Einleitung
Wenn von der Friedlichen Revolution in der DDR die Rede ist, denken die meisten - vor allem in den alten Bundesländern - an den Fall der Mauer am 9. November 1989. Dieses Ereignis sprach die Emotionen aller Deutschen, ob in Ost oder West, gleichermaßen stark an. Bis heute verstellt dieser Fokus aber eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Ereignissen von 1989 in der DDR, die zum gewaltfreien Sturz der 40 Jahre dauernden SED-Diktatur führten.
Die Friedliche Revolution des Jahres 1989 begann nicht erst im Herbst. Schon ab Jahresanfang hielt eine Vielzahl oppositioneller Aktivitäten SED, Polizei und Staatssicherheit in Atem. So versammelten sich am 15. Januar 1989 etwa 500 Bürger auf dem Marktplatz in Leipzig und forderten Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit. Nach einer kurzen Rede zogen sie durch die Innenstadt. Die Polizei löste den Zug auf, 53 Menschen wurden "zugeführt", wie kurzzeitige Verhaftungen im DDR-Amtsdeutsch hießen. Ausgelöst hatten diese erste, nichtgenehmigte Demonstration der achtziger Jahre Flugblätter einer "Initiative zur demokratischen Erneuerung der Gesellschaft". Die Mitglieder verschiedener Leipziger Basisgruppen waren beim Verteilen der rund 10000 Exemplare beobachtet und verraten worden. Die Staatssicherheit verhaftete sie umgehend.
Die Verhaftungen lösten, ähnlich wie schon im Jahr zuvor in Berlin am Rande der Luxemburg/Liebknecht-Demonstration, DDR-weite und internationale Proteste aus. Der bundesdeutsche und der amerikanische Außenminister gingen auf die Leipziger Ereignisse in ihren Reden zum Abschluss des 3. KSZE-Folgetreffens in Wien ein - entsprachen sie doch so gar nicht dem demokratischen Bild, das die DDR von sich selbst gern zeichnete. Die Folge des öffentlichen Protestes war, dass alle Verhafteten nach wenigen Tagen freigelassen und die Ermittlungsverfahren bereits am 24. Januar auf zentrale Weisung ohne weitere direkte Folgen für die Betroffenen eingestellt wurden. Noch ein Jahr zuvor hatten Wolfgang Templin, Bärbel Bohley und andere die DDR für ein halbes Jahr verlassen müssen. Nun war deutlich geworden, dass die SED-Führung ihre Gesetze zum Erhalt der Diktatur nicht mehr anwenden konnte, wenn eine internationale Öffentlichkeit bestand.
In den nächsten Monaten besuchten immer mehr Menschen die montäglichen Friedensgebete in derNikolaikirche, protestierten öffentlich gegen Umweltverschmutzung, kulturelle Bevormundung oder die blutige Niederschlagung der Studentenproteste in China. Bei der Kommunalwahl am 7.Mai 1989 gelang es an verschiedenen Orten erstmals, die Wahlfälschung der SED nachzuweisen.
Am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der DDR, spitzte sich die Situation auch in Berlin, Plauen und anderen Städten dramatisch zu. Alle blickten am Montag, den 9. Oktober 1989, gebannt und auf das Schlimmste vorbereitet auf Leipzig. In der "Leipziger Volkszeitung" hatte die SED den Montagsdemonstranten gedroht: "Wir sind bereit und willens, das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muß mit der Waffe in der Hand!"
Nach diesem "Tag der Entscheidung" breiteten sich die Bürgerproteste wie ein Flächenbrand in der ganzen DDR aus und stürzten schließlich die SED-Diktatur. Am 9. November 1989 fiel die Mauer in Berlin.
Protest und Widerstand gegen die Diktatur hatte es vom ersten Tag ihres Bestehens an gegeben. Zehntausende büßten für ihren Mut und ihre Zivilcourage mit mehrjährigen Haftstrafen, viele, gerade in den frühen Jahren, auch mit dem Tod. Erinnert sei besonders an den blutig niedergeschlagenen Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Der Protest war dennoch nicht sinnlos. Immer wieder erinnerten sich Menschen, selbst in schwierigsten Situationen, an Menschenwürde, Demokratie und zivilisatorische Grundsätze und versuchten, diese umzusetzen. Diese demokratische Tradition wurde 1989 von der geglückten und zudem friedlichen Revolution gekrönt. Sie ist eine der wichtigsten geistig-moralischen Grundlagen des wiedervereinigten Deutschland.
Nutzen wir dieses Jubiläumsjahr, um uns zu erinnern, wovon wir uns 1989 aus eigener Kraft befreit haben. Nutzen wir es auch, um uns unserer demokratischen Leistungen bewusst zu werden. An vielen Orten gab es inzwischen vergessene Flugblattaktionen, Demonstrationen oder andere vermeintlich unscheinbare Beispiele von Zivilcourage oder Verweigerung. Erforschen wir diese und machen wir sie bekannt; der Jahrestag 2004 bietet eine Chance sowohl zur Selbstvergewisserung als auch zur Aufklärung der Nachgeborenen und derer, die den demokratischen Aufbruch selbst nicht miterlebten.
Doch 15 Jahre nach der Selbstbefreiung von der kommunistischen Diktatur gibt es auch besorgniserregende Entwicklungen: Viele Menschen glorifizieren angesichts aktueller Probleme die DDR in ihrer Erinnerung. Daraus entsteht ein trotziges Ost-Gefühl, das absurde Blüten treibt: Jugendliche tragen die Symbole der Unterdrückung tausendfach auf T-Shirts und Jacken. Im Versandhandel, in Souvenirläden und selbst im Shop des Deutschen Historischen Museums sind sie erhältlich. Das Signet des MfS auf Zollstöcken, als Schlüsselanhänger oder Wandschmuck; das Emblem der SED auf Feuerzeugen; die Lieder von FDJ und Staatssicherheit auf CD gepresst: Woher kommt dieser unreflektierte, unkritische Umgang? Offenbar wird in der Schule zu wenig vermittelt, wird in den Elternhäusern zu vieles verklärt. Ein Übriges taten "Ostalgie-Shows", die 2003 auf fast allen Fernsehkanälen liefen. Doch "Ost" ist nicht "Kult" - wie beispielsweise das ZDF meinte -, sondern "Ost" steht für fast 40 Jahre SED-Diktatur. Die Shows würden nur den Alltag darstellen, hieß es aus den Redaktionen und von den Moderatoren. Gemeint war, dass nur der auf den ersten Blick unpolitische Teil der DDR gezeigt werden solle. Es ist jedoch gerade ein Merkmal von Diktaturen, dass es in ihnen keinen unpolitischen Alltag gibt. In den Sendungen traten fast nur Prominente auf, die schon zu DDR-Zeiten privilegiert waren und deren Alltag mit der DDR-Realität wenig zu tun hatte. "Diplomaten im Trainingsanzug" nahmen ihre Funktion noch einmal wahr und schwärmten von der Überlegenheit des DDR-Sports, ohne ein Wort über das staatlich organisierte Doping zu verlieren. "Unsere Fernsehlieblinge" traten auf, ohne die Zensur sämtlicher Medien auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Und wenn es sich doch einmal nicht vermeiden ließ, die Kehrseite des schönen Scheins anzusprechen, brach der Moderator ab oder zog die Bemerkung als Anekdote ins Lächerliche. Die so genannten DDR-Shows hätten zu wenigstens 80 Prozent anstandslos die SED-Zensur der achtziger Jahre passiert. Erich Honecker und sein Politbüro hätten ihre Freude an einer solchen Vielzahl von Agitationssendungen für den "Sozialismus in den Farben der DDR" im (west)deutschen Fernsehen gehabt.
Die Shows glichen Kuriositätenkabinetten, die nichts, aber auch gar nichts zur Verständigung zwischen Ost und West beitrugen. Für die mentale Wiedervereinigung brauchen wir eine aufrichtige und von gegenseitiger Akzeptanz geprägte Neugier auf den anderen. Nicht das in der DDR gelebte Leben steht zur Disposition, sondern die kommunistische Diktatur. Die teilweise gebührenfinanzierte Reduktion der DDR auf "Pfeffis" und Spreewaldgurken sind kein Mittel, um wahrhaftig über das Wesen der DDR und das Leben in ihr zu informieren. Ostalgie-Shows verharmlosen die Gefahren, die der Demokratie durch totalitäre Ideologien drohen, und sind eine Verhöhnung der Opfer. Dass sich die Diktatur der Nationalsozialisten nicht auf Autobahnbau und geringe Arbeitslosigkeit reduzieren lässt, haben wir gelernt. Muss betont werden, dass sich das Alltagsleben in der DDR nicht auf Schulmilch und billige Mieten beschränkte? Nostalgie-Shows, die das Leben im "Dritten Reich" auf den vermeintlich unpolitischen Alltag reduzieren, sind zum Glück undenkbar. Eine Ostalgiewelle zieht über das Land. Das klingt wie eine ansteckende Krankheit. Tatsächlich scheint es eine Krankheit zu sein, immer nur Facetten zur Kenntnis nehmen zu wollen. Doch wir müssen uns auch dem Leben in der zweiten deutschen Diktatur offen und ehrlich und vor allem in all seinen Facetten stellen. Nur dann werden wir den Wert heutiger Freiheit und Demokratie zu schätzen und ihn zu verteidigen wissen. Gerade die Beschäftigung mit dem Alltag in totalitären Regimen verdeutlicht, wie sich der Einzelne in solchen Systemen verhält und welchen Zwängen und Versuchungen er ausgesetzt ist.
Inzwischen gibt es eine ganz andere Art gesamtdeutscher Erinnerung. Seit August kommt es wöchentlich zu "Montagsdemonstrationen" gegen die Arbeitsmarktreformen. Die Demonstranten berufen sich auf den Herbst 1989 und kopieren die Losungen. Eine lebhafte Diskussion ist darüber entbrannt, ob derlei historische Anleihen statthaft seien. Arbeitsminister Wolfgang Clement sah in ihnen "eine Zumutung, eine Beleidigung der historischen Montagsdemonstrationen und der Zivilcourage, die viele Ostdeutsche damals gezeigt haben"
Es gibt in der Tat eine Reihe von soziologischen Untersuchungen, die zum Teil große Unterschiede in den politischen und moralischen Bewertungsmaßstäben zwischen Ost- und Westdeutschen feststellen. Die Frage bleibt: Was haben die Montagsdemonstrationen des Jahres 2004 mit denen des Herbstes 1989 gemein, außer, dass sie auch montags stattfinden? Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich würde mich jederzeit dafür einsetzen, dass jeder Mensch das im Grundgesetz verbriefte Recht auf Demonstrationen nutzen darf. Schließlich war Demonstrationsfreiheit eine der zentralen Forderungen der Friedlichen Revolution. Fraglich ist jedoch, ob es moralisch legitim ist, sich bewusst in die Tradition von 1989 zu stellen. Genügt es, den Ruf "Wir sind das Volk" abzuändern in "Weg mit Hartz IV, das Volk sind wir"? Damals war es ein Ausstoß der Verzweiflung und der Angst. Wehrlose und friedliche Demonstranten richteten ihn am 9. Oktober 1989 an die aufmarschierten, bewaffneten Volkspolizisten, die Volksarmee und die Kampfgruppen der Arbeiterklasse. Mit ihm wollten sie sagen: Ihr seid zu unserem Schutz da, nicht zum Schutz der Diktatur. Angesprochen war auch die SED, welche die Demonstranten zuvor als "Rowdys" verunglimpft hatte.
Weder die Ausgangssituation der Revolution von 1989 - unmündig gehaltene Bürger begehren friedlich gegen eine waffenstarrende Diktatur auf - noch die damaligen Probleme - das Fehlen wichtiger Grund- und Menschenrechte, der bevorstehende wirtschaftliche Kollaps des Landes - sind mit den heutigen Verhältnissen vergleichbar. Heute geht es um die Frage, ob die von der Regierung vorgeschlagene und auf demokratischem Weg gefundene Lösung für ein gesellschaftliches Problem (hohe Arbeitslosigkeit und leere Sozialkassen) von einem Teil der Gesellschaft für falsch befunden wird. Die Leipziger Montagsdemonstrationen von 1989 - die übrigens in anderen Städten auch an anderen Wochentagen stattfanden - bezogen ihre große Kraft hingegen aus dem gesellschaftlichen Konsens, dass es mit dem staatlichen und gesellschaftlichen System als solchem so nicht weiter gehen konnte und Veränderungen unabdingbar waren. Dieser Konsens ging quer durch alle gesellschaftlichen Schichten und alle Generationen. Als es dann um konkrete Projekte der Zukunftsgestaltung ging, entstanden schnell auch sehr unterschiedliche Positionen: Erinnert sei nur an den Aufruf "Für unser Land" von DDR-Intellektuellen gegen die Wiedervereinigungsforderungen der Demonstrationen. Dennoch blieben die Menschen nicht passiv, sondern setzten sich zu Tausenden dafür ein, dass ihre Forderungen und Vorschläge umgesetzt wurden. Als wichtiges Instrument für die Einbindung des Volkes in die Lösung anstehender Probleme hatten sich 1989 die Dialogveranstaltungen entwickelt, wenngleich sie von der SED ursprünglich als taktische Manöver zur Verhinderung weiterer Demonstrationen geplant waren. Im Anschluss entstanden die "Runden Tische", die der SED die Macht abrangen und politische Prozesse mitgestalteten. Bürgerkomitees besetzten die Stasi-Zentralen und sicherten Akten, andere Gruppen gründeten unabhängige Gewerkschaften. Es ging um Mitgestaltung und Demokratie, und als diese Forderungen am 18. März 1990 mit der ersten freien Volkskammerwahl weitgehend erfüllt waren, endeten in Leipzig auch die Montagsdemonstrationen.
Warum haben die Protestierenden von heute nicht die Möglichkeiten der demokratisch verfassten Gesellschaft genutzt und längst Vorschläge erarbeitet und öffentlich diskutiert? Dass grundlegende Reformen in Deutschland nötig sind, ist seit Jahren bekannt und sicher auch unstrittig. Im Verlauf des Herbstes 1989 und des Winters 1989/90 wurde aus der heute recycelten Losung "Wir sind das Volk" der Ruf "Wir sind ein Volk", mit dem die Einheit erstritten wurde. Wäre dies nicht ein Motto für Demonstrationen: die dringend notwendigen Reformen anmahnen, die wir als Gesellschaft im Ganzen angehen und durchstehen müssen? Dem Ruhrgebiet beispielsweise werden ebenso radikale Veränderungen bevorstehen, wie sie die sächsischen Braunkohlereviere nach 1990 erlebt haben. Weil die Reformen ganz Deutschland betreffen, brauchen wir wie im Herbst 1989 das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gesellschaft, die einen Aufbruch spürte und diesen gestalten wollte. Vielleicht erinnern sich viele, die jetzt demonstrieren, in ihrer unzweifelhaften persönlichen Not nur an das Gefühl von damals, das ein Leipziger Demonstrant mit den Worten auf den Punkt brachte: "Ich wollte einfach nur Masse sein."
Staatssicherheit, Volkspolizei und SED suchten 1989 fieberhaft nach Organisatoren der Montagsdemonstrationen und deren Hintermännern. Das war vergeblich, denn es gab keine. Die Menschen kamen aus eigenem Antrieb, und es wurden in Leipzig von Montag zu Montag mehr: Am 25. September 5000, am 2. Oktober 20000, am 9. Oktober 70000 und eine Woche später schon 120000. Kein Organisator rief sie, stattdessen drohte die SED mit Gewalt. Im Jahr 2004 melden Organisationskomitees, Attac, die MLPD, das Aktionsbündnis "Soziale Gerechtigkeit", das Sozialforum und andere Gruppierungen "Montagsdemonstrationen" an. Andere Initiativen vom politischen Rand - die "Bürgerrechtsbewegung Solidarität" oder rechte Parteien - nutzen die Protestwelle ebenso wie die PDS, die als einstige SED die Misere im Osten zu verantworten hat. Schon streiten sich die Organisatoren in Leipzig, ob es zulässig ist, Politiker als Redner einzuladen, oder ob damit die vorgebliche parteipolitische Unabhängigkeit zerstört würde. Nun sollen sogar Blinde und Legastheniker berichten, wie sie mit den Anträgen zu Hartz IV zurechtgekommen sind.
Die Friedliche Revolution von 1989 ist ein herausragendes Ereignis der jüngeren deutschen Geschichte. Doch je weiter die Ereignisse zurückliegen, umso mehr verschwimmen die Fakten. Daher ist es eine wichtige Pflichtaufgabe des Staates, Gedenkstätten zu erhalten, die an die SED-Diktatur erinnern, bürgerschaftliches Engagement, das sich um die Aufarbeitung bemüht, zu fördern und die politische Bildungsarbeit, vor allem auch an den Schulen, zu unterstützen. Es muss gelingen, die Kraft der kollektiven Erinnerung an 1989 sinnstiftend für eine gemeinsame deutsche Erinnerung und Identifikation fruchtbar zu machen. Unter diesem Aspekt ist der Nationalfeiertag am 3. Oktober das denkbar schlechteste Datum. Es ist zwar technisch korrekt gewählt, aber Emotionen verbindet mit diesem Tag niemand. Der 9. Oktober, der Tag, an dem sich 1989 alles entschied, sollte zum Gedenktag für ganz Deutschland werden, an dem sich die Menschen in Ost und West gemeinsam und selbstbewusst der Demokratie vergewissern.