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Terrorismus und die Verteidigung des Zivilen

Wolf R. Dombrowsky

/ 18 Minuten zu lesen

Die Zivilgesellschaft wird nicht vom Terror bedroht, sondern von der Einschränkung jener Rechte, die sie begründet. Verteidigung des Zivilen kann nur heißen, eben die Freiheit zu leben, die der Terrorismus hinwegbomben will.

Einleitung

Was das "Alte Europa" von Anbeginn argwöhnte, bestätigen nun nicht nur der Geheimdienstausschuss des Kongresses der Vereinigten Staaten von Amerika und der Abschlussbericht der UN-Waffeninspekteure, sondern auch die CIA: Massenvernichtungswaffen konnten im Irak nicht gefunden werden. Die seinerzeit präsentierten "Quellen" erwiesen sich als Täuschungen.

Wäre dieser "Ring der Vernebelungen" nur ein Politthriller gewesen, könnte man mit den Schultern zucken. Dabei wünschte man sich, dass es beim globalen "War on Terror" wirklich darum ginge, wofür gekämpft und gestorben wird: um die Verteidigung des Zivilen, um Demokratie und Menschenrechte, um Freiheit und Wohlstand, kurz, um eine friedlichere, bessere Welt, wenigstens eine ohne Terror. Die Reaktionen auf den 11. September 2001 haben die Erreichbarkeit dieses Ziels suggeriert: Die Anschläge mobilisierten die Amerikaner vor allem moralisch, vergleichbar nur ihrer Mobilisierung durch Pearl Harbor 1941. Wieder sollte ein Krieg von Terror befreien, von Regimen, die mit Füßen treten, was der Nation von 1787 heilig ist und seitdem Modell steht für die westliche Zivilisation.

Doch Osama Bin Laden und Al-Qaida existieren fort, auch wenn Afghanistans Berge von modernsten Ortungswaffen durchlöchert sind. Die Taliban wurden aus Kabul verjagt - zugunsten ihrer Vorgänger, die sich mit westlichen Hilfen wieder bewaffnen, um alsbald jenen Staat beseitigen zu können, der nicht der ihre ist, sondern den der Westen zu seiner eigenen Beruhigung als demokratische Staatenbildung inszeniert, samt einer Wahl, bei der das Wahlvolk kaum weiß, was Wählen bedeutet.

Mit dem Irak verfuhr die westliche Zivilisation in umgekehrter Weise. Statt "nation building" wurde ein für vormoderne Verhältnisse erstaunlich gut funktionierender Staat in die Wüste gebombt, aus Gründen, die nicht stichhaltig waren, und ohne Aussicht auf Erbauliches. Die für den Wiederaufbau vorgesehenen Gelder werden von der allgemeinen nationalen Destruktion verschlungen, in die sich das Gegeneinander von Interessen, Ethnien und Mörderbanden aufgelöst hat. Saudi-Arabien dagegen, dessen ultrafundamentale Eiferer von Wahabiten und Salafiten den internationalen Terrorismus nachweislich finanzieren, ist, im Gegensatz zum Irak Saddam Husseins, als Verbündeter nicht in Ungnade gefallen. Auf der nach unten offenen Skala der Menschenrechtsverletzungen gilt kein Maß mehr, seit die Befreier, wenn es opportun ist, ähnlich zu wüten scheinen wie die Despoten, derer sie sich entledigen wollten.

Dabei entstammt doch die Moral der westlichen Zivilisation ausgerechnet dem Kampf gegen Despotie und Willkür, samt ihrem vornehmsten Grundsatz: der Gleichheit aller vor Gesetz und Recht. Was ist passiert, dass diese Zivilisation ihre wertvollsten Erbschaften, vom Westfälischen Frieden über die Menschenrechte bis zur Charta der Vereinten Nationen, preiszugeben droht aufgrund des Handelns einer unheiligen Allianz aus Gedankenlosen, die an gar nichts mehr glauben, und fanatisch Glaubenden, die zu wenig denken? Muss man den unvermeidbaren Fall großer Mächte, gar den Untergang des Abendlandes befürchten?

Zeitenwende "9/11"?

Wer über die Verteidigung des Zivilen schreibt, läuft Gefahr, den entschiedenen Gutmenschen geben zu wollen, der sich, gleich Nathan dem Weisen, zum Mediator zwischen widerstreitenden Kulturen macht, zugleich aber auch Grenzen zieht und ein Politikverständnis propagiert, wie es einst die Gralshüter der wehrhaften Demokratie verfochten, als sie, mit dem Grundgesetz unter dem Arm, "Radikale" per Erlass vom öffentlichen Dienst fern hielten. Tatsächlich geht es nicht um rituelle Politik oder die Exekution von Symbolen und Symbolischem, sondern um die Grundlagen, die den Transformationen ins Symbolische vorausgehen, und um den Wert, den ein jeder dieser Grundlage beimisst. Man muss wissen, wofür zu leben, und noch wichtiger, wofür zu sterben lohnt. Dass uns Selbstmordattentäter, die um des Paradieses und ein paar Jungfrauen willen zum Sterben bereit sind, so fremd sind, könnte als gutes Zeichen gedeutet werden. Nach zwei mörderischen Kriegen und nach dem Zivilisationsbruch Auschwitz sollte uns das Leben so heilig geworden sein, dass sich für gar nichts zu sterben und für absolut nichts zu töten lohnt.

Doch ein Blick auf die Debatten um Abtreibung, Sterbehilfe, Gentechnik oder Todesstrafe belehrt eines Schlechteren. Vermutlich ist uns gar nichts heilig - was auch kein schlechtes Zeichen wäre, nach "Heil Hitler" und all dem Unheil reinrassiger Wunderheiler. Sind wir also völlig abgeklärte, ernüchterte Zeitgenossen? Die Frage ist nicht rhetorisch, sollten wir es tatsächlich mit Menschen zu tun haben, die "den Tod mehr lieben als das Leben" und die auf unseren Gräbern tanzen wollen. Was können wir dem entgegensetzen? Bedarf es nicht mindestens ebenso starker Überzeugungen, um sich wehren zu können?

Der weltweite Terrorismus stellt uns nicht vor unmittelbare Notwehrsituationen. Die Menschen in den Twin Towers, in Madrid, Moskau oder Beslan starben chancenlos. Situationen wie in Flug 93 der United Airlines sind die Ausnahme. Es geht auch nicht um Endkämpfe "Mann gegen Mann", sondern um Moral: Was sind mir die Grundlagen, die mir mein Leben ermöglichen, wirklich wert? Hier nützt kein Ungefähr. Die Scharia ist inakzeptabel, ebenso ein Gottesstaat. Es ist eine historische Errungenschaft - die im Übrigen viel Blut gekostet hat -, dass der Staat dem Recht unterworfen ist statt religiösen Nomenklaturen, die ihre Interessen als Offenbarung göttlicher Weisheit ausgeben. Gleiches und unabhängiges Recht ist das höchste Gut abendländischer Zivilisation und ihre unveräußerliche Grundlage, ohne die es keine Verständigung geben kann: Für diese Überzeugung bin ich bereit, mit dem Leben zu bezahlen.

Dass dies im Kontext des Terrorismus jedoch durch und durch falsch klingt, spürt man beim Schreiben und Lesen; in einem anderen Kontext bekommt es einen neuen Klang. Wer beispielsweise am Straßenverkehr teilnimmt, übernimmt ein "allgemeines Teilnahmerisiko", das darin besteht, "verunfallen" zu können. Im Jahr 2001 starben auf unseren Straßen beinahe 8000 Menschen. Unsere uneingeschränkte Mobilität ist uns dieses Teilnahmerisiko wert. Als Vielfahrer weiß ich um dieses Risiko, und obwohl es mich jederzeit treffen kann, akzeptiere ich es stillschweigend. Ist es unangemessen, nach dem allgemeinen Teilnahmerisiko einer "offenen Demokratie" zu fragen? Ist es politisch inkorrekt, unsere stillschweigende Bereitschaft zum Blutzoll für ein minder bedeutendes Gut wie Autofahren ins Verhältnis zu setzen zur "Zahlungsbereitschaft" für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte?

Selbst wenn diese unveräußerlichen Güter in Guanta'namo oder im Abu-Ghraib-Gefängnis mit Füßen getreten werden, zeigt dies nur, dass keine Zivilisation davor gefeit ist, von ihren Nutznießern unterminiert zu werden, zugleich aber auch, dass nicht jede Zivilisation bereit und in der Lage ist, dagegen Rechtsmittel einzulegen oder zuzulassen. Welche Rechtsmittel räumt die Scharia ein? Schützt sie, wie es Bassam Tibi an der westlichen Rechtsordnung kritisiert, sogar jene, die sie abzuschaffen suchen? Tibis Frage, ob "der Rechtsstaat die 'offene Gesellschaft' noch gegen ihre Feinde schützen kann", offenbart nicht die Schwäche, sondern die Stärke unserer Zivilisation. Als allgemeines Menschenrecht gelten unsere Grundsätze für alle. Jede Einschränkung wie jeder Ausschluss widerlegten sie. Folglich hat Metin Kaplan das Recht, alle Rechtsmittel einer Zivilisation auszuschöpfen, die er ablehnt und abschaffen will. Weder wird der Rechtsstaat dadurch zum Verlierer, wie Tibi meint, noch werden die Islamisten zu Gewinnern. Das Gegenteil ist richtig: Der Rechtsstaat wird zum Verlierer, wenn er aufgibt, was ihn ausmacht. Baader-Meinhof haben diese Dynamik in Gang setzen und den Rechtsstaat durch Terror zwingen wollen, mit Gegenterror und Folter zu antworten, um sich dadurch als Unrechtsstaat zu entlarven. Bis zu einem gewissen Grad ist dies durch die Praxis des "Radikalenerlasses" und die massiv geschürte Denunziation kritischer Meinungen als "Sympathisantensumpf" damals auch gelungen.

Die Frage, wie in Zeiten terroristischer Bedrohung das Zivile verteidigt werden kann, ist keineswegs so neu, wie gelegentlich getan wird. Das régime de la terreur etwa, durch das in Frankreich nach 1793 alle Konterrevolutionäre eingeschüchtert und beseitigt werden sollten, mag den Begriff "Terrorismus" historisch datieren, nicht aber die Erfahrung eines Schreckens, der Ohnmacht fühlen lässt bis zur Entblößung aufs Kreatürliche. In dieser allgemeinen Form ist Terror von Anbeginn der Feind jeden Hegens und Pflegens, jeden Zivilisierens und Kultivierens. Der Schrecken aller Sinne macht jedes Besinnen unmöglich. Der 11. September 2001 hat auf diese Weise gewirkt. Er erschreckte bis aufs Kreatürliche, dorthin, wo Wut, Hass und Trauer, Angst und Aggressionen lauern. Diese Antriebe wurden mobilisiert, statt sie zu bezähmen. Zur Bezähmung hätte es der kollektiven Besinnung bedurft und damit des historischen Maßnehmens. Stattdessen wurde "9/11" zur Zeitenwende, zum history changing moment stilisiert, mit dem das Zeitalter des Terrorismus beginnt, als habe es vordem keinen gegeben, schon gar nicht im Mutterland der westlichen Zivilisation.

Aporien des Wahrnehmens

Der Begriff der "Zivilgesellschaft" ist als Modewort in den Sprachschatz politischer Korrektheit eingegangen. Manche sehen in ihr einen Wert an sich, sozusagen das Wahre, Schöne, Gute als des Pudels Kern der aufgeklärten, bürgerlichen Gesellschaft. Dabei gilt als ausgemacht, dass Herrschaft "demokratisch" ist im Sinne legitimer und rechtsförmiger Interessenregulierung und Gesellschaft stets hinreichend "zivil" ist im Sinne eines Engagements für die gemeinsame Sache aller und eines friedlichen Umgangs miteinander auf der Grundlage wechselseitiger Anerkennung. Doch Antonio Gramsci prägte den Begriff ganz anders. Er meinte mit "Zivilgesellschaft" alles Nicht-Staatliche, das den Gang des Politischen gleichwohl bestimmt und als "beharrendes Bollwerk" jede Veränderung zu verhindern vermag, sofern sie Nachteile befürchten lässt. Damit ist Gramsci sehr nahe an Robespierres Konterrevolution und Engels' Staat als Ausschuss der herrschenden Klasse, und Denkwelten entfernt von moderner Ideologie, die Staat und Gesellschaft zu eineiigen Zwillingen schönfärbt, die, in "Good-Governance" vereint, das gute Ganze in der antiken Tradition von polis und bonum communum umhegen.

Wachsender Wohlstand scheint den Blick zu trüben, zumindest so lange, wie genügend Spielraum für Wohltaten und Transferleistungen zu erübrigen ist, damit Differenzen nicht zu Konflikten eskalieren. Wenn es knapp und eng wird, werden an den Bollwerken die Zugbrücken eingeholt und die Sparempfehlungen durchgereicht bis zu jenen, die sich ihrer nicht erwehren können. Ehrenamtliches Engagement, Gemeinsinn und Zivilgesellschaft haben ihre Konjunkturen - antizyklisch zu denen der Wirtschaft. Daran wäre nichts zu tadeln, gäbe es neben dem zu überwindenden Mangel auch ein gemeinsames gutes Konzept, um seine Ursachen zu beseitigen. "Blood, sweat and tears" werden bereitwillig vergossen, wenn daran geglaubt wird, dass es richtig ist und gerecht. Wo hingegen weder die Ziele für richtig noch die Mittel ihrer Erreichung für gerecht erachtet werden, fallen Staat und Gesellschaft auseinander, wird der Kampf partialer Interessen unverhohlen. Im historischen Kontext zeigen solche Kämpfe die hässliche Seite der "Schönwetter-Demokratie", nämlich eine antizyklische Konjunktur der Entzivilisierung. Doch abnehmende Chancen münden keineswegs zwangsläufig in Kriminalität und Radikalismus auf der einen und in Polizeistaat und Faschismus auf der anderen Seite. Die Übersteigerung ins einmalig Monströse führt eher zu Besinnungslosigkeit, die Erinnern zum leeren Ritual macht statt zum Bewusstsein, dass immer auch etwas ganz anderes möglich ist und eine Wahl besteht.

Haben wir heute gegenüber diesem ins einmalig Monströse übersteigerten Terrorismus überhaupt noch eine Wahl, ist ein ganz anderer Umgang mit ihm möglich als fortwährende Eskalationen in Krieg, Gegenterror und eine lange Konjunktur der Entzivilisierung? Manche haben die USA bereits vor "9/11", vor den massiven Beschränkungen der bürgerlichen Freiheiten durch den "Patriot Act" und den in Guanta'namo Bay suspendierten Grundrechten als "Polizeistaat" bezeichnet. Auch in der Bundesrepublik stehen Grundrechte und Freiheiten zur Disposition. Dabei sei niemandem unterstellt, dass Terrorismus nur ein Vorwand ist. Allerdings zeigt unsere Geschichte, wie schwer es ist, Freiheiten und Freiräume zurückzugewinnen, wenn sie erst einmal verloren sind. Ferner muss die Tauglichkeit der bevorzugt angestrebten Mittel grundsätzlich bezweifelt werden. Sie sind zumeist unverhältnismäßig und bereits mittelfristig kontraproduktiv. Aktive Terroristen werden zu "Schläfern", tauchen in "Ruheräume" ab, komplettieren in fernen Ländern ihre unbefleckte Tarnbiografie, machen womöglich Karriere in der Gepäckabfertigung eines europäischen Flughafens oder einer Hafenmeisterei, während derweil die Gesellschaft nach Verdächtigen gerastert wird - beispielsweise nach Studenten technischer Fachrichtungen, die Internetseiten aufrufen, welche die Dienste als "einschlägig" klassifizieren. Wo enden diese Menschen, wenn sich ihnen eröffnen sollte, dass sie überwacht und gespeichert wurden und seitdem als "Sympathisanten" des Fundamentalismus gelten, denen sich alle Türen verschließen? Wäre das "Sicherheit"?

Allgemein formuliert stehen wir keineswegs vor dem Dilemma, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu müssen. Es geht nicht um die Gefahr, den Terror mit polizeistaatlichen Mitteln zu bekämpfen und dadurch des Zivilen verlustig zu gehen. Wahr ist vielmehr, dass ohne polizeistaatliche und geheimdienstliche Mittel Terrorismusbekämpfung unmöglich ist. Warum diese Mittel per se problematisch sein sollen, müsste von jenen belegt werden, die so etwas fortwährend behaupten. Die Bundeswehr ist keine Reichswehr und der Staatsschutz keine Gestapo. Gefährlich ist etwas anderes: Wir stehen in Gefahr, unsere Grundwerte einzuschränken, um jener wenigen habhaft werden zu können, die durch Terror unsere Wertordnung beseitigen wollen. Wieso tun wir selbst, was des Terrorismus ist? Zumal nie und nimmer zu befürchten steht, dass es diesem Terrorismus aus eigener Kraft gelingen könnte, seine Ziele zu erreichen. Dazu fehlt es ihm an Überzeugungskraft und auch an wirksamer Masse.

Wovor fürchtet man sich also? Dass die Frauen der westlichen Welt Jeans und Lippenstift wegwerfen und nach der Burka schreien? Dass ihre Männer in Bergcamps einrücken, um die Welt in die feudale Herrlichkeit von Scheichs, Imamen, Clan-Despoten und warlords zurückzuentwickeln? Die Verheißungen der Gottesstaaten und ihrer Krieger gelten nur wenigen Frommen, während sich die Mehrheit nach den säkularen Verheißungen einer Zivilisation sehnt, die Recht und Freiheit gewährt. Abermals ließe Geschichte zur Besinnung kommen: Die meisten Zivilisationen sind an inneren Blutungen verschieden, nicht an importiertem Terrorismus. Wenn wir etwas fürchten müssten, dann nicht diesen Terrorismus, sondern innere Blutungen. Die schlimmste hat Gramsci beschrieben: die Denaturierung der Zivilgesellschaft in ein Bollwerk partialer Interessen, unter deren Selbstsucht das Gemeinwesen zerstört wird und mit ihm die Glaubwürdigkeit unserer Grundwerte. Diese Debatte wäre die Verteidigung des Zivilen, doch stattdessen beherrscht ein hollywoodesker Phantomterrorismus die allgemeine Wahrnehmung.

Monopoly

Die Medien haben die Ereignisse des 11. September 2001 dem besonnenen Nachdenken entrissen und in eine symbolische Inszenierung transformiert. Durch die Endlosschleife einschlagender Flugzeuge und brennender Türme verkam die Wirklichkeit zu einem Hollywood-Film voller Pyrotechnik, Gigantismus und Heroisierung. Es ging nicht mehr um Terrorismus, schon gar nicht um die Suche nach einer angemessenen Antwort, sondern um Bin Laden und die Bushs, um den "Krieg gegen die Ungläubigen" und den "Kreuzzug" der Zivilisation gegen das neue "Reich des Bösen". Die Welt schien dem Showdown zwischen Gut und Böse entgegenzufiebern. Es gab tatsächlich "das Bedürfnis nach einem Militärschlag als Antwort auf die schrecklichen Angriffe", sagte Brent Scowcroft, Berater der US-Präsidenten Ford, George Bush sen. und George W. Bush. Die Rede vom "Krieg gegen den Terrorismus" sei sinnvoll und notwendig gewesen, um die Bevölkerung zu mobilisieren. "In den ersten Tagen", so Scowcroft, "war die Rede vom Krieg vor allem ein Weckruf. Die Wortwahl hat ihren Zweck erfüllt." Dass Bin Laden "ein nützliches Symbol" darstellte, das dem Bösen Gestalt gab, es aber einer Zielplanung und eines Operationsgebietes bedarf, wenn man wirklich Krieg führen will, war nicht nur Scowcroft bewusst.

Was aber könnten die Kriegsziele und Einsatzgebiete sein? Mangels Informationen sprossen Verschwörungstheorien und andere sattsam bekannte Erklärungen: Es gehe ums irakische Öl, um Pipelines der gesamten Region, um die geostrategische Vormachtstellung der USA im Nahen und Mittleren Osten oder um die Kontrolle der unheiligen Allianz von Drogen, Waffen und Öl. Hinter allem Getöse um Zielauswahl und Mobilisierung wäre beinahe der eigentliche Kampf verschwunden. Er wogte auf diplomatischem Parkett. Vordergründig ging es um die Verknüpfungen von UNO-Mandaten und UN-Inspektionen mit der Bereitschaft, an Interventionen und Koalitionen teilzunehmen. Hintergründig stellte sich die Machtfrage. Der massive Druck der USA hin auf eine "Koalition der Willigen" führte sowohl die UN als auch Europa in eine institutionelle Krise. Die Gewichte und Rollen von UN und EU standen in Frage und damit sowohl nationale Souveränität als auch politische Identität: Was rechtfertigt einen Waffengang? Welche Bindekraft haben Menschen- und Völkerrechte? Und welche Wirkkraft haben globale zivilgesellschaftliche Institutionen wie die UN oder der Internationale Gerichtshof? Es zeigte sich, dass es nicht um ein mehr oder weniger spontanes Zurückschlagen einer zutiefst gekränkten Nation ging, sondern um die zukünftige Ordnung der Welt und darum, wer sie maßgeblich bestimmt.

Es geht jedoch nicht nur um die Umverteilung von Souveränität zwischen Nationalstaaten und supra-nationalen Institutionen, sondern auch um die inhaltliche Ausgestaltung einer globalen Grund- und Wertordnung. Wohl zu Recht werfen die Armen den Reichen vor, dass sich Demokratie und Menschenrechte feiern lassen, wenn man im Überfluss leben kann. Was wohl von diesen gepriesenen Gütern bliebe, wenn es so knapp und erbärmlich zuginge wie in den Ländern des Südens? Die vom UNEP (United Nations Environmental Programme) und der UNCTAD (United Nations Conference on Trade and Development) 1974 in Mexiko verfasste Erklärung von Cocoyok bezeichnete die reichen Industrieländer als "fehl- bzw. überentwickelt". Man forderte sie auf, ihren "Überkonsum" einzustellen und einen Lebensstil "einschließlich bescheidener Konsumstrukturen" zu bewirken, welcher der globalen Entwicklung nicht länger Schaden zufüge. Dazu bedürfe es einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung, gerechterer terms of trade und eines Mitspracherechts bei der Festlegung von Minimum- und Maximumstandards des Konsums. Diese Forderungen gehen weit über das hinaus, was uns selbstverständlich ist: gerechte und gleiche Lebensbedingungen für jeden Bürger. Was hier heraufzieht, sind Welt-Pro-Kopf-Quoten für den Ressourcenverbrauch und Standards für das Existenzminimum. Ob wir es uns eingestehen mögen oder nicht, letztlich wird sich globale Gerechtigkeit nur über derartige Mechanismen herstellen lassen. Je länger wir uns dieser materiellen Seite allgemeiner und gleicher Menschenrechte verweigern, desto offensichtlicher wird, dass wir Heuchler im Bollwerk sind, die ihre Konsumscharia verteidigen.

Scharia gegen Scharia

Vielleicht ist es hilfreich, die im Namen des Islam, oder zutreffender: ideologisierter Islamismen, begangenen Straftaten als das zu nehmen, was sie, zumindest auf der Symbolebene, auch immer sein sollen: Fanale eines "heiligen Krieges". Auch wenn man die zugespitzten Thesen Samuel Huntingtons vom clash of civilizations nicht teilen mag, zeigen gleichwohl die vielfachen Anschläge, dass religiöse beziehungsweise ersatzreligiöse Versatzstücke als weltanschauliche Gegenpole zum abendländischen Modernisierungsverständnis instrumentalisiert werden. Doch wo Huntington das westliche Bollwerk verstärken will, entdecken andere hinter den fundamentalistischen Ideologemen einen rationalen Wunsch, eine Hoffnung auf ein "Sein-Sollen": "Die Moderne ist Lebensform und Wirtschaftssystem zugleich. Weltweit setzt die technisch-rationale Industriegesellschaft den Maßstab für Entwicklung und Fortschritt. Die entscheidende Frage lautet daher nicht: Wollen wir die Moderne, oder sind wir dagegen? Sie ist längst Realität und prägt auch den Nahen Osten. Das eigentliche Problem liegt ganz woanders: Wird die arabisch-islamische Welt die Moderne auch weiterhin nur importieren - oder kann sie einen eigenen Beitrag leisten zu Fortschritt und Entwicklung? Wie kann die arabisch-islamische Welt den Anschluß finden an die Industriegesellschaft westlicher Prägung, ohne ihre kulturelle Identität zu verlieren?"

Diese vor fast zehn Jahren formulierte Frage ist aktueller denn je. Sie beschreibt das eigentliche Problem und den emotionalen Kern, der politik- und damit verhandlungsfähig machen könnte und sollte. Er wirkt auf ganz ähnliche Weise für die Identitätsbildung Japans gegenüber dem Westen. Auch in Japan spielt die Angst vor einer auflösenden Verwestlichung eine große Rolle, und sie dürfte neuerliche Bedeutung gewinnen, je mehr sich China dem Westen öffnet. Die Anschläge von Aum wie die "im Namen Allahs" unterbinden den Dialog zwischen den Kulturen und werfen von neuem Gräben auf, die bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts schon einmal durch Toleranz und Austausch überwunden werden sollten und die im Austausch mit der Türkei erfolgreich überwunden wurden.

Tatsächlich hat die Moderne nicht ausschließlich abendländische Wurzeln. Schon das Epigramm vom antiken Griechenland als Wiege abendländischer Kultur war Ideologie; es unterschlug nur allzu gern die Zuströme aus Indien, China und der arabischen Welt. Kein Wunder also, wenn viele Muslime eine solche Modernitätsbestimmung bekämpfen und sich um ihren Anteil am Menschheitserbe und somit auch um ihre Identität betrogen fühlen. Historisch gesehen ist damit eine kulturelle Identität des Morgenlandes schon lange verloren, kann Fundamentalismus nur als der letzte Ausdruck einer viel länger andauernden Krise verstanden werden. Natürlich rechtfertigt die eigene Krise nicht, das zerstören zu wollen, was man nicht hat oder nicht haben kann. Gleichwohl machte man es sich zu einfach, jeden Fundamentalismus mit Terrorismus gleichzusetzen. Viel zu wenig wird der Frage nachgegangen, welche Lösungen die Fundamentalismen außer Terror anbieten, welche "Identität" sie ausbilden wollen und was ihr positiver Beitrag zur menschlichen Zivilisation sein soll.

Die neuzeitlichen fundamentalistischen Bewegungen entstanden unter protestantischen Christen im 19. Jahrhundert in den USA. Bis heute sehen sie sich als Wahrer einer "echten" Gläubigkeit, dazu berufen, "Fehlentwicklungen" ihres Landes zu korrigieren. Die islamischen Fundamentalisten unterscheiden sich in dieser Weltsicht nicht. Auch sie glauben an die Möglichkeit, die Welt durch die Symbiose absoluten Glaubens und darauf fußenden Handelns erneuern zu können. Ob sich damit die globalen Probleme der Moderne lösen lassen, steht dahin. Bislang verheißt kein Gottesstaat einen Gegenbeweis. Allerdings macht das Amalgam aus Zukunftsängsten, Technikkritik, Fortschrittsfeindschaft, schärfer werdenden ökonomischen Widersprüchen und politischen Ungerechtigkeiten in immer mehr Gesellschaften und quer durch alle Bevölkerungsgruppen anfällig für Ideologismen, Lösungsutopien und Heilsversprechen, vor allem, wenn sie sich religiös legitimieren und fundamental einfach erscheinen.

Der zielorientierte Terrorismus kommt nicht ohne Interaktionsbeziehungen aus; sie machen ihn, abhängig vom Gelingen, stark und unauffindbar oder schwach und entblößt. Der importierte Terrorismus bleibt schwach und punktuell. Dagegen beginnt Zivilisation von innen zu bluten, wenn der Terrorismus heimisch wird und Unterstützung findet.

So gesehen ist jede Terrortat ein Test mit einem Binnen- und einem Außeneffekt. Nach innen sollen Kohäsion und Einsatzbereitschaft der eigenen Leute, die Bindewirkung auf die Sympathisanten und die Motivationskraft auf das Umfeld getestet, nach außen Entschlossenheit, Härte, auch Führungsanspruch bewiesen und zugleich die Gegenwehr erkundet werden. Allein deshalb wäre es falsch, "Wirkung" und "Nerven" zu zeigen, weder durch Angst noch durch Übermaß.

Eine wirksame Gefahrenabwehr gegenüber dem Terrorismus besteht in Augenmaß und in einer systematischen, international koordinierten Aufklärung der Vorfeldbereiche. Sie ist Prävention, nicht Rachefeldzug bis zum Entstaatlichungskrieg. Das unumkehrbare Erfordernis gesellschaftlicher Störungsfreiheit erzwingt die Früherkennung und Verhinderung riskanter Störungswirkung im Innern. Dies schließt das Risiko von Beschränkungen ein, doch sollte in Ruhe und nicht ideologisch geprüft werden, was nützt, ohne Liberalität und Freizügigkeit zu beschränken. Der moderne Terrorismus zwingt dazu, zwischen totalitären Antworten und integrierenden, konfliktgerechten Strategien zu entscheiden. Darin besteht die eigentliche Herausforderung des gegenwärtigen Terrorismus, zugleich aber auch die Chance, den Wert des Zivilen schätzen zu lernen und verteidigen zu wollen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die obskure Rolle Achmed Chalabis für die amerikanische Irak-Politik ohne Beteiligung von Irakern ist vielfach kritisiert worden: vgl. David L. Phillips, Pentagon's postwar fiasco coming full-circle?, in: The Christian Science Monitor vom 24.5. 2004 (www.csmonitor.com/2004/0524/p09s02-coop.html), sowie Seymor Hersh, Selective Intelligence, in: The New Yorker vom 19.9. 2004 (www.newyorker.com/fact/content/?030512fa_fact).

  2. Vgl. Bob Woodward, Der Angriff, München 2004.

  3. Vgl. Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000, Hamburg 1989, und Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1963 (Orig. 2 Bde., 1918 - 1922).

  4. Vgl. Reaktionen auf das Kopftuchverbot in Frankreich: Gesche Wüpper, Moslem oder nicht - wir sind alle Franzosen, in: Welt am Sonntag vom 5.9. 2004, S. 12.

  5. "Wir werden auf ihren Gräbern tanzen". Spiegel-Serie über die Hintergründe der Terror-Anschläge vom 11. September, in: Der Spiegel, Nr. 48 vom 26.11. 2001, S. 140 - 146.

  6. Vgl. Stefanie Dornschneider, Guantanamo darf kein Niemandsland mehr sein. Das amerikanische Verfassungsgericht setzt George Bushs Krieg gegen den Terror Grenzen, in: Die Zeit vom 29.6. 2004.

  7. Vgl. Bassam Tibi, Grenzen der Toleranz, in: Welt am Sonntag vom 5.9. 2004, S. 14.

  8. Vgl. Dieter Schenk, Der Chef. Horst Herold und das BKA, Hamburg 1998, S. 113.

  9. Ich stütze mich auf die Forschungen von Dieter Claessens, Instinkt, Psyche, Geltung. Zur Legitimation menschlichen Verhaltens, Köln-Opladen 1970.

  10. Martin und Sylvia Greiffenhagen, Deutschland und die Zivilgesellschaft, in: Auf dem Wege zur Zivilgesellschaft, 49 (1999) 3, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (www.lpb.bwue.de/aktuell/bis/3_99/ zivil2.htm, einges. am 10.9. 2004).

  11. Vgl. den Forschungsschwerpunkt "Zivilgesellschaft, Konflikte und Demokratie" des Wissenschaftszentrums Berlin.

  12. Vgl. Antonio Gramsci, Gefängnishefte, hrsg. von Klaus Bochmann/Wolfgang Fritz Haug, Hamburg-Berlin 1991ff.; zusammengefasst bei Theo Votsos, Der Begriff der Zivilgesellschaft bei Antonio Gramsci: Ein Beitrag zu Geschichte und Gegenwart politischer Theorie, Hamburg-Berlin 2001.

  13. "Die moderne Staatsgewalt", so Friedrich Engels im "Manifest der Kommunistischen Partei", "ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet." Marx-Engels-Werke, Bd. 4, Berlin (Ost) 1974, S. 459 - 493.

  14. Roosevelts "New Deal" war diese historische Alternative. Sie zielte auf einen anderen "Staat", ein anderes "Recht" und einen anderen Umgang mit Minderheiten als der deutsche Faschismus. Vgl. Harvard Sitkoff, A New Deal for Blacks: The Emergence of Civil Rights as a National Issue - The Depression Decade, New York 1978; Alan Brinkley, The New Deal and the Idea of the State, in: Steve Fraser/Gary Gerstle (Hrsg.), The Rise and Fall of the New Deal Order, Princeton, N. J. 1989, S. 85 - 121.

  15. Vgl. Gore Vidal, Amerika ist ein Polizeistaat, Spiegel-Gespräch, in: Der Spiegel, Nr. 6 vom 8.2. 1999, S. 154 - 159.

  16. Brent Scowcroft, Ein nützliches Symbol, Spiegel-Gespräch, in: Der Spiegel, Nr. 40 vom 1.10. 2001, S. 170 - 172.

  17. Vgl. z.B. Matthias Bröckers, Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9., Frankfurt/M. 2002.

  18. Michael Lüders, Mit dem Koran in die Moderne. Nicht nur das Christentum hat seine Wiedertäufer und Reformer, in: Die Zeit vom 22.12. 1995, S. 25 f.

  19. Vgl. Georg Blume, Das Gift in den Köpfen, in: Die Zeit vom 31.3. 1995, S. 14.

  20. Die Diskussionen um biometrische Daten zeigen wenig Augenmaß. Die Verwendung des Fingerabdrucks könnte viel Missbrauch verhindern, ohne dass Grundrechte eingeschränkt werden.

Dr. rer. soc., geb. 1948; Leiter der Katastrophenforschungsstelle (KFS) an der Universität Kiel.
Anschrift: KFS, Christian-Albrechts-Universität, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel.
E-Mail: E-Mail Link: Dombrowsky@kfs.uni-kiel.de

Zahlreiche Veröffentlichungen zu Katastrophenforschung, extremem Verhalten, Zivil- und Katastrophenschutz, Krieg und Terror.