Die Herausforderungen der neuen Weltordnung
Seit dem 11. September 2001 ist viel von "Epochenwechsel", "Umbruch" und "Neuordnung der Welt" die Rede. Selbst der Historiker Eric Hobsbawm sprach von einer "unbestreitbaren und dramatischen Zäsur in der Weltgeschichte". Sie lässt mitunter vergessen, dass diese Metaphern bereits die Diskussion nach der Auflösung der Sowjetunion und des gesamten sozialistischen Lagers zehn Jahre zuvor beherrschten, die Dialektik vonUntergang und Neuanfang nunmehr aber vorallem eine neue Richtung erhielt. Damals hatte US-Präsident George Bush senior in seiner Botschaft am Vorabend des 2. Golfkrieges im September 1990 die Zukunft der internationalen Beziehungen auf die Koordinaten und Prinzipien des klassischen Völkerrechts orientiert, auf die UNO-Charta und das gleiche Recht, die Souveränität und territoriale Integrität aller Staaten, ob stark oder schwach. Er hatte für seinen Feldzuggegen die irakischen Truppen in Kuwait dieErmächtigung durch den UN-Sicherheitsrat gesucht und bekommen und sich trotz starken Drucks aus seiner Administration an den begrenzten Auftrag der Res. 678 vom 29. November 1990 gehalten und vor Bagdad Halt gemacht. Welche Motive ihn dabei auch immer bewogen haben mögen, ist gleichgültig, bemerkenswert war, dass er sich an den völkerrechtlichen Rahmen gehalten hat.
Diese Position ist zwar weder von Clinton noch von Bush junior offiziell aufgegeben worden. Aber mit dem 11. September 2001 beansprucht die US-Administration drastische Revisionen an den überkommenen Regeln der Friedenssicherung für sich, und es mehren sich die Stimmen, die zumindest das zentrale Prinzip der UN-Charta, das Gewaltverbot des Artikels 2 Ziffer 4, für tot erklären. Die seit 1945 entwickelten Prinzipien werden nicht länger als richtungweisend für die Weiterentwicklung des Völkerrechts erachtet, sondern unter dem Vorwurf ihrer Ineffizienz und Ohnmacht angesichts der neuen Gefahren einer radikalen Umwertung unterworfen. Der 11. September diente der Ausrufung des weltweiten Ausnahmezustandes, mit dem sich die USA ermächtigten, unter dem Diktat des Terrors zur Verteidigung einer Weltordnung aufzutreten, in der von jetzt ab sie allein die Feinde der zivilisierten Welt definieren und bekämpfen. Der kolonialistische Unterton dieser Debatte um Fundamentalismus und Kulturkampf ist bereits in der Auseinandersetzung mit Huntingtons "Clash of Civilizations" verschiedentlich angemerkt worden. Er spiegelt jedoch das politische Projekt der neunziger Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion wider, mit dem die allein übrig gebliebene Hegemonialmacht die Neuordnung der Welt zunächst dort in Angriff nahm, wo es ihre Interessen am meisten erforderten.
"Weil wir eine Nation mit globalen Interessen sind," heißt es in dem "New Strategy"-Papier des Weißen Hauses aus dem Jahr 1997, "sehen wir uns einer Vielzahl von Herausforderungen unserer Interessen gegenüber, oftmals weit über unsere Küsten hinaus. Wir müssen unsere überlegenen diplomatischen, technologischen, industriellen und militärischen Fähigkeiten immer aufrechterhalten, um diesen weiten Bereich von Herausforderungen anzugehen, so dass wir, wenn möglich, gemeinsam mit anderen Nationen, wenn es sein muss, aber auch alleine reagieren können." Weitaus konkreter, aber repräsentativ für zahlreiche andere Einschätzungen der US-Weltpolitik formuliert Samuel Huntington ihre Ziele: "...die Interessen amerikanischer Unternehmen unter den Schlagwörtern 'freier Handel' und 'offene Märkte' zu fördern; die Politik der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds so zu gestalten, dass diese eben diesen Unternehmensinteressen dient; (...) andere Staaten zu zwingen, eine Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu verfolgen, die amerikanischen Wirtschaftsinteressen entgegenkommt; amerikanische Waffenverkäufe ins Ausland zu fördern, während sie gleichzeitig vergleichbare Verkäufe seitens anderer Staaten zu verhindern suchen; (...) bestimmte Länder als ,Schurkenstaaten` einzustufen und sie damit aus globalen Institutionen auszuschließen, weil sie sich weigern, amerikanischen Wünschen nachzugeben." Geographisch gebündelt sind diese Interessen und Ziele derzeit am dichtesten im Nahen und Mittleren Osten, wo auch ihre Gefährdung am größten ist und wo sich hinter der unverhüllt propagandistischen Fassade eines Demokratieprojekts "Greater Middle East" der Schlachtplan für Afghanistan, Palästina, Irak, Iran und Saudi-Arabien sowie Ägypten präsentiert.
Es ist wichtig, sich deutlich zu machen, dass die gegenwärtige Terrorismusdebatte eine nicht unbedeutende Rolle in der Entfaltung und Legitimierung der hegemonialen Weltordnungsplanung der USA spielt. Die Vermutungen, dass der 11. September mehr als Vorwand denn als Auslöser der nachfolgenden, aber bereits seit längerer Zeit geplanten Kriege gegen Afghanistan und den Irak diente, haben sich eher verdichtet, als dass sie widerlegt worden sind. Die letzten Kriege der USA gegen Afghanistan und den Irak haben die Landkarte des Nahen und Mittleren Ostens entscheidend verändert. Hier wurden Protektorate eingerichtet und - nehmen wir den eskalierenden Palästina-Konflikt hinzu - ein permanenter Kriegszustand geschürt: dies lässt das Demokratieprojekt als fragwürdig erscheinen, hat aber auf jeden Fall die absolute Dominanz der USA in dieser Region vorerst gesichert. Die Rekolonisierung des Mittleren Ostens, d.h. die Wiederausrichtung seiner Wirtschaftsstruktur und seiner Reichtumsquellen auf die Interessen der USA, bildet die Grundtextur desDemokratieprojektes "Greater Middle East". Davor schiebt sich der Kampf gegen den Terrorismus, mit dem der Krieg aus seinen völkerrechtlichen Fesseln befreit und als legitimes Mittel der Politik neu begründet wird. Vergessen wir auch nicht die passive und aktive Mithilfe der NATO, die auf die gleichgerichteten Interessen der europäischen Staaten hinweisen und den Dissens über die angewandten Methoden (Krieg gegen den Irak ohne Mandat der UNO) schließlich in den Hintergrund schieben.
Lassen wir demgegenüber die einander widersprechenden Einschätzungen über den langfristigen Erfolg des Kriegseinsatzes und die Stabilität dieser unter dem militärischen Schild der USA und der NATO auf Vasallentum, Klientelismus und Korruption aufbauenden Herrschaftsordnung außer Betracht. Im Folgenden soll es lediglich um die viel diskutierten Auswirkungen auf jene Regeln des internationalen Rechtssystems gehen, die bisher Kriege verhindern und Frieden gewährleisten sollten.
Das Erbe des Völkerrechtsnihilismus
Der Tod des Völkerrechts ist wiederholt schon vor dem 11. September 2001 verkündet worden. 1970, fünfundzwanzig Jahre nach der Verkündung der UNO-Charta, schrieb z.B. Thomas Frank, dass das zentrale Prinzip der Charta, das Gewaltverbot des Artikels 2 Ziffer 4, tot sei. Sechzehn Jahre später befand Jean Combacau: "Die internationale Gemeinschaft glaubt nicht mehr länger an das System der Charta, weil die kollektive Garantie, die ihre Mitglieder gegen ihr individuelles Recht auf Gewaltanwendung eingetauscht haben, nicht funktioniert und dafür kein wirklicher Ersatz gefunden worden ist (...). Was uns auch immer offiziell mit der gesetzlichen Situation vorgespiegelt wird, die internationale Gemeinschaft ist faktisch wieder dort angelangt, wo sie vor 1945 war: im Naturzustand; und dort macht der Begriff der Selbstverteidigung bekanntlich keinen Sinn." Seine Begründung lässt sich mit den Worten Michael Glennons zusammenfassen, mit denen auch er den Abgesang auf das Gewaltverbot anstimmt: "Seit 1945 haben sich Dutzende von Mitgliedstaaten an gut über 100 zwischenstaatlichen Konflikten beteiligt, die Millionen von Menschen getötet haben. Das internationale Rechtssystem ist freiwillig, und die Staaten werden nur durch die Regeln verpflichtet, denen sie zugestimmt haben. Ein Vertrag kann seine bindende Wirkung verlieren, wenn eine genügende Anzahl von Vertragsstaaten ein Verhalten praktizieren, welches gegen die Regeln des Vertrages verstößt. Die Übereinstimmung der UN-Mitgliedstaaten in dem allgemeinen Gewaltverbot, wie es in der UNO-Charta zum Ausdruck kommt, ist auf diesem Weg durch eine veränderte Absicht ersetzt worden, wie sie in ihren Handlungen ausgedrückt worden ist. (...) Es scheint, dass die Charta tragischerweise den Weg des Briand-Kellogg-Paktes gegangen ist, der vorgab, den Krieg zu illegalisieren, und der von jedem größeren Weltkriegsteilnehmer unterschrieben worden ist."
Ein altes Argument besagt, dass die massenhafte Verletzung einer Norm diese gleichsam auflöst und aufhebt. Es ist schon in den Nürnberger Prozessen von der Verteidigung gegen das Kriegsverbot des Briand-Kellogg-Paktes - allerdings erfolglos - vorgebracht worden. Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat auf das Bemühen fast aller kriegführenden Staaten hingewiesen, ihren Krieg als Ausnahme vom absoluten Gewaltverbot hinzustellen, und daraus gefolgert: "Wenn ein Staat in einer Weise handelt, die dem ersten Anschein nach unvereinbar mit den anerkannten Regeln ist, aber sein Verhalten damit rechtfertigt, dass er sich auf Ausnahmen oder Rechtfertigungsgründe beruft, die in der Regel selbst enthalten sind, dann bedeutet dieses Verhalten - gleichgültig ob dieses Verhalten des Staates nun wirklich gerechtfertigt ist oder nicht - eher eine Bestätigung denn eine Schwächung dieser Regel." In den Kriegen der Jahrtausendwende haben alle beteiligten Regierungen ihren Beitrag mit der UNO-Charta zu rechtfertigen versucht.
Vor allem US-amerikanische Autoren haben immer wieder ihren Völkerrechtsnihilismus in die Debatte eingebracht. Er ist allerdings auch in der Diskussion nach dem 11. September die Ausnahme geblieben, bildete aber den Hintergrund für weitgehende Revisionsansätze und Uminterpretationen des geltenden Friedenskodexes. Wer schon die Geltungskraft eines Kodexes in Frage stellt, glaubt sich damit einen umso freieren Umgang mit seinen Inhalten und Einzelregelungen verschaffen zu können. Ausgangspunkt ist die unbestreitbare Feststellung, dass sich die Gefahren und Bedrohungen für das internationale System der Friedenssicherung, die Art, Methoden und der Charakter der Kriege sowie die Qualität der Waffen wie auch des Kriegspersonals fundamental gegenüber dem Zweiten Weltkrieg geändert haben, die Vorbild für das Friedenssicherungssystem der UNO gewesen sind. Daraus hat sich eine überaus fruchtbare Literatur entwickelt, die das "Neue" in den unterschiedlichsten Varianten der "neuen Gefahren" und "neuen Kriegen" thematisiert, mit der eindeutigen Botschaft, dass ihnen die alten Instrumente der Nachkriegszeit zu ihrer Prävention oder Zivilisierung nicht mehr gewachsen sind. Die Kritik richtet sich gegen das UNO-System, welches die Aufgabe der Gewalt- und Polizeifunktion im Dienste des internationalen Friedens eindeutig von den Staaten auf die UNO verlagert hatte. Die Forderungen nach einem neuen Interventionismus angesichts des "Scheiterns des UN-Sicherheitsrats" konzentrieren sich auf die Auflösung dieses ohnehin nie eingehaltenen Gewaltmonopols der UNO und die Rückübertragung auf die souveränen Staaten. Allein die Akzentverschiebung, die in der Proklamation nicht nur eines Rechts auf Intervention, sondern sogar einer Pflicht zur Intervention liegt, zeigt den starken Legitimationsverfall des UNO-Paradigmas.
Bruchstellen des UNO-Systems I: die "humanitäre" Intervention
Es ist nicht zu übersehen, dass die jüngsten großen Kriege der USA und der NATO wie Hebammen bei der Geburt der neuen Interventionskonzepte gewirkt haben. So steht der Krieg gegen Jugoslawien zur Verhinderung einer "Menschenrechtskatastrophe" im Kosovo 1999 für die Wiederbelebung der alten Figur der "humanitären Intervention". Der Krieg gegen die Taliban in Afghanistan als Krieg gegen den Terrorismus treibt die Ausdehnung der Selbstverteidigung über Art. 51 UNO-Charta hinaus, und der Krieg gegen den Irak zur Verhinderung der Entwicklung und des Einsatzes von Massenvernichtungsmitteln präsentiert sich als die Probe aufs Exempel des neuen Präventiv- bzw. Präemptivkonzepts der Selbstverteidigung. Auch die zwar nicht neue, aber doch neu definierte Erscheinung zerfallener Staaten (failed states), deren innere und äußere Souveränität durch permanente Wirren, Bürgerkrieg, Naturkatastrophen und politisches Chaos faktisch verloren gegangen ist, hat die Schwelle des Interventionsverbots drastisch gesenkt und die Diskussion um eine Interventionspflicht angeregt.
Wenden wir uns den völkerrechtlichen Begründungsversuchen dieser neuen Interventionskonzepte zu und lassen wir auch hier die unterschiedlichen und sich z. T. heftig widersprechenden Einschätzungen ihrer politischen und faktischen Grundlagen auf sich beruhen. Nehmen wir also im Falle der Bombardierung Jugoslawiens die offizielle Begründung für erwiesen an, eine humanitäre Katastrophe im Kosovo zu verhindern, so ließ erst der offenkundige Verstoß gegen die UNO-Charta und die Begründungsnot die NATO-Regierungen auf eine alte Figur des kolonialen Völkerrechts der Vor-Charta-Ära als Rechtfertigung zurückgreifen: die so genannte humanitäre Intervention. Zwar haben die USA bei ihren Interventionen in Lateinamerika (Grenada 1983, Nicaragua 1984, Panama 1989) immer wieder auf diese Rechtfertigung zurückzugreifen versucht, sie haben jedoch dabeinirgendwo Zustimmung oder Gefolgschaft finden können. Abgesehen von den politischen Konsequenzen einer derartigen Doktrin, die nur als Vorwand für den Missbrauch einer Intervention dient, widerspricht die "humanitäre" Intervention dem System und der Dogmatik der UNO-Charta.
Hauptziel und zentrale Aufgabe der UNO sind die Friedenssicherung, worunter sich alle anderen Ziele einzureihen haben. Dies macht z.B. Art. 103 UN-Charta deutlich: "Widersprechen sich die Verpflichtungen von Mitgliedern der Vereinten Nationen aus dieser Charta und ihre Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften, so haben die Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang." Tritt also das Gewaltverbot der Friedenssicherung in Konkurrenz zu einer Verpflichtung aus einem der Menschenrechtspakte und -konventionen, so hat das Gewaltverbot Vorrang. Dies ergibt sich auch aus der Prinzipiendeklaration von 1970, an deren Spitze das Gewaltverbot sowie die Unabhängigkeit und Souveränität der Staaten rangieren. Erst an fünfter Stelle wird dort das Prinzip der "internationalen gegenseitigen Zusammenarbeit zur Lösung wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Probleme und zur Stärkung der Menschenrechte" erwähnt. Eine Verknüpfung beider Prinzipien derart, dass die Sicherung der Menschenrechte eine Ausnahme vom Gewaltverbot zuließe oder gar erforderte, ist im System der UN-Charta also nicht angelegt.
Dies hat der Internationale Gerichtshof (IGH) 1986 in seinem Urteil im Rechtsstreit Nicaraguas gegen die USA noch einmal unterstrichen. Und im gleichen Jahr hat das Foreign Office Großbritanniens auf die zwingenden politischen Gründe für die Ablehnung der "humanitären Intervention" als weitere Ausnahme vom Gewaltverbot hingewiesen: "Die überwältigende Mehrheit der zeitgenössischen Rechtsmeinung spricht sich gegen die Existenz eines Rechts zur (einseitigen) humanitären Intervention aus, und zwar aus drei Gründen: Erstens enthalten die UN-Charta und das Völkerrecht insgesamt offensichtlich kein spezifisches derartiges Recht; zweitens liefert die Staatenpraxis in den letzten zweihundert Jahren und besonders nach 1945 allenfalls einige wenige wirklicher Fälle einer humanitären Intervention, wenn überhaupt - wie die meisten meinen; und schließlich, aus Gründen der Vorsicht, spricht die Möglichkeit des Missbrauchs stark dagegen, ein solches Recht zu schaffen. (...) Der wesentliche Gesichtspunkt, der deshalb dagegen spricht, die humanitäre Intervention zu einer Ausnahme vom Prinzip des Interventionsverbots zu machen, sind ihre zweifelhaften Vorteile, die bei weitem durch ihre Kosten in Form des vollen Respekts vor dem Völkerrecht aufgewogen werden."
Wenn sich die Regierung Blair auch nicht an diese Mahnung gehalten hat, so haben diese Argumente in den vergangenen Jahren doch nicht ihre Gültigkeit verloren. Sie sind auf einem Treffen der Außenminister der 133 Mitgliedstaaten der Gruppe 77 am 24. September 1999 noch einmal bestätigt worden, und ein Report des Foreign Affairs Committee des britischen Unterhauses vom 23. Mai 2000 hat das Vorgehen der eigenen Regierung eindeutig als rechtswidrig qualifiziert. Betrachten wir die völkerrechtliche Literatur, so müssen wir davon ausgehen, dass die Legalisierung der "humanitären Intervention" als neue Doktrin gescheitert ist.
Dennoch haben sich einige durchaus prominente Vertreter ihres Faches zu dem problematischen Spagat verführen lassen, die Illegalität der Kriege zwar einzugestehen, sie jedoch als moralisch legitim zu rechtfertigen. Es ist nicht klar, ob ihnen bewusst ist, dass sie mit diesem "moralistischen Positivismus" vor allem den NATO-Staaten die Tür zu noch weitgehenderen Interventionen öffnen, die diese in ihrer neuen NATO-Strategie von 1999 schon benannt haben und die bis zur militärischen Intervention bei der Blockade lebenswichtiger Ressourcen gehen - nach dem einfachen Motto: illegal aber legitim. Es mag allerdings auch in ihrer Intention liegen, die Verbindlichkeit des Gewaltverbots zu schwächen. Denn wo die Grenzen zwischen Recht und Moralphilosophie verschwimmen, ist letztlich jeder Aggressionskrieg zu begründen.
Dabei hat der UN-Sicherheitsrat verschiedene Beispiele gegeben, wie die Staatengemeinschaft mit massiven Menschenrechtsverletzungen und innerstaatlichen Konflikten umgehen kann. Seine Interventionen zum Schutze der Kurden im Frühjahr 1991 im Nordirak und im Winter 1992 in dem faktisch zusammengebrochenen Somalia beruhten auf der Einschätzung, dass die Situation in beiden Staaten eine Gefahr für die Sicherheit der Region und des Weltfriedens darstelle. Ob der Sicherheitsrat die Souveränität des Irak im Norden seines Landes aufhob oder in Somalia eine Friedenstruppe (UNOSOM II) mit dem Mandat zur Ausübung militärischen Zwanges einrichtete, er verfügt auch in innerstaatlichen Konflikten über ein äußerst variables Interventionsinstrumentarium, sobald er die Auswirkungen der Konflikte auf der Basis des Kapitel VII der UNO-Charta als Bedrohung des internationalen Friedens einstuft. Die entscheidende Bedingung für diese "humanitären Interventionen" ist allerdings, dass sie vom UN-Sicherheitsrat ausgehen. Ohne sein Mandat hat kein einzelner Staate und keine Staatengruppe ein Interventionsrecht.
Bruchstellen des UNO-Systems II: die "präventive" Verteidigung
Die zweite Bruchstelle im UNO-System der kollektiven Sicherheit wurde mit der Operation "Enduring Freedom" offen gelegt, mit der die USA und Großbritannien am 7. Oktober 2001 ihren Antiterrorkampf in Afghanistan begannen und als individuelle und kollektive Verteidigung gemäß Artikel 51 UNO-Charta rechtfertigten. Sie wurde ein Jahr später beträchtlich erweitert und vertieft mit der West-Point-Rede von Präsident Bush, die das neue Präemptivkonzept verkündete, das in der National Security Strategy vom September 2002 offizielle Gestalt annahm. Die zentrale Frage, ob Akte des internationalen Terrorismus generell ein Recht auf militärische Selbstverteidigung gemäß Art. 51 UNO-Charta auslösen können, wird angesichts der Dimensionen des Terroranschlages vom 11. September jetzt in der Literatur weitgehend bejaht. Das war nicht immer der Fall. So wurden die Bombardierung des PLO-Hauptquartiers in Tunis 1985 durch die israelische Armee, die Bombardierung von Tripolis und Benghasi 1986 durch die USA als Antwort auf den Terroranschlag auf die Berliner Diskothek La Belle, die Invasion Panamas zur Ergreifung von General Manuel Noriega im Dezember 1989, der Luftangriff gegen die irakische Geheimdienstzentrale in Bagdad im Juni 1993 als Antwort auf ein angeblich gegen Präsident Bush senior geplantes, aber gescheitertes Attentat oder die Bombardierung von Zielen im Sudan und Afghanistan als Antwort auf die Terroranschläge gegen die US-Botschaften in Kenia und Tansania 1998 - Militäraktionen, die von den USA und Israel mit dem Hinweis auf das Selbstverteidigungsrecht begründet wurden - fast einhellig als illegale Vergeltungsmaßnahmen abgelehnt.
Zu der Anerkennung des Selbstverteidigungsrechts bei Terroranschlägen nach dem 11. September haben zweifellos die Verweise in den Präambeln der Sicherheitsratsresolutionen 1368 und 1373 auf Artikel 51 UNO-Charta mit beigetragen. Allerdings bleiben die notwendigen Voraussetzungen für die Anerkennung der Selbstverteidigung der USA gegen Afghanistan weiterhin strittig. Kann man Afghanistan direkt für die Terroranschläge von Al-Qaida verantwortlich machen? Führt auch das Land einen "bewaffneten Angriff" im Sinne des Artikel 51 aus, das die Angreifer lediglich beherbergt? Kam die Verteidigungsreaktion "umgehend", wie in Artikel 51 gefordert, kann sie auf unbestimmte Zeit und andere Territorien zur Verhinderung weiterer Anschläge ausgedehnt werden? Waren die militärischen Maßnahmen notwendig, geeignet und verhältnismäßig? An dem Vorliegen dieser Voraussetzungen sind erhebliche Zweifel geltend gemacht worden, so dass der Vorwurf der Überdehnung des Artikel 51 UNO-Charta durchaus berechtigt ist. Die bloße Beherbergung von Terroristen macht das Land noch nicht verantwortlich für deren Terrorakte gegenüber einem anderen Staat, es sei denn, "es spielt eine Rolle bei der Organisation, Koordinierung oder der Planung der militärischen Aktivitäten der militärischen Gruppe zusätzlich zur Finanzierung, dem Training und der Ausrüstung oder Gewährung operativer Unterstützung", wie das Internationale Militärtribunal zu Ex-Jugoslawien in dem Fall Tadic' ausgeführt hat. So reduziert sich das Problem auf die Beweisfrage, ob diese Voraussetzungen im Verhältnis Al-Qaidas zu dem Afghanistan der Taliban vorgelegen haben.
Weitaus eindeutiger ist die Ablehnung der so genannten Bush-Doktrin mit der Ankündigung präventiver Selbstverteidigung gegen Bedrohungen durch Terror und Massenvernichtungsmittel, auch wenn ein Angriff noch gar nicht erfolgt ist (sogenannte präemptive, vorbeugende Verteidigung). Dabei ist durchaus anerkannt, dass ein Staat nicht erst abzuwarten hat, bis die erste Angriffswelle sein Territorium erreicht, sondern - wie es Sir Humphrey Waldock schon Anfang der fünfziger Jahre formuliert hat - "wenn es überzeugende Beweise nicht nur von Drohungen und möglichen Gefahren, sondern eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs ("an attack beeing actually mounted") gibt, dann mag davon gesprochen werden, dass ein Angriff begonnen hat, obwohl er noch nicht die Grenzen überschritten hat". Zur Illustration: So berief sich die US-Administration 1962 zweifellos zu Recht auf Artikel 51 UNO-Charta, als sie eine Seeblockade gegen die sowjetischen Schiffe verhängte, um den Aufbau eines Raketensystems auf Kuba zu verhindern, während es nach wie vor äußerst strittig ist, ob Ägypten tatsächlich seine Angriffsvorbereitungen soweit vorangetrieben hatte, dass Israel einer Aggression mit einem eigenen Angriff, der am 5. Juni den so genannten Sechs-Tage-Krieg eröffnete, zuvorkam. Der Angriff Israels auf palästinensische Flüchtlingslager im Libanon am 2. Dezember 1975, um angeblichen Sabotageakten zuvorzukommen, wurde ebenso von allen Mitgliedstaaten der UNO als Aggression verurteilt wie die Zerstörung des noch im Bau befindlichen Nuklearreaktors Tamuz I in der Nähe von Bagdad im Jahr 1981, um die Produktion von Nuklearwaffen zu verhindern. Das bedeutet, dass nur unter den äußersten Umständen einer Angriffsdrohung eine "antizipatorische" bzw. präventive Selbstverteidigung mit den Grenzen des Artikel 51 UNO-Charta zu vereinbaren ist. Der israelische Völkerrechtler Yoram Dinstein beschränkt sie auf einen Angriff, "which is imminent and practically unavoidable", während andere sich auf die bereits 1841 von dem damaligen US-Außenminister Daniel Webster entwickelte Formel beziehen, der eine Selbstverteidigung mit militärischen Mitteln dann für zulässig hielt, wenn sich ihre Notwendigkeit als "instant, overwhelming, leaving no choice of means and no moment of deliberation" erweist.
Das Dilemma derartiger erweiternder und den klaren Wortlaut des Artikel 51 UNO-Charta ("if an armed attack occurs") transzendierender Interpretationen liegt in der Unklarheit ihrer Grenzen, die derzeit nicht wenige dazu verleitet, die traditionelle Dogmatik der Gewaltbegrenzung in der UNO-Charta aus den Angeln zu heben und sich hinter den machtpolitischen Fanfaren der Bush-Doktrin einzufinden. Wenn Israel gegenwärtig seine Liquidierungsstrategie der gezielten Tötung mutmaßlicher palästinensischer Terroristen als präventive Selbstverteidigung zu rechtfertigen versucht, so spiegelt das den befürchteten Zerfall ursprünglich klar umrissener Rechtsregeln wider. Die Wissenschaft ist dieser Entwicklung allerdings bislang nicht gefolgt und hält wie auch der IGH zu Recht an der restriktiven Fassung des Artikel 51 fest.
Der Irakkrieg wird gemeinhin als erster Anwendungsfall der neuen Präemptiv-Doktrin gewertet, obwohl sich die USA nie ausdrücklich auf sie bezogen haben. Doch nimmt man die am häufigsten genannte Begründung, die Zerstörung der angeblich angesammelten Massenvernichtungswaffen, um einem Angriff zuvorzukommen, so ist das die gleiche Argumentation, mit der 1981 die Israelis die Zerstörung des Nuklearreaktors Tamuz I zu rechtfertigen versuchten und die seinerzeit mit der Stimme der USA vom Sicherheitsrat verurteilt wurde. Lassen wir einmal die fehlende Stichhaltigkeit der Begründung beiseite, von der die US-Administration offensichtlich selbst nicht überzeugt gewesen ist, so wird in der völkerrechtlichen Diskussion vollkommen ausgeblendet, dass die am 20. März 2003 begonnene Bombardierung nur das Schlusskapitel eines bereits über zehn Jahre dauernden unerklärten Krieges war. 1991, nach dem Ende des 2. Golfkrieges, hatten die USA, Frankreich und Großbritannien nördlich des 36. Breitengrades und südlich des 33. Breitengrades so genannte Flugverbotszonen für die irakische Luftwaffe verordnet, offiziell, um die aufständischen Kurden im Norden und die Schiiten im Süden zu schützen. Die Franzosen verließen aber alsbald die Allianz, als die regelmäßigen Bombardierungen irakischer Stellungen sich immer mehr als systematische Zerstörung des gesamtenLuftverteidigungssystems herausstellten, die Kampfeinsätze immer häufiger und schließlich täglich erfolgten und sich auch nicht mehr unbedingt an die selbst gesetzten Grenzen hielten. Die Berufung auf die Resolution 688 des UNO-Sicherheitsrats vom April 1991 zur völkerrechtlichen Legitimierung entbehrt nicht nur jeder Grundlage in ihrem Text, sondern widerspricht der in ihr ausgesprochenen Aufforderung an alle Staaten, die irakische Souveränität zu respektieren. Die bedauerliche Tatsache, dass der UN-Sicherheitsrat sich niemals erkennbar mit diesem massiven Verstoß gegen die UNO-Charta auseinander gesetzt hat, bedeutet nicht eine Legitimierung der Angriffe, sondern verweist nur auf das politische Kräfteverhältnis im Sicherheitsrat.
Neue Kriege - neues Recht?
Man mag darüber klagen, dass die Berufung auf völkerrechtliche Prinzipien der UNO-Charta, auf Konventionen und Resolutionen der UNO-Organe zur billigen Münze verkommen ist. Die Tendenz der amerikanischen Politik, sich aus völkerrechtlichen Verpflichtungen zurückzuziehen oder offen gegen sie zu agieren, hat sich schon unter der Clinton-Administration gezeigt. Sie hat sich unter der Bush-Regierung nur verstärkt und insbesondere nach dem 11. September mit der territorial und zeitlich unbegrenzten Kriegserklärung an alle Staaten und Gruppen, die von den USA in einen Zusammenhang mit dem internationalen Terrorismus gebracht werden, zu einem imperialen Herrschaftsanspruch radikalisiert. "Wir befinden uns in einer neuen Art von Krieg", antwortete Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice auf die Frage nach der Predator-Rakete im Jemen, "und wir haben vollkommen klar gemacht, dass es wichtig ist, dass diese neue Art von Krieg auf verschiedenen Schlachtfeldern ausgefochten wird". Die Kriege werden also weltweit stattfinden und notfalls auch ohne völkerrechtliche Legitimation. Präsident Bush hat zwar wiederholt seine Absicht bekundet, die UNO und ihre Charta zu berücksichtigen, er hat aber nie einen Zweifel daran gelassen, notfalls auch ohne eine völkerrechtliche Basis seine Ziele zu verfolgen.
Die offene Verletzung der Genfer Konventionen von 1949 und ihrer Zusatzprotokolle von 1977 hat nicht nur die rechtlose Inhaftierung mutmaßlicher Terroristen in Guantana'mo-Bay und die Folterungen der Gefangenen im Abu Ghraib-Gefängnis zu einem weltweit kritisierten Skandal gemacht. Hinter diesen Abnormitäten werden in den Medien die täglichen Verletzungen der Genfer Regeln durch die amerikanischen und britischen Truppen offensichtlich zur Folklore des Besatzungsalltags gerechnet, ohne sich über die Grenzen und Pflichten der Besatzung Rechenschaft abzulegen. Dieselbe Gewöhnung hat sich auch bei der systematischen Missachtung der Genfer Konventionen und Protokolle in Palästina eingestellt, deren faktische Negation fester Bestandteil der israelischen Besatzungspolitik seit Jahrzehnten ist und nur durch die Unterstützung seitens der US-Administration möglich wird. Palästina ist der Name für ein Territorium, in dem das Völkerrecht faktisch keine Geltung mehr hat.
Wir können davon ausgehen, dass die militärischen Auswirkungen all dieser groben Missachtungen des Völkerrechts im Wesentlichen nur die Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, und dort auch nur die Schwächeren, zu befürchten haben. Auf der anderen Seite werden aber die USA diesen Staaten nie die gleiche Freiheit im Umgang mit der UNO-Charta und den allgemeinen Prinzipien des Völkerrechts erlauben. Die Gefahr besteht ferner, dass sich neben Großbritannien und Polen in Zukunft die meisten Staaten der EU als Profiteure einem solchen "Schurkensystem" anschließen und unterwerfen und mittels verstärkter Interventionspraxis allmählich das UNO-System der Friedenssicherung vom absoluten Gewaltverbot des Artikel 2 Ziffer 4 "befreien" werden. Sie werden dazu nicht den in der Charta vorgezeichneten Weg der Änderung des Textes gemäß Art. 108 gehen können, weil sie dafür nicht die notwendige Zweidrittelmehrheit der Generalversammlung erhalten werden. Eine wiederholte Praxis in der Absicht, "humanitäre", "demokratisierende" und "präventive" Interventionen im Rahmen des allgegenwärtigen Antiterrorkampfes als neue Ausnahmen vom Gewaltverbot führen zu müssen, kann zweifellos eine gewohnheitsrechtliche Änderung des Kapitels VII der UNO-Charta auch ohne eine ausdrückliche Änderung des Textes bewirken. Die Forderungen nach einer Modernisierung des Völkerrechts gehen derzeit zweifellos eher dahin, die völkerrechtlichen Regeln an die neuen Formen der Gewaltanwendung anzupassen, als umgekehrt Letztere wieder den alten Grenzen der UNO-Charta zu unterwerfen. Als Ersatz für das bewusst demontierte Gewaltmonopol der UNO wird seine Übereignung an den stärksten Staat immer unbefangener diskutiert.
Gewohnheitsrecht ist die Garantie für die Dynamik und Aktualität des Völkerrechts. Es bedarf zu seiner Rechtsgeltung einer gewissen Zeit und des Willens der Staaten, welche die neue Praxis gegen die alte Ordnung durchsetzen wollen, neues Recht zu setzen und selbst dadurch in Zukunft gebunden zu sein. Sie werden es nicht gegen eine Mehrheit widerstrebender Staaten durchsetzen können. Andererseits leben wir noch nicht in einer Weltordnung, in der eine einzige Supermacht über Inhalt und Entwicklungsrichtung des Völkergewohnheitsrechts entscheidet. Aber es gibt genügend Beispiele dafür, dass ein gezielter Rechtsbruch allmählich die Mehrheiten der Staaten hinter sich gebracht und damit neues Recht geschaffen hat. Leider haben weder der Sicherheitsrat noch die Generalversammlung es vermocht, eine eindeutige Position gegen die Erosion des Kapitels VII der UNO-Charta zu beziehen, obwohl zweifellos eine deutliche Mehrheit ihrer Mitgliedstaaten diese Entwicklung, wie sie dann im Irakkrieg eskalierte, ablehnt.
Und so bleibt uns nur der Optimismus des US-amerikanischen Philosophen John Rawls, der selbst "Schurkenstaaten" für nicht vollständig indifferent gegenüber Kritik hält, "besonders dann nicht, wenn Letztere auf einem vernünftigen und wohl begründeten Recht der Völker beruht, das nicht ohne weiteres als eine liberale und westliche Idee abgetan werden kann. Nach und nach mögen wohlgeordnete Völker auf diese Weise Schurkenstaaten dazu bewegen, sich zu ändern".