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Die Sozial- und Gesundheitspolitikder Bush-Regierung

Söhnke Schreyer

/ 17 Minuten zu lesen

Die Sozial- und Gesundheitspolitik der Bush-Administration wird von europäischer Seite als dezidiert konservativ charakterisiert. Sie ist auch heftiger Kritik in den USA ausgesetzt. Jenseits aller Kritik ist das Bild jedoch differenzierter.

Sozialpolitik zwischen Prosperität und Krieg

Die Politik der Bush-Administration wird nicht nur von europäischer Seite zumeist als dezidiert konservativ charakterisiert und mit großer Skepsis betrachtet, sondern ist - unter diesen ideologischen Vorzeichen - auch in den USA selbst heftig umstritten. Wie schon sein Amtsvorgänger, Bill Clinton (1993 - 2001), spaltet auch Präsident George W. Bush die Nation politisch tief. Von den wenigen Monaten nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 abgesehen, ist es Bush nicht gelungen, sein Versprechen einzulösen, die vorherrschende Polarisierung zwischen Demokraten und Republikanern zu überwinden. Die Sozial- und Gesundheitspolitik der Bush-Administration stellt dabei keine Ausnahme von diesem generellen Muster dar. Im Gegenteil: Unter den Vorzeichen des Wahlkampfes 2004 werden genau hier die größten Versäumnisse verortet.


Liberale Demokraten und progressive Reformer werfen Bush vor, auf drängende Probleme die falschen oder keine Antworten gegeben zu haben. Die gestiegene Arbeitslosigkeit, wachsende Armut und die zunehmende Zahl der Bürger ohne Krankenversicherung werden als Marksteine der sozialpolitischen Bilanz herausgestrichen. Damit habe Bush die Chancen und Gestaltungsspielräume der Prosperität der Clinton-Jahre in kürzester Zeit verspielt. Verantwortlich gemacht werden hierfür politische Leitvorstellungen, die sich an das radikale Programm der Republikaner von 1994 ("Contract with America") unter Führung des früheren Speaker Newt Gingrich anlehnen. Die gemäßigte und häufig auf religiöse Motive zurückgreifende Rhetorik Bushs bemäntele dabei eine "neoliberale Strategie", die über eine Politik der "tausend kleinen Einschnitte" den Sozialstaat ausblute und dessen langfristige Überlebensfähigkeit in Frage stelle.

Es ist wenig überraschend, dass Präsident Bush und Vertreter seiner Partei die Leistungen der Administration in einem ganz anderen Licht darstellen. Vor dem Parteitag der Republikaner Anfang September 2004 hat Bush sein Bekenntnis zu einem sozial engagierten Konservatismus ("Compassionate Conservatism") erneuert und eine lange Liste von Vorschlägen für eine zweite Amtszeit vorgestellt. Die ökonomischen Probleme werden als Folge der zum Ende der Clinton-Präsidentschaft einsetzenden Rezession und des Schocks der Terroranschläge von 2001 dargestellt, auf welche die Politik die richtigen Antworten gefunden habe. Darüber hinaus werden vor allem die Bildungsreform von 2001 und die Medikamenten-Zusatzversicherung für Senioren von 2003 als Belege für das Engagement und die Durchsetzungsfähigkeit hervorgehoben. Der Hinweis konservativer Politiker und Kommentatoren auf die aktive Sozialpolitik der Bush-Administration ist dabei keineswegs als reines Wahlkampfmanöver abzutun. Vielmehr wird unter konservativen Denkern und Praktikern Bushs etatistischer Konservatismus ("Big-Government Conservatism") durchaus kritisch diskutiert. Die in allen Bereichen wachsenden Ausgaben des Bundes werden gleichermaßen als Problem eines regierungsfähigen Konservatismus wie einer längerfristig tragbaren Politik in Frage gestellt.

Bushs Programm: Ein sozial engagierter Konservatismus

Der Kandidat George W. Bush hatte im Wahlkampf 2000 seine Bereitschaft herausgestrichen, sich den Herausforderungen einer "neuen Ära der Prosperität" stellen zu wollen, die ungeahnte Chancen politischer Gestaltung bot. Präsident Clinton hinterließ seinem Nachfolger in der Sozial- und Gesundheitspolitik grundlegend veränderte Rahmenbedingungen. Das hohe Wirtschaftswachstum der neunziger Jahre hatte die Einkommen der Bevölkerung auf breiter Front steigen und die Armut sinken lassen. Die Kurskorrekturen nach dem Scheitern der Clinton'schen Gesundheitsreform von 1993/94 hatten neues Vertrauen in die Lösungskompetenz der Politik geschaffen. Insbesondere die Reform der Familiensozialhilfe (AFDC), auf die sich seit den siebziger Jahren die Kritik von konservativer Seite wie der Unmut breiter Teile der Bevölkerung konzentriert hatte, beendete weitgehend die schleichende Legitimitätskrise der US-Sozialpolitik. Die Verwandlung der anhaltenden Defizite des Bundeshaushalts in enorme Überschüsse befreite die Debatte aus dem eisernen Korsett chronischer Verschuldung. Clintons Wiederwahl 1996 und die hohe Popularität ungeachtet der Lewinsky-Affäre und des (gescheiterten) Impeachments 1998/99 deuteten darauf hin, dass Clintons zentristischer und eklektischer Stil auch für andere Politiker ein Erfolgsmodell sein könnte. Dagegen scheiterte die "Republican Revolution" von 1994 unter Newt Gingrich, die gerade mit Vorschlägen zu tiefen Einschnitten in populäre Sozialprogramme rasch an Zustimmung unter der Bevölkerung verloren hatte.

Demgegenüber wird Bushs Präsidentschaft häufig in Kontinuität zu der Ronald Reagans (1981 - 1989) gesehen, die zumindest aus republikanischer Sicht als großer Erfolg gilt. Bush hat sich nach dem Tod des "Großen Kommunikators" Reagan sichtlich bemüht gezeigt, sich und seine Politik in diese Traditionslinie zu stellen. Während die Anlehnung an den republikanischen Heroen in der Steuer- und Fiskalpolitik wie in der Außen- und Sicherheitspolitik noch plausibel ist, zeigen sich in der Sozial- und Gesundheitspolitik grundlegende Unterschiede. Zum einen hat Bush in seiner ersten Amtszeit keine vergleichbare Neigung gezeigt, dem Beispiel drastischer Einsparungen im Sozialbereich zu folgen. Zum anderen gehen seine Vorstellungen zur Reform auch der populären Bundesrentenversicherung (OASDI) und der Krankenversicherung für Senioren (Medicare) weit über die konventionellen Konsolidierungskonzepte Reagans hinaus. Dagegen ist die Orientierung an Strategien der Nixon- wie der Bush-I-Administration kaum zu übersehen. Bush juniors "Compassionate Conservatism" und die Initiative zur Förderung der kirchlich-religiösen Sozialarbeit ("faith-based initiative") spiegeln Bush seniors Leitmotiv einer "kinder, gentler nation" und den Vorschlag zur Stärkung gesellschaftlich-karitativer Gruppen ("Thousand-Points-of-Light"-Initiative) wider. Dies kombiniert der Präsident mit einer an Nixon erinnernden Bereitschaft, Strukturreformen und neue Bundesprogramme rechtlich zu verankern und gegebenenfalls mit hohem finanziellem Einsatz zu fundieren.

Das moralische Rückgrat der expansiv angelegten Sozialpolitik sichert Bushs "mitfühlender Konservatismus", dessen Überzeugungskraft und Attraktivität unter konservativen Republikanern die religiöse Begründung des Konzepts sichert. Mit der Betonung von Gerechtigkeit und Fairness, Eigenverantwortung und Charakter, Wahlfreiheit und Unternehmergeist, moralischer Führung und Glaube sowie Toleranz und Idealismus erlaubt das Konzept einerseits das Aufgreifen moderner marktorientierter Instrumente, welche die gegenwärtige Debatte (nicht nur) unter US-Konservativen bestimmen. Zum anderen begründet es aber, im Sinne von Subsidiarität, eine fördernde und aktiv gestaltende Rolle des Staates, die unter den Imperativ der Solidarität gestellt wird. Das Herzstück des Compassionate Conservatism ist Bushs Vorschlag zum Ausbau der Förderung der Sozialarbeit kirchlich-religiöser Gruppen ohne Einschränkungen für die Praktizierung ihres Glaubens. Doch damit werden direkte staatliche Eingriffe oder Programme nicht ausgeschlossen, zumal wenn sie den Prinzipien der Eigenverantwortung und Wahlfreiheit entgegenkommen und den Vorstellungen einer "Teilhaber-Gesellschaft" ("Ownership Society") entsprechen, die das soziale Gewebe durch "Teilhaben" und damit "Anteil-nehmen" möglichst aller Mitglieder moralisch stärken will.

Schnelle Erfolge und erste Rückschläge

Nach dem umstrittenen Sieg Bushs gegen Al Gore in den Wahlen 2000 schienen die Vorzeichen für Initiativen der neuen Administration alles andere als günstig. Bush hatte zirka 500 000 Stimmen weniger als Gore erhalten. Nur infolge der Besonderheiten des Wahlverfahrens und einer kontroversen Entscheidung des US Supreme Court, der eine Neuauszählung des Ergebnisses in Florida unterband, erhielt Bush mehr Stimmen der Wahldeputierten der Einzelstaaten (Electoral College) als sein Konkurrent. Vor dem Hintergrund einer fehlenden Mehrheit wurde ihm ein politisches Mandat für sein Wahlprogramm abgesprochen. Doch Bushs Team entschied sich, auf diese Konstellation nicht mit Zurückhaltung zu reagieren, sondern mit einem aggressiven Vorgehen, das sich auf einige wenige, zentrale Elemente des Programms konzentrieren sollte.

Die ebenso mutige wie gewagte Strategie ermöglichte zwei schnelle Erfolge, verlangte jedoch politisch einen hohen Preis. Vor allem der erste große Erfolg, die Durchsetzung der Steuersenkungen im Sommer 2001, führte zu dramatischen Veränderungen der politischen Konstellation. Die Beratung des Steuerpakets unter den vereinfachten Regeln des Haushaltsverfahrens erlaubte, den Entwurf mit nur minimalen Konzessionen an die Opposition zu verabschieden. Doch das Durchpeitschen des Gesetzes resultierte in dem Austritt des gemäßigt-zentristischen Senators Jim Jeffords aus der republikanischen Fraktion. Seine Stimme (bzw. Stimmenthaltung) ermöglichte es nun den Demokraten, die Kontrolle des Senats zu übernehmen. Dies verhinderte allerdings nicht, dass Bushs zweiter großer Erfolg, die Bildungsreform (No Child Left Behind Act), Ende 2001 verabschiedet werden konnte.

Die Weichen für die Verabschiedung des als größte Bildungsreform seit den sechziger Jahren gefeierten Gesetzes wurden durch das Eingehen eines inhaltlichen Kompromisses der Administration mit den Demokraten um Senator Edward Kennedy, den führenden Sozial- und Gesundheitsexperten der Fraktion, gestellt. Bush hatte bereits im Wahlkampf der Bildungspolitik eine zentrale Stelle in seiner sozialpolitischen Agenda eingeräumt. Seine Vorschläge verbanden die Einführung flächendeckender Leistungstest für Schüler und Schulen sowie die Einführung von "school vouchers", Fördergutscheinen für den Besuch von Privatschulen, unter Konservativen populäre Instrumente, mit einer drastischen Aufstockung der Bundesbeihilfen für die Einzelstaaten, die demokratischen Forderungen entsprach. Mit dem Verzicht auf die umstrittenen school vouchers und einer Erhöhung der in Aussicht gestellten Fördermittel (26 Milliarden US-Dollar in den ersten fünf Jahren), die insbesondere ärmeren Schulbezirken zugute kommen sollten, gewann der Präsident mühelos die Unterstützung der meisten Demokraten. Die härteste Kritik kam aus den Reihen der konservativen Republikaner, die noch vor kurzem die Abschaffung des Bundesbildungsministeriums gefordert hatten und für die der Verzicht auf school vouchers das Gesetz zu einer bitteren Pille machte. Dennoch wurde es mit überwältigender Mehrheit angenommen, im Senat mit 87 gegen 10 Stimmen, im Repräsentantenhaus mit 381 gegen 41 Stimmen. Kritik von demokratischer Seite, die das Nichteinhalten der finanziellen Zusagen bemängelte, setzte erst später ein.

Auf ungleich größere Schwierigkeiten stieß der Vorschlag zur Öffnung bestehender Förderprogramme und zur Aufstockung der Subventionen für kirchlich-religiöse Gruppen. Die Forderung, religiösen Organisationen Zugang zu staatlichen Mitteln zu gewähren, ohne diese mit restriktiven Auflagen zu verbinden, bildete den zentralen Ansatzpunkt für Marvin Olasky, den führenden Vertreter des Compassionate Conservatism. Doch die Stärkung der kirchlich-religiösen Sozialarbeit wurde auch unter Demokraten positiv aufgenommen. Bush ernannte John DiIulio jr., bekennender Katholik und Demokrat, zum Direktor des neuen Office of Faith-based and Community Initiatives. Ungeachtet der Bemühungen gerieten die Verhandlungen jedoch in Schwierigkeiten. Konservative Protestanten und Katholiken bestanden auf größtmöglichen Freiräumen in Glaubensfragen. Progressive Gruppen und die Mehrheit der Demokraten hielten dagegen an Nichtdiskriminierungsbestimmungen fest. Gleichzeitig wurden Bedenken gegen die (mögliche) Förderung extremistischer Gruppen wie der Nation of Islam oder der Church of Scientology laut. Im August 2001 resignierte DiIulio und trat, offiziell aus persönlichen und gesundheitlichen Gründen, von seinem Amt zurück. Damit geriet die Initiative aus den Gleisen, und selbst ein auf kleinere Steuervergünstigungen reduzierter Vorschlag der Administration erwies sich als nicht durchsetzbar.

Sozialpolitik nach den Septemberanschlägen

Die Anschläge vom 11. September 2001 überstiegen mit der brutalen Vorgehensweise und den hohen Opferzahlen alle bisherigen Vorstellungen von Terror und lösten in den USA einen tiefen Schock aus. Politisch führten sie zu einer Neufokussierung der Präsidentschaft Bushs von der Gestaltung der "Ära der Prosperität" auf den "Krieg gegen den internationalen Terrorismus". Die Sozial- und Gesundheitspolitik stand in den Monaten unmittelbar nach den Anschlägen hinter den Erfordernissen der veränderten Sicherheitslage zurück. Bemerkenswert ist allerdings, dass - gemessen an der Tragweite der Ereignisse - der "innere Burgfrieden" nur kurze Zeit anhielt und sozialpolitische Themen rasch wieder auf die Agenda drängten. Doch bereits angelaufene Initiativen wie auch der fortbestehende Problemdruck ließen hierzu kaum eine Alternative.

Bereits im Sommer 2001 hatte Präsident Bush, wiederum einem Wahlkampfversprechen folgend, die President's Commission to Strengthen Social Security eingesetzt. Die Kommission unter dem gemeinsamen Vorsitz von Richard Parsons, CEO von AOL/Time Warner und dem früheren Senator Daniel Patrick Moynihan legte fristgemäß am 21. Dezember 2001 ihren Bericht vor. Auf den ersten Blick folgte sie dem Modell der zwischenparteilichen Kooperation der Bildungsreform. Aber Bush hatte sich bei der Auswahl der Kommissionsmitglieder auf Unterstützer seines Konzepts individueller Rentensparkonten (Personal Retirement Accounts) beschränkt. Damit wurden Kritiker und Vertreter alternativer Strategien von vornherein ausgeschlossen. Die Empfehlungen der Kommission schlugen dementsprechend eine Herabsetzung der künftigen Leistungsanpassungen der Rentenversicherung vor,die durch die Einführung individueller Anlagekonten kompensiert werden sollte, die - so das Kalkül - höhere Ertragsraten aufweisen. Kritiker vor allem auf demokratischer Seite wandten sich vehement gegen die vermuteten drastischen Einschnitte und bemängelten, die Individualkonten würden erhebliche Risiken beinhalten, zumal beiAktienanlagen, die für Einzelne kaum tragbar seien.

Doch unbeschadet der Kritik nehmen die Empfehlungen zunächst die gegenwärtigen Leistungsbezieher von den Kürzungen aus. Zudem wird die Einführung einer Mindestsicherung für einkommensschwächere Leistungsbezieher in Erwägung gezogen, die dem bestehenden System fehlt. Darüber hinaus würde die Einführung der Individualkonten erst zu einem späteren Zeitpunkt zu effektiven Einsparungen führen. Die aufgrund der Übergangsphase erforderliche Finanzierung von zwei Rentensystemen würde zunächst Mehrkosten von über 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr implizieren. Die häufig als "Privatisierung" charakterisierte oder kritisierte Einführung individueller Rentenkonten hätte demnach nicht einfach einen Rückzug des Staates zur Folge. Bei Vergleichen mit alternativen Sanierungskonzepten bleibt außerdem zu berücksichtigen, dass diese angesichts drohender Defizite ebenfalls Leistungskürzungen vorsehen müssen. Doch ein zentrales Manko der Kommissionsarbeit blieb, dass sich die Mitglieder selbst nicht auf eine Empfehlung einigen konnten, sondern drei unterschiedliche Reformoptionen skizzierten. Die fehlende klare Vorgabe und die mit Blick auf die schlechte Performance der Aktienmärkte nach dem Ende des Booms der neunziger Jahre wenig positive Aufnahme der Vorschläge führten zu einer stillschweigenden Vertagung der Debatte.

Als kaum erfolgreicher erwiesen sich Bemühungen um eine Novellierung des Reformgesetzes zur Familiensozialhilfe (Temporary Assistance to Needy Families) von 1996. Gemäß den Bestimmungen des viel gepriesenen, gelegentlich aber auch kritisch kommentierten Reformgesetzes lief es 2002 aus und stand zur Überprüfung an. Präsident Bushs Vorschlag zur Novellierung konzentrierte sich auf zwei Aspekte. Zum einen forderte die Administration eine Verschärfung der Arbeitsanforderungen an Leistungsbezieher, die im Gegenzug erhöhte Zuschüsse für die Kinderbetreuung notwendig machte. Zum anderen propagierte der Präsident eine verstärkte Förderung für verheiratete Elternpaare, um damit den Weg aus der Armut zu erleichtern. Zunächst sollten nach Bushs Vorschlag jedoch nur 100 Millionen US-Dollar jährlich für die Beratung und weitere 100 Millionen US-Dollar für experimentelle Programme der Einzelstaaten zur Verfügung stehen. Die Demokraten setzen demgegenüber auf verstärkte Hilfen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Während das Repräsentantenhaus 2002 und 2003 Gesetzentwürfe verabschiedet hat, die den Vorstellungen der Administration sehr nahe kommen, ist die Aushandlung eines Kompromisses mit den Demokraten im Senat bisher an der Frage der zusätzlichen Mittel für die Kinderbetreuung und Arbeitsmarkteingliederung gescheitert. Für das Ausbleiben eines Kompromisses kann die veränderte Sicherheitslage bestenfalls kurzfristig verantwortlich gemacht werden. Entscheidend ist vielmehr der wieder entfachte Parteienstreit, der selbst in relativ klein dimensionierten Fragen Kompromisse blockiert. Die Administration hat allerdings das Engagement vermissen lassen, das die Blockade hätte überwinden können.

Die Medikamenten- Zusatzversicherung

Die Phase demonstrativer nationaler Einigkeit und zwischenparteilicher Kooperation nach den Septemberanschlägen endete spätestens mit den Kongresswahlkämpfen 2002. Die Demokraten hatten mit diesen Wahlen große Hoffnungen auf die Wiedergewinnung der Mehrheiten im Kongress verbunden. Der unerwartete Sieg der Republikaner, die ihre Kampagnen mit harten Positionen in der Sicherheitspolitik geführt hatten, resultierte in einer herben Enttäuschung für die Demokraten. Das engagierte Auftreten Bushs für republikanische Kandidaten in allen Teilen des Landes ließ kaum noch Raum für eine Beschwörung des überparteilichen Schulterschlusses. Dafür bot aber die erneute Kontrolle der Republikaner über beide Kammern der Legislative der Administration verbesserte Chancen, eine auf die eigene Stärke setzende Strategie zu verfolgen. Mit einer erheblichen Kraftanstrengung ermöglichte dies die Verabschiedung einer zweiten größeren Sozialreform.

Die Debatte über eine staatliche Zusatzversicherung unter Medicare, der Krankenversicherung für Senioren, Behinderte und chronisch Kranke, die die in den letzten Jahren rasant gewachsenen Ausgaben für Medikamente abdeckt, reicht weit in Clintons zweite Amtszeit zurück. Bush griff im Wahlkampf 2000 die Nichtdurchsetzung des populären Vorhabens auf und versprach, er werde als Präsident eine tragbare Lösung finden. Sein anfängliches Konzept, Bundesmittel zur Förderung von Zusatzversicherungen bereitzustellen, die unter der Regie und Beteiligung von Einzelstaaten eingerichtet werden sollten, entsprach zwar klassischen konservativen Vorstellungen, stieß jedoch im Kongress auf geringe Resonanz. Vor allem konservative Republikaner forderten, die Medikamenten-Zusatzversicherung als Hebel für eine marktorientierte Strukturreform von Medicare und durchgreifende Kosteneinsparungen zu nutzen. Die Demokraten setzten dagegen mehrheitlich auf einen Ausbau des bestehenden Programms, das durch die gebündelte Marktmacht der Versicherten spürbare Preisnachlässe durchsetzbar machen sollte. Wenngleich Bush angesichts der festgefahrenen Fronten primär auf eine republikanische Mehrheitsstrategie setzte, zeigte er sich doch wie zuvor zu erheblichen Zugeständnissen bereit. Dies war zum einen notwendig, um das Abspringen innerparteilicher Dissidenten ausgleichen zu können, zum anderen, um im Senat 60 Stimmen für die Durchbrechung einer Blockade durch ein filibuster, d.h. eine ausgeweitete Debatte im Senat, die eine Abstimmung verhindern soll, zu sichern.

Die Flexibilität in der Sache erwies sich als Schlüssel zum Erfolg. Bush ließ im Zuge der Verhandlungen die Koppelung an eine Strukturreform und Kosteneinsparungen umstandslos fallen. Zudem wurde das neue Programm unter die Aufsicht derMedicare-Behörde gestellt. Im Gegensatz zu demokratischen Vorstellungen werden die Versicherungen jedoch von privaten Anbietern getragen, die für jeden Versicherten unter Auflagen Subventionen erhalten. Um die Kosten unter der Grenze von 400 Milliarden US-Dollar bis 2013 zu halten, wurde die Einführung gestaffelt und der Versicherungsschutz bis zu maximalen Eigenbeiträgen von rund 3 600 US-Dollar pro Jahr auf Zuzahlungen begrenzt. Ungeachtet der Zugeständnisse, die in den eigenen Reihen merklichen Unmut auslösten, konnte Bush nur wenige Demokraten für den Gesetzentwurf gewinnen, und die Mehrheiten fielen in beiden Kammern knapp aus. Im Repräsentantenhaus geriet die Abstimmung zu einem mitternächtlichen Drama: Nachdem sich bei der Auszählung eine Niederlage der Administration andeutete, verlängerte die republikanische Repräsentantenhausführung die Abstimmungsfrist um drei Stunden, um mehrere abtrünnige Abgeordnete zu einer Änderung ihres Votums zu bewegen. Gegen die wütenden Proteste der Demokraten wurde das Gesetz in den frühen Morgenstunden mit 220 gegen 215 Stimmen angenommen. Nur 16 Demokraten schlossen sich der Mehrheit an, 25 Republikaner stellten sich gegen ihre Fraktion. Der Senat verabschiedete das Gesetz mit 54 gegen 44 Stimmen.

Einen weiteren Eklat löste das Bekanntwerden von Kostenschätzungen aus, welche die Administration dem Kongress während der Debatte vorenthalten hatte. Die Kosten wurden in den ersten zehn Jahren mit über 530 Milliarden US-Dollar veranschlagt. Angesichts der Bedenken konservativer Republikaner, die dem Gesetz nur unter der Garantie des Nichtüberschreitens des Ausgabenrahmens zugestimmt hatten, ist es fraglich, ob das Programm bei einer früheren Veröffentlichung der Daten die Zustimmung der Legislative gefunden hätte. Doch auch ohne die zunehmende Verbitterung unter den Demokraten war unter den Republikanern das Potenzial für weitere sozialpolitische Initiativen erschöpft. Auf der Strecke blieben nicht nur Vorhaben der Bush-Administration zur Ausweitung des Krankenversicherungsschutzes von Arbeitnehmern und Selbstversicherten. Auch Vorstöße der Demokraten zur Sicherung der Rechte von Patienten und Ärzten gegenüber Versicherungen (Patient Bill of Rights) hatten wie die Forderung Bushs, Schadenersatzklagen bei medizinischen Behandlungsfehlern einzudämmen, im Wahljahr keine Aussichten auf Erfolg.

Bilanz und Ausblick

Die Bush-Administration bescheinigt sich im Wahlkampf 2004 eine angesichts der schwierigen Lage gute, wenn nicht glänzende sozialpolitische Bilanz. Die verfügbaren sozioökonomischen Indikatoren ergeben ein etwas nüchterneres Bild: Der jüngste Bericht der Zensusbehörde zu Einkommen, Armut und Krankenversicherung zeigt, dass bis 2003 die Armutsquote von 11,3 (2000) auf 12,5 Prozent gestiegen ist. Das Durchschnittseinkommen ist von knapp 45 000 US-Dollar pro Jahr auf 43 318 zurückgegangen. Die Zahl der Bürger ohne Krankenversicherung erreichte mit 45 Millionen eine neue Rekordmarke. Die Verschlechterung der Indikatoren ist der der milden Rezession von Anfang der neunziger Jahre vergleichbar, erreicht allerdings nicht das Niveau schwererer Konjunktureinbrüche wie Anfang der achtziger Jahre. Der Vergleich deutet eine in etwa durchschnittliche Performance unter der Bush-II-Präsidentschaft an. Die enormen fiskalischen Handlungsspielräume zu Beginn von Bushs erster Amtsperiode begründen allerdings die höheren Maßstäbe, die demokratische Kritiker ansetzen.

Mit Blick auf die gesetzgeberischen Leistungen fällt die Bewertung nuancierter aus. Zwei eindrucksvollen Durchbrüchen, der Bildungsreform und der Medikamenten-Zusatzversicherung, sowie weiteren kleinen Erfolgen steht eine kaum weniger beachtliche Liste von Fehlschlägen und Versäumnissen gegenüber, auf der neben der blockierten Förderung kirchlich-religiöser Sozialarbeit insbesondere die Vertagung wichtiger Strukturreformen stehen. Bushs Strategie, inhaltliche Flexibilität mit einer kalten Abwägung taktischer Optionen zu verbinden und je nach Lage eine harte parteipolitische Linie zu verfolgen oder auf zwischenparteilichen Kompromiss zu setzen, hat dazu beigetragen, die Erwartungen der meisten Beobachter in der Sozialpolitik zu übertreffen. Die Aura des Erfolgs beruht jedoch auch darauf, dass sich Bush im Gegensatz zu Clinton schwierigere Vorhaben nicht ernsthaft gewidmet hat. DieFinanzierungsprobleme der beiden größeren Reformwerke trüben zudem das positive Bild.

Dies gilt auch für die generelle Einschätzung der Sozial- und Gesundheitspolitik. Wie vor allem konservative Kommentatoren anmerken, hat Bush nicht nur drastische Einsparungen nach dem Vorbild Reagans vermissen lassen, sondern auch die strikte Ausgabendisziplin seines unmittelbaren Amtsvorgängers. Wenngleich aktuelle Daten zur Sozialleistungsquote insgesamt fehlen, deutet die funktionale Zusammensetzung des Bundeshaushalts an, dass die Sozialausgaben (Human Resources) unter Bush merklich gestiegen sind. Bis 2004 hat deren Anteil von 11,5 (2000) auf 13,1 Prozent des GDP (Bruttoinlandsprodukt) zugenommen und macht mittlerweile 64,6 Prozent des Gesamthaushalts aus, gegenüber 62,6 Prozent in Clintons letztem Amtsjahr. Dies berücksichtigt noch nicht, dass wesentliche Teile der beschlossenen Ausgaben erst in den kommenden Jahren voll zu Buche schlagen werden. Die infolge von Wachstumsschwäche, Kriegskosten und Steuersenkungen von Überschüssen in neue Rekorddefizite umgeschlagene Bilanz des Bundeshaushalts wirft für die Zukunft der sozialpolitischen Debatte und Gestaltungsspielräume ernsthafte Fragen auf. Bemerkenswert ist, dass der Wahlkampf 2004 das so offensichtliche Problem weitgehend ignoriert und der Republikaner Bush seinen demokratischen Kontrahenten mit Ausgabenversprechungen noch übertrifft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Senator Edward Kennedy, Speech delivered at the Brookings Institution, Washington, D.C., 5. 4. 2004; vgl. http://www.brookings.org.

  2. Vgl. David Stoesz, The American Welfare State at Twilight, in: Journal of Social Policy, 31 (2002), S. 487 - 503; Robert P. Weiss, Charitable Choice As Neoliberal Welfare Strategy, in: Social Justice, 28 (Spring 2001) 1, S. 35 - 53.

  3. Vgl. George W. Bush, Acceptance Speech, Republican National Convention, New York, 2. 9. 2004; vgl. http://www. washingtonpost.com/wp-dyn/politics/elections/2004/.

  4. Vgl. Veronique de Rugy, The Republican Spending Explosion, Cato Institute, Washington, D.C., 23. 1. 2004; Ramesh Ponnuru, Swallowed by Leviathan, in: National Review, (23. 9. 2003), online edition.

  5. George W. Bush, Acceptance Speech, Republican National Convention, Associated Press, Philadelphia, 4. 8. 2000; Robert Reischauer, The Dawning of A New Era, in: ders./Henry J. Aaron (Hrsg.), Setting National Priorities. The 2000 Election and Beyond, Brookings Institute, Washington, D.C. 1999, S. 1 - 34.

  6. Vgl. Söhnke Schreyer, Konservative Wende oder Reform? Die Sozial- und Gesundheitspolitik der Clinton-Administration, in: Hans-Jürgen Puhle/Söhnke Schreyer/Jürgen Wilzewski (Hrsg.), Supermacht im Wandel. Die USA von Clinton zu Bush, Frankfurt/M. (i.E.), S. 129 - 159.

  7. Vgl. Marvin Olasky, Compassionate Conservatism. What It Is, What It Does, and How It Can Transform America, New York 2000; Joseph J. Jacobs, The Compassionate Conservative. Assuming Responsibility and Respecting Human Dignity, Oakland 2000.

  8. Vgl. Jim A. Kuypers/Megan Hitchner/James Irwin/Alexander Wilson, Compassionate Conservatism: The Rhetorical Construction of Conservative Rhetoric, in: American Communication Journal, 6 (Summer 2003) 4, online edition.

  9. Vgl. John K. White/John J. Zogby, The Likeable Partisan. George W. Bush and the Transformation of the American Presidency, in: Steven E. Schier (Hrsg.), High Risk and Big Ambition. The Presidency of George W. Bush, Pittsburgh 2004, S. 79 - 96.

  10. Vgl. Gary Mucciaroni/Paul Quirk, Deliberations of a "Compassionate Conservative": George W. Bush's Domestic Presidency, in: Colin Campbell/Bert A. Rockman (Hrsg.), The George W. Bush Presidency. Appraisals and Prospects, Washington, D.C. 2004, S. 158 - 190.

  11. Vgl. Amy E. Black/Douglas L. Koopman/David K. Ryden, Of Little Faith. The Politics of George W. Bush's Faith-Based Initiatives, Washington, D.C. 2004.

  12. Vgl. James P. Pfiffner, Introduction: Assessing the Bush Presidency, in: Gary L. Gregg II/Mark J. Rozell (Hrsg.), Considering the Bush Presidency, New York 2004, S. 1 - 20.

  13. Vgl. Daniel P. Moynihan/Richard Parsons, Strengthening Social Security and Creating Personal Wealth for All Americans, Report of the President's Commission, Washington, D.C., 21. 12. 2001.

  14. Vgl. Vee Burke, Welfare Reform: An Issue Overview, Congressional Research Service IB 93034, Washington, D.C., 14. 10. 2003.

  15. Vgl. Michael Nelson, George W. Bush and Congress, in: G. L. Gregg II/M. J. Rozell (Anm. 12), S. 155f.

  16. Vgl. Charles O. Jones, Capitalizing on Position in a Perfect Tie, in: Fred I. Greenstein (Hrsg.), The George W. Bush Presidency. An Early Assessment, Baltimore 2003, S. 173 - 196.

  17. Vgl. Jennifer O'Sullivan u.a., Overview of the Medicare Prescription Drug and Reform Legislation, Congressional Research Service RL 31966, Washington D.C., 7. 8. 2003.

  18. Vgl. Carmen DeNavas-Walt/Bernadette D. Proctor/Robert J. Mills, Income, Poverty, and Health Insurance Coverage in the United States: 2003, US Census Bureau, Washington, D.C., August 2004.

  19. Vgl. Office of Management and Budget, Budget of the United States Government. Fiscal Year 2005, Historical Tables, Washington, D.C. 2004, S. 51f.

  20. Vgl. Allen Schick, Bush's Budget Problem, in: F. I. Greenstein (Anm. 16), S. 78 - 99; Mike Allen, $ 3 Trillion Price Tag Left Out As Bush Details His Agenda, in: Washington Post vom 14. 9. 2004, A1.

Dr. phil., geb. 1961; 1990-2000 Mitarbeiter am Zentrum für Nordamerika-Forschung (ZENAF) der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt; gegenwärtig Forschungsprojekt zur US-Sozial- und Gesundheitspolitik.
Anschrift: Pfannmüllerweg 24, 64289 Darmstadt.
E-Mail: E-Mail Link: schreyer@em.uni-frankfurt.de

Veröffentlichungen u. a.: Neue Politiker und Parteiströmungen im US-Kongress. Zum Wandel der Struktur politischer Entscheidungsprozesse 1959-1994, Frankfurt/M. 1997; (Hrsg. zus. mit Christian Lammert und Marcus Gräser) Staat, Nation, Demokratie. Traditionen und Perspektiven moderner Gesellschaften, Göttingen 2001; (Hrsg. zus. mit Hans-Jürgen Puhle und Jürgen Wilzewski) Supermacht im Wandel. Die USA von Clinton zu Bush, Frankfurt/M. 2004.