer angestrebten Europäisierung, etwa durch die zivilgesellschaftliche "Pulse of Europe"-Bewegung oder durch die "European Alternatives", einem Zusammenschluss von Intellektuellen sowie Aktivistinnen und Aktivisten, der sich seit 2007 für "Demokratie, Gleichheit und Kultur jenseits des Nationalstaates" einsetzt.
Auch in der Wissenschaft sind vermehrt Stimmen zu vernehmen, die statt der Re- eine De-Nationalisierung einfordern: So konstatierte die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot unlängst "Wir brauchen die Nation nicht mehr".
Migrationsbewegungen und "kleine Kosmopolitismen"
Die nationalstaatliche Form hat sich inzwischen zwar global durchgesetzt, dennoch zeigt sich auch heute, dass an ein "Du bist Deutschland" – so der Titel einer nationalen Marketing-Kampagne aus dem Jahr 2005 – stets wieder appelliert werden muss. Denn die Nation wird immer wieder verunsichert, schließlich behauptet sie Einheit, wo realiter gerade entlang von Klassenstrukturen fragmentierte Gesellschaften existieren. Neben regionalen separatistischen Bestrebungen – etwa in Katalonien oder Schottland –, die Aushandlungsprozesse innerhalb der nationalen Form darstellen, wird dies durch nichts deutlicher veranschaulicht als durch Migration. Nicht ohne Grund kam es im Sommer 2015 im Zuge der großen Fluchtbewegungen zu Diskussionen um zentrale Leitbilder und Selbstverständnisse der Nation. Die Realität und Selbstverständlichkeit von (Flucht-)Migrationsbewegungen stellten eine Herausforderung für europäische Länder dar. Denn nur ein Staat oder ein Staatenverbund, der über die eigene Grenze verfügt und damit Einwanderung kontrollieren kann, besitzt die behauptete Souveränität. An den Grenzen Deutschlands, Österreichs, Mazedoniens und anderswo unterwanderten Geflüchtete jedoch kollektiv die staatlichen Regulierungsversuche und stellten somit zeitweise ein ordnungspolitisches Problem dar.
Beim sogenannten March of Hope machten sich Tausende vom Budapester Bahnhof, von dem die ungarische Regierung sie nicht weiterreisen ließ, zu Fuß über Österreich nach Deutschland auf. Im Sinne einer "Autonomie der Migration" (Manuela Bojadžijev/Sandro Mezzadra) fanden in diesem kurzen Zeitfenster Geflüchtete nicht nur mehr Schlupflöcher an den Grenzen, sondern destabilisierten sogar kurzzeitig Grenzpolitiken als solche.
Im Herbst 2015 stellten sich nationalstaatliche und europäische Binnengrenzen als Reaktion auf die Migrationsbewegungen also als fluide dar und gleichzeitig die in der Vergangenheit erlangte europäische Grenzenlosigkeit im Schengen-Raum als fragil. Die erneute Schließung verdeutlicht, dass Migrationsbewegungen sicherlich nicht automatisch eine postnationale Welt herstellen. Aber sie zeigen doch immer wieder, und zwar unabhängig von der subjektiven Motivation der Teilnehmenden, dass Grenzziehungen historisch konstruiert und kontingent sind – und somit auch veränderbar.
Im Herbst 2015 geschah allerdings noch mehr: Als Geflüchtete beim "March of Hope" kollektiv die österreich-ungarische Grenze überquerten, trugen sie eine Europaflagge. Dabei wurde nicht nur der Staatenverbund an seine eigenen propagierten normativen Werte erinnert und an diese appelliert, sondern geflüchtete Menschen aus Kriegs- und Krisenregionen forderten Zugehörigkeit ein und proklamierten ihre Mitgliedschaft, trotz des formalen Ausschlusses durch Staatsbürgerschaft (citizenship). Sie hinterfragten damit nationalstaatlich begrenzte Konzepte von Teilhabe und Bürgerrechten. Diese "Europäisierung von außen" mahnte an die Werte der ad acta gelegten postnationalen Konstellation und stellte sie gleichzeitig ein Stück weit her.
Migration hat aber nicht nur das Potenzial, nationalstaatliche Grenzen von außen porös zu machen. Sie stellt ihre Selbstverständlichkeiten auch von innen infrage, durch Lebensrealitäten, die nicht mehr an Herkunft oder Nation gebunden sind, sondern sich multilokal verorten. So ist es nicht ungewöhnlich, dass Geflüchtete aus Damaskus sich auf ihrer Flucht über einen längeren Zeitraum in der Türkei aufhalten, die Sprache lernen und Kontakte knüpfen, die sie auch nach ihrer Ankunft in Deutschland aufrechterhalten. Möglicherweise stellt Berlin ihren neuen Lebensmittelpunkt dar: Hier machen sie sich selbstständig, und ihre Kinder gehen in den Kindergarten oder zur Schule. Zugleich pflegen sie weiterhin intensive soziale Beziehungen zu Freunden und Familie in Syrien oder der Türkei und zu anderen Verwandten, die etwa in die USA oder nach Schweden geflohen sind. Neben der lokalen Eingebundenheit in Berlin werden parallel transnationale Bezüge erhalten, soziopolitische wie kulturelle Verbundenheit erstreckt sich über verschiedene Länder.
So entstehen neue soziale Räume, die als postnational charakterisiert werden können. Sie verweisen auf Veränderungen in globalen Migrationsbewegungen, bei denen Migration immer seltener die unidirektionale, lineare Wanderung von Land A nach Land B mit anschließender dauerhafter Niederlassung bedeutet. Stattdessen finden sich Formen von Pendelmigration – etwa das dauerhafte Leben zwischen Istanbul und Essen, zwischen New York und Berlin – oder von Zirkelmigration – von Afghanistan über mehrere Jahre im Iran nach Deutschland und zurück nach Afghanistan. Beides hat weitreichende Auswirkungen, etwa auf transnationalisierte Familienkonstellationen, die im Rahmen globaler Betreuungsketten (care chains) entstehen. Formen von flexibilisierter Bürgerschaft gehen einher mit Veränderungen auf der Ebene der Identifikation, wo – entgegen der Vorstellung abgeschlossener kultureller Entitäten im Konzept des Multikulturalismus – hybride Identitätsentwürfe das Selbstbild vieler junger (Post-)Migranten und Migrantinnen prägen.
Aktuelle Migrationsbewegungen stellen also die nationalstaatliche Form aus zwei Richtungen infrage: von außen, durch die Realität gegenwärtiger Formen von Flucht- und Arbeitsmigration, und von innen, durch die damit einhergehenden veränderten Identitäten. Hier scheinen postnationale Praktiken auf, wenn auch weniger als explizites politisches Projekt denn vielmehr als oftmals individueller und zufälliger Ausdruck einer soziokulturellen Kondition.
Städte der Zuflucht
Daneben existieren aber auch postnationale Praktiken, die geplant und kollektiv, als politisches Projekt, vollzogen werden. Ein Beispiel sind die seit den 1970er Jahren in den USA und Kanada zahlreich entstandenen sogenannten sanctuary cities oder Städte der Zuflucht – darunter New York, Los Angeles oder Toronto –, die auf Grundlage eines Spannungsverhältnisses der Kommunen gegenüber dem Nationalstaat existieren: Als Orte der Durchsetzung nationalstaatlicher Politik sind Kommunen einerseits "zentraler Ort des Vollzugs der gesellschaftlichen Grenzziehung zwischen erwünschten und unerwünschten Zuwanderern".
Indirekt angeknüpft wird in diesen Praktiken an das "Recht auf Stadt", das der Soziologe Henri Lefebvre propagiert hat und bei dem das Leben an einem Ort zu Mit- und Umgestaltung desselben berechtigen soll. Denkbar gemacht wird damit auch ein anderes Verständnis von Staatsbürgerschaft, dem eine Form der "Stadtbürgerschaft" entgegengesetzt wird. In einigen Städten findet dies auch materiellen Ausdruck, werden doch kommunale Ersatzdokumente ausgestellt. Auch hierfür gibt es historische Vorläufer: Neben dem ius sanguinis und dem ius soli gab es etwa bis in das 19. Jahrhundert hinein das ius domicilii, also ein von Gemeinden kontrolliertes Niederlassungsrecht.
Überhaupt sollte nicht vergessen werden, dass das, was wir heute als weltweit standardisiertes Passwesen kennen, keine 100 Jahre alt ist und bei seiner Entstehung 1920 durchaus umstritten war. In der Resolution der Tagung des Völkerbunds, auf der der moderne Reisepass aus der Taufe gehoben wurde, hieß es sogar, man erhoffe in der näheren Zukunft die totale Abschaffung von Reiseeinschränkungen. Und noch 1926 forderte der Vertreter der Internationalen Handelskammer auf der Passkonferenz des Völkerbundes, die Abschaffung von Pässen zu erwägen – die öffentliche Meinung würde dies sicher als einen Schritt in die richtige Richtung wahrnehmen.
Versuche, solche Stadtpolitiken durchzusetzen, stellen dabei die Nation und damit einhergehend auch nationale Identitäten von zwei Seiten infrage: von Seiten der Kommunen, die Ordnungsprinzipien teilweise unterlaufen und andere Zugehörigkeitskriterien als die Staatsbürgerschaft für ein kommunales Wir in den Mittelpunkt stellen; und von Seiten der Subjekte, die Teilhabe einfordern, auf Grundlage ihrer Präsenz, nicht ihres Passes.
Widersprüche des Postnationalen
Verschiedene Praktiken der transnationalen, postmigrantischen Gegenwart, so wurde gezeigt, verweisen über das Nationale hinaus. Aber wie das doing nation stellt sich auch das undoing nation voller Widersprüche und Diskontinuitäten dar. Umso mehr, als dass das Nationale nahe lag und liegt, schließlich verinnerlichen Subjekte die objektiven Bedingungen einer Welt der Nationalstaaten, von deren Erfolg in der ökonomischen und politischen Konkurrenz auch ihre Lebenssituation abhängt. Eine ähnliche Tendenz, die das undoing nation vorantreiben könnte, gibt es weder in ökonomischer noch in politischer Hinsicht. Theorien, die die dargestellten Praktiken begleiten, weisen einige Leerstellen auf. Die drei Wichtigsten werden abschließend problematisiert.
Erstens: Jede Vorstellung von Nation produziert strukturell – auf der Grundlage von citizenship – Einschluss und Ausschluss und steht in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis mit anderen Ausgrenzungsmechanismen wie Rassismus, Sexismus oder Antisemitismus.
Zweitens: Neben dieser Leerstelle, bei der nicht jenseits der Nation gedacht, sondern diese lediglich erweitert wird, findet sich eine Haltung, die bestehende Machtverhältnisse sowie die Materialität nationalstaatlicher Herrschaft zu wenig berücksichtigt. Wenn auch die oben genannten Bewegungen Konzepte nationaler Zugehörigkeit durch gelebte Praxis konterkarierten und konterkarieren, so wurden diese in vielen Fällen eingehegt: Die deutsche Grenze wurde dichter, die Flüchtlingspolitik repressiver. Unter gegebenen Bedingungen sitzt der Nationalstaat nicht nur diskursiv, sondern sehr praktisch am längeren Hebel. Das zeigt sich auch in den ambivalenten Auswirkungen: So ist ein Effekt der sanctuary cities die Destabilisierung von citizenship. Gleichzeitig war die Intention, etwa in den Anfängen der 1970er Jahre in den USA, eine ordnungspolitische: die Senkung der Kriminalitätsraten durch das Herstellen von Vertrauen in die Polizei auch bei Menschen, die keinen legalen Aufenthaltsstatus haben. Auch in aktuellen Debatten argumentieren US-amerikanische Polizeipräsidenten damit, dass die Kriminalitätsrate durch den Status als sanctuary city gesenkt würde. Während diese Städte also einerseits das Nationale transzendieren, unterstützen sie gleichzeitig – ob intendiert oder nicht – (national)staatliche Ordnungspolitik. Das will nicht die Möglichkeit bestreiten, dass hier postnationales Fühlen und Denken ermöglicht werden können, schafft aber zugleich einen realistischeren Blick auf diese Phänomene.
Drittens: Für viele stellt der Nationalstaat subjektiv einen Schutz dar, sie wähnen sich in einer postnationalen Welt ohne soziale Sicherung. "Eine Welt ohne Grenzen und Nationen" sei eine privatisierte, wie es in der sozialistischen Zeitung "Neues Deutschland" heißt: Die Menschen würden zu "global vagabundierende[n] Lumpenproletarier[n], die in einem sozialen Unterbietungswettbewerb gegeneinander ausgespielt" werden.
Die Abschaffung von Grenzen geht nicht notwendigerweise mit progressiven politischen Ansichten einher. Dies zeigt sich auch in der angestrebten negativen Aufhebung von Nation durch islamistische Gruppen wie dem sogenannten Islamischen Staat: Eine verklärte Vergangenheit eines wieder zu errichtenden Kalifats wird der als westlich gebrandmarkten Nation entgegengestellt. Aber vor allem zeigte sich dies in den Debatten um die Ankunft mehrerer Hunderttausend Geflüchteter im Jahr 2015, in denen Marktradikale auf die Notwendigkeit offener Grenzen hinwiesen.
Aus diesen Kritiken an gegenwärtigen postnationalen Zugängen und Praktiken muss ihre Erweiterung folgen: Wenn die – selbstgewählte oder von außen auferlegte – Verweigerung nationalstaatlicher Zugehörigkeit materielle Folgen hat, dann kann sie nicht unabhängig von globalen ökonomischen Verhältnissen diskutiert werden. Das Postnationale als Elitenprojekt liegt darin begründet, dass bestimmte transnationale Mobilitäten gefördert und ermöglicht werden, andere hingegen begrenzt und verhindert. In den gegenwärtigen postnationalen Praktiken geraten die Ausgrenzungs- und Selektionsmechanismen, die jenseits von Anerkennung und Teilhabe stattfinden, aus dem Blick. Migrantische Anwesenheit und kosmopolitische Alltagshandlungen mögen auch im Hier und Jetzt auf postnationale Momente verweisen, doch in einer kapitalistischen Ökonomie sind es weiterhin Migranten, Frauen und vor allem migrantische Frauen, die überproportional im Niedriglohnsektor und hier im Bereich Pflege und Haushalt tätig sind. Um postnationale Entwürfe vom Makel eines Elitenprojekts freizumachen, müsste die Suche nach einer nicht-nationalstaatlich organisierten Welt auch die Suche nach grundlegend anderen ökonomischen Formen einschließen. Denn die Bezugnahme auf die Nation ist nicht nur Imagination. Vielmehr ist die Nation eine soziale Realität, der Glaube an sie manifestiert sich in den Institutionen moderner Staatlichkeit, die enormen Einfluss auf die Lebenswelten aller Menschen hat. Ihr Aufkommen ebenso wie ihr Fortbestand sind nicht zu trennen von der Entstehung und der globalen Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise.
No Border, No Nation
Dabei stellen sich (mindestens) zwei große Fragen. Die erste ist die nach dem "Was": Wenn Denken und Fühlen zentrale Aspekte des Nationalismus wie des Postnationalismus darstellen, werden andere Formen von Identität und Zugehörigkeit notwendig, die vielleicht stärker auf Haltung statt Herkunft setzen. Bereits jetzt existieren diese Zugehörigkeiten, etwa in (Sub-)Kultur und Lebensstilen: als Fan eines Sportvereins, als Christin, als Veganer oder als Feministin.
Die zweite Frage ist die nach dem "Wie": Unter Umständen ist hier eine ähnliche Entwicklung wie bei der Entstehung der Nation denkbar, und die postnationale Ideologie geht dem postnationalen Zustand voraus. Vielleicht ist die Reihenfolge aber auch umgekehrt: Der Postnationalismus entsteht aus postnationaler Praxis. Vermutlich besteht eine Wechselwirkung, denn Theorien werden in der gesellschaftlichen Wirklichkeit entwickelt, sie reflektieren notwendigerweise, was gesellschaftlich und politisch passiert, bleiben also nicht unbeeinflusst von Praxis. Der Blick in die Geschichte zeugt von bestehenden Wissensbeständen und verschütteten Bezugnahmen, auf die sich eine solche konsequent nicht-nationalstaatliche Position beziehen kann. In der Gegenwart bieten sich neben den dargestellten Praktiken auch Ansätze in sozialen Bewegungen, etwa die No-Border-Camps, antirassistische Kampagnen wie "kein mensch ist illegal" oder Teile von sich als antinational begreifenden Strömungen. Sie sind oftmals so klein, wie es manche nationalen Befreiungsbewegungen anfangs waren. Ob sie so erfolgreich werden, bleibt abzuwarten.