Sozialpolitik zwischen Prosperität und Krieg
Die Politik der Bush-Administration wird nicht nur von europäischer Seite zumeist als dezidiert konservativ charakterisiert und mit großer Skepsis betrachtet, sondern ist - unter diesen ideologischen Vorzeichen - auch in den USA selbst heftig umstritten. Wie schon sein Amtsvorgänger, Bill Clinton (1993 - 2001), spaltet auch Präsident George W. Bush die Nation politisch tief. Von den wenigen Monaten nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 abgesehen, ist es Bush nicht gelungen, sein Versprechen einzulösen, die vorherrschende Polarisierung zwischen Demokraten und Republikanern zu überwinden. Die Sozial- und Gesundheitspolitik der Bush-Administration stellt dabei keine Ausnahme von diesem generellen Muster dar. Im Gegenteil: Unter den Vorzeichen des Wahlkampfes 2004 werden genau hier die größten Versäumnisse verortet.
Liberale Demokraten und progressive Reformer werfen Bush vor, auf drängende Probleme die falschen oder keine Antworten gegeben zu haben. Die gestiegene Arbeitslosigkeit, wachsende Armut und die zunehmende Zahl der Bürger ohne Krankenversicherung werden als Marksteine der sozialpolitischen Bilanz herausgestrichen. Damit habe Bush die Chancen und Gestaltungsspielräume der Prosperität der Clinton-Jahre in kürzester Zeit verspielt. Verantwortlich gemacht werden hierfür politische Leitvorstellungen, die sich an das radikale Programm der Republikaner von 1994 ("Contract with America") unter Führung des früheren Speaker Newt Gingrich anlehnen.
Es ist wenig überraschend, dass Präsident Bush und Vertreter seiner Partei die Leistungen der Administration in einem ganz anderen Licht darstellen. Vor dem Parteitag der Republikaner Anfang September 2004 hat Bush sein Bekenntnis zu einem sozial engagierten Konservatismus ("Compassionate Conservatism") erneuert und eine lange Liste von Vorschlägen für eine zweite Amtszeit vorgestellt.
Bushs Programm: Ein sozial engagierter Konservatismus
Der Kandidat George W. Bush hatte im Wahlkampf 2000 seine Bereitschaft herausgestrichen, sich den Herausforderungen einer "neuen Ära der Prosperität" stellen zu wollen, die ungeahnte Chancen politischer Gestaltung bot.
Demgegenüber wird Bushs Präsidentschaft häufig in Kontinuität zu der Ronald Reagans (1981 - 1989) gesehen, die zumindest aus republikanischer Sicht als großer Erfolg gilt. Bush hat sich nach dem Tod des "Großen Kommunikators" Reagan sichtlich bemüht gezeigt, sich und seine Politik in diese Traditionslinie zu stellen. Während die Anlehnung an den republikanischen Heroen in der Steuer- und Fiskalpolitik wie in der Außen- und Sicherheitspolitik noch plausibel ist, zeigen sich in der Sozial- und Gesundheitspolitik grundlegende Unterschiede. Zum einen hat Bush in seiner ersten Amtszeit keine vergleichbare Neigung gezeigt, dem Beispiel drastischer Einsparungen im Sozialbereich zu folgen. Zum anderen gehen seine Vorstellungen zur Reform auch der populären Bundesrentenversicherung (OASDI) und der Krankenversicherung für Senioren (Medicare) weit über die konventionellen Konsolidierungskonzepte Reagans hinaus. Dagegen ist die Orientierung an Strategien der Nixon- wie der Bush-I-Administration kaum zu übersehen. Bush juniors "Compassionate Conservatism" und die Initiative zur Förderung der kirchlich-religiösen Sozialarbeit ("faith-based initiative") spiegeln Bush seniors Leitmotiv einer "kinder, gentler nation" und den Vorschlag zur Stärkung gesellschaftlich-karitativer Gruppen ("Thousand-Points-of-Light"-Initiative) wider. Dies kombiniert der Präsident mit einer an Nixon erinnernden Bereitschaft, Strukturreformen und neue Bundesprogramme rechtlich zu verankern und gegebenenfalls mit hohem finanziellem Einsatz zu fundieren.
Das moralische Rückgrat der expansiv angelegten Sozialpolitik sichert Bushs "mitfühlender Konservatismus", dessen Überzeugungskraft und Attraktivität unter konservativen Republikanern die religiöse Begründung des Konzepts sichert.
Schnelle Erfolge und erste Rückschläge
Nach dem umstrittenen Sieg Bushs gegen Al Gore in den Wahlen 2000 schienen die Vorzeichen für Initiativen der neuen Administration alles andere als günstig. Bush hatte zirka 500 000 Stimmen weniger als Gore erhalten. Nur infolge der Besonderheiten des Wahlverfahrens und einer kontroversen Entscheidung des US Supreme Court, der eine Neuauszählung des Ergebnisses in Florida unterband, erhielt Bush mehr Stimmen der Wahldeputierten der Einzelstaaten (Electoral College) als sein Konkurrent. Vor dem Hintergrund einer fehlenden Mehrheit wurde ihm ein politisches Mandat für sein Wahlprogramm abgesprochen. Doch Bushs Team entschied sich, auf diese Konstellation nicht mit Zurückhaltung zu reagieren, sondern mit einem aggressiven Vorgehen, das sich auf einige wenige, zentrale Elemente des Programms konzentrieren sollte.
Die ebenso mutige wie gewagte Strategie ermöglichte zwei schnelle Erfolge, verlangte jedoch politisch einen hohen Preis. Vor allem der erste große Erfolg, die Durchsetzung der Steuersenkungen im Sommer 2001, führte zu dramatischen Veränderungen der politischen Konstellation. Die Beratung des Steuerpakets unter den vereinfachten Regeln des Haushaltsverfahrens erlaubte, den Entwurf mit nur minimalen Konzessionen an die Opposition zu verabschieden. Doch das Durchpeitschen des Gesetzes resultierte in dem Austritt des gemäßigt-zentristischen Senators Jim Jeffords aus der republikanischen Fraktion. Seine Stimme (bzw. Stimmenthaltung) ermöglichte es nun den Demokraten, die Kontrolle des Senats zu übernehmen. Dies verhinderte allerdings nicht, dass Bushs zweiter großer Erfolg, die Bildungsreform (No Child Left Behind Act), Ende 2001 verabschiedet werden konnte.
Die Weichen für die Verabschiedung des als größte Bildungsreform seit den sechziger Jahren gefeierten Gesetzes wurden durch das Eingehen eines inhaltlichen Kompromisses der Administration mit den Demokraten um Senator Edward Kennedy, den führenden Sozial- und Gesundheitsexperten der Fraktion, gestellt. Bush hatte bereits im Wahlkampf der Bildungspolitik eine zentrale Stelle in seiner sozialpolitischen Agenda eingeräumt.
Auf ungleich größere Schwierigkeiten stieß der Vorschlag zur Öffnung bestehender Förderprogramme und zur Aufstockung der Subventionen für kirchlich-religiöse Gruppen.
Sozialpolitik nach den Septemberanschlägen
Die Anschläge vom 11. September 2001 überstiegen mit der brutalen Vorgehensweise und den hohen Opferzahlen alle bisherigen Vorstellungen von Terror und lösten in den USA einen tiefen Schock aus. Politisch führten sie zu einer Neufokussierung der Präsidentschaft Bushs von der Gestaltung der "Ära der Prosperität" auf den "Krieg gegen den internationalen Terrorismus"
Bereits im Sommer 2001 hatte Präsident Bush, wiederum einem Wahlkampfversprechen folgend, die President's Commission to Strengthen Social Security eingesetzt. Die Kommission unter dem gemeinsamen Vorsitz von Richard Parsons, CEO von AOL/Time Warner und dem früheren Senator Daniel Patrick Moynihan legte fristgemäß am 21. Dezember 2001 ihren Bericht vor.
Doch unbeschadet der Kritik nehmen die Empfehlungen zunächst die gegenwärtigen Leistungsbezieher von den Kürzungen aus. Zudem wird die Einführung einer Mindestsicherung für einkommensschwächere Leistungsbezieher in Erwägung gezogen, die dem bestehenden System fehlt. Darüber hinaus würde die Einführung der Individualkonten erst zu einem späteren Zeitpunkt zu effektiven Einsparungen führen. Die aufgrund der Übergangsphase erforderliche Finanzierung von zwei Rentensystemen würde zunächst Mehrkosten von über 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr implizieren. Die häufig als "Privatisierung" charakterisierte oder kritisierte Einführung individueller Rentenkonten hätte demnach nicht einfach einen Rückzug des Staates zur Folge. Bei Vergleichen mit alternativen Sanierungskonzepten bleibt außerdem zu berücksichtigen, dass diese angesichts drohender Defizite ebenfalls Leistungskürzungen vorsehen müssen. Doch ein zentrales Manko der Kommissionsarbeit blieb, dass sich die Mitglieder selbst nicht auf eine Empfehlung einigen konnten, sondern drei unterschiedliche Reformoptionen skizzierten. Die fehlende klare Vorgabe und die mit Blick auf die schlechte Performance der Aktienmärkte nach dem Ende des Booms der neunziger Jahre wenig positive Aufnahme der Vorschläge führten zu einer stillschweigenden Vertagung der Debatte.
Als kaum erfolgreicher erwiesen sich Bemühungen um eine Novellierung des Reformgesetzes zur Familiensozialhilfe (Temporary Assistance to Needy Families) von 1996.
Die Medikamenten- Zusatzversicherung
Die Phase demonstrativer nationaler Einigkeit und zwischenparteilicher Kooperation nach den Septemberanschlägen endete spätestens mit den Kongresswahlkämpfen 2002. Die Demokraten hatten mit diesen Wahlen große Hoffnungen auf die Wiedergewinnung der Mehrheiten im Kongress verbunden. Der unerwartete Sieg der Republikaner, die ihre Kampagnen mit harten Positionen in der Sicherheitspolitik geführt hatten, resultierte in einer herben Enttäuschung für die Demokraten. Das engagierte Auftreten Bushs für republikanische Kandidaten in allen Teilen des Landes ließ kaum noch Raum für eine Beschwörung des überparteilichen Schulterschlusses. Dafür bot aber die erneute Kontrolle der Republikaner über beide Kammern der Legislative der Administration verbesserte Chancen, eine auf die eigene Stärke setzende Strategie zu verfolgen.
Die Debatte über eine staatliche Zusatzversicherung unter Medicare, der Krankenversicherung für Senioren, Behinderte und chronisch Kranke, die die in den letzten Jahren rasant gewachsenen Ausgaben für Medikamente abdeckt, reicht weit in Clintons zweite Amtszeit zurück.
Die Flexibilität in der Sache erwies sich als Schlüssel zum Erfolg. Bush ließ im Zuge der Verhandlungen die Koppelung an eine Strukturreform und Kosteneinsparungen umstandslos fallen. Zudem wurde das neue Programm unter die Aufsicht derMedicare-Behörde gestellt. Im Gegensatz zu demokratischen Vorstellungen werden die Versicherungen jedoch von privaten Anbietern getragen, die für jeden Versicherten unter Auflagen Subventionen erhalten. Um die Kosten unter der Grenze von 400 Milliarden US-Dollar bis 2013 zu halten, wurde die Einführung gestaffelt und der Versicherungsschutz bis zu maximalen Eigenbeiträgen von rund 3 600 US-Dollar pro Jahr auf Zuzahlungen begrenzt. Ungeachtet der Zugeständnisse, die in den eigenen Reihen merklichen Unmut auslösten, konnte Bush nur wenige Demokraten für den Gesetzentwurf gewinnen, und die Mehrheiten fielen in beiden Kammern knapp aus. Im Repräsentantenhaus geriet die Abstimmung zu einem mitternächtlichen Drama: Nachdem sich bei der Auszählung eine Niederlage der Administration andeutete, verlängerte die republikanische Repräsentantenhausführung die Abstimmungsfrist um drei Stunden, um mehrere abtrünnige Abgeordnete zu einer Änderung ihres Votums zu bewegen. Gegen die wütenden Proteste der Demokraten wurde das Gesetz in den frühen Morgenstunden mit 220 gegen 215 Stimmen angenommen. Nur 16 Demokraten schlossen sich der Mehrheit an, 25 Republikaner stellten sich gegen ihre Fraktion. Der Senat verabschiedete das Gesetz mit 54 gegen 44 Stimmen.
Einen weiteren Eklat löste das Bekanntwerden von Kostenschätzungen aus, welche die Administration dem Kongress während der Debatte vorenthalten hatte. Die Kosten wurden in den ersten zehn Jahren mit über 530 Milliarden US-Dollar veranschlagt. Angesichts der Bedenken konservativer Republikaner, die dem Gesetz nur unter der Garantie des Nichtüberschreitens des Ausgabenrahmens zugestimmt hatten, ist es fraglich, ob das Programm bei einer früheren Veröffentlichung der Daten die Zustimmung der Legislative gefunden hätte. Doch auch ohne die zunehmende Verbitterung unter den Demokraten war unter den Republikanern das Potenzial für weitere sozialpolitische Initiativen erschöpft. Auf der Strecke blieben nicht nur Vorhaben der Bush-Administration zur Ausweitung des Krankenversicherungsschutzes von Arbeitnehmern und Selbstversicherten. Auch Vorstöße der Demokraten zur Sicherung der Rechte von Patienten und Ärzten gegenüber Versicherungen (Patient Bill of Rights) hatten wie die Forderung Bushs, Schadenersatzklagen bei medizinischen Behandlungsfehlern einzudämmen, im Wahljahr keine Aussichten auf Erfolg.
Bilanz und Ausblick
Die Bush-Administration bescheinigt sich im Wahlkampf 2004 eine angesichts der schwierigen Lage gute, wenn nicht glänzende sozialpolitische Bilanz. Die verfügbaren sozioökonomischen Indikatoren ergeben ein etwas nüchterneres Bild: Der jüngste Bericht der Zensusbehörde zu Einkommen, Armut und Krankenversicherung zeigt, dass bis 2003 die Armutsquote von 11,3 (2000) auf 12,5 Prozent gestiegen ist.
Mit Blick auf die gesetzgeberischen Leistungen fällt die Bewertung nuancierter aus. Zwei eindrucksvollen Durchbrüchen, der Bildungsreform und der Medikamenten-Zusatzversicherung, sowie weiteren kleinen Erfolgen steht eine kaum weniger beachtliche Liste von Fehlschlägen und Versäumnissen gegenüber, auf der neben der blockierten Förderung kirchlich-religiöser Sozialarbeit insbesondere die Vertagung wichtiger Strukturreformen stehen. Bushs Strategie, inhaltliche Flexibilität mit einer kalten Abwägung taktischer Optionen zu verbinden und je nach Lage eine harte parteipolitische Linie zu verfolgen oder auf zwischenparteilichen Kompromiss zu setzen, hat dazu beigetragen, die Erwartungen der meisten Beobachter in der Sozialpolitik zu übertreffen. Die Aura des Erfolgs beruht jedoch auch darauf, dass sich Bush im Gegensatz zu Clinton schwierigere Vorhaben nicht ernsthaft gewidmet hat. DieFinanzierungsprobleme der beiden größeren Reformwerke trüben zudem das positive Bild.
Dies gilt auch für die generelle Einschätzung der Sozial- und Gesundheitspolitik. Wie vor allem konservative Kommentatoren anmerken, hat Bush nicht nur drastische Einsparungen nach dem Vorbild Reagans vermissen lassen, sondern auch die strikte Ausgabendisziplin seines unmittelbaren Amtsvorgängers. Wenngleich aktuelle Daten zur Sozialleistungsquote insgesamt fehlen, deutet die funktionale Zusammensetzung des Bundeshaushalts an, dass die Sozialausgaben (Human Resources) unter Bush merklich gestiegen sind. Bis 2004 hat deren Anteil von 11,5 (2000) auf 13,1 Prozent des GDP (Bruttoinlandsprodukt) zugenommen und macht mittlerweile 64,6 Prozent des Gesamthaushalts aus, gegenüber 62,6 Prozent in Clintons letztem Amtsjahr.